Benson, Timothy O. (Hrsg.): Between worlds. A sourcebook of central european avant-gardes, 1910-1930. Cambridge 2002 : The MIT Press, ISBN 0-262-02530-2 736 S. $ 45.00

Benson, Timothy O. (Hrsg.): Central European Avant-gardes. Exchange and transformation, 1910-1930. Cambridge 2002 : The MIT Press, ISBN 0-262-02522-1 448 S. $ 59.95

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marina Dmitrieva-Einhorn, Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas, Geisteswissenschaftliches Zentrum Leipzig

Die zwei umfangreichen Bände sind entstanden in Zusammenhang mit einer Ausstellung, die im Frühjahr 2002 im Los Angeles County Museum of Art und danach, Ende 2002 - Anfang 2003, in einer reduzierten Version unter dem Titel „Avantgarden! Kunst in Mitteleuropa 1910-1930“, im Berliner Gropius-Bau gezeigt wurde. Beide Bücher sind keine Ausstellungskataloge: Das Erste ist ein Essayband, das Zweite eine Edition von Texten der zentraleuropäischen Avantgarde.

Wie der Herausgeber und Kurator der Ausstellungen, Timothy O. Benson, in seiner Einführung zum Essayband schreibt, war das Projekt aus dem Bedürfnis entstanden, unter den neuen politischen Bedingungen der Zeit nach 1989 „das andere Europa“ zu untersuchen. Es geht dabei um die Kunst der Avantgarde, wie sie sich zwischen 1910 und 1930 auf dem Territorium „between the worlds“, d.h. zwischen Westeuropa mit Paris als Epizentrum künstlerischer Innovationen und Russland mit Moskau als Brutstätte neuer sozialer Utopien entwickelte. Die Kulturlandschaft zwischen einerseits den gut erforschten westeuropäischen Arealen (es bleibt unklar, was genau man darunter verstehen soll, weil Deutschland nach Auffassung der Autoren wiederum „in between“ liegt) und der russischen Avantgarde war, zumindest aus transatlantischer Perspektive, „im toten Winkel“ der Forschung geblieben (Quellenband, S. 17). Diese Sicht scheint allerdings eine ziemliche Pauschalisierung zu sein, wenn man etwa an das Buch „Modern Art in Eastern Europe“ von Steven A. Mansbach denkt oder an die Ausstellungsprojekte der 1990er Jahre, von „Europa, Europa“ in Bonn bis „Der neue Staat. Polnische Kunst 1918-1939“ in Wien. 1

Das erste von den Herausgeber zu klärende Problem war die Frage nach dem zu erforschenden Raum. Sie fragten mit Timothy Garton Ash „Does Central Europe exist?“ und mussten feststellen, dass „Zentraleuropa als kulturelle Einheit problematisch bleibt“ (Quellenband, S. 18). Für Éva Forgács ist Zentraleuropa eher „ein imaginäres Reich als eine geographische Einheit“ (Quellenband, S. 47), die in Gedanken mehr oder weniger mit dem Gebiet der Österreichisch-Ungarischen Monarchie identifiziert wird. Auf der Suche nach Zentraleuropa verweist Timothy O. Benson auf verschiedene Konzepte - von Friedrich Naumanns „Mitteleuropa“-Konstrukt bis Jacques Rupniks „Other Europe“. Die Bezeichnung „Zwischeneuropa“ scheint jedoch am Besten zum Konzept der Ausstellung und der Publikationen zu passen. Mit diesem Terminus werden jene Territorien bezeichnet, auf denen in der Zeit zwischen 1820 und 1920 nicht weniger als 13 Staaten entstanden sind oder sich neu definiert haben (Quellenband, S. 19).

Etwas naiv musste Benson konstatieren, dass dieses „andere Europa“, das so lange hinter dem eisernen Vorhang schlummerte und für „obskur, sogar exotisch“ (Essayband, S. 13) gehalten wurde, bereits kurz vor und etwa zwei Jahrzehnte nach dem Ersten Weltkrieg eine unglaubliche Dichte an kulturellen Zentren und faszinierenden künstlerischen Persönlichkeiten besaß. Wo gab es in diesem Geflecht ein kreatives Zentrum, eine Seele?

Das aus der Not - der Unmöglichkeit, einen präzisen Rahmen abzustecken - geborene Konzept der Herausgeber besteht gerade im Verzicht auf die Suche nach einem Epizentrum oder einer „artificial consintency“ (Quellenband, S. 22) zugunsten der zum Prinzip erhobenen Diversität. Es gab aus ihrer Sicht kein alleiniges Zentrum sowie keine einheitliche Avantgarde, sondern mehrere zentrale Orte und mehrere Avantgarden, die in den kosmopolitischen Städten wie Budapest und Bukarest, Krakau, Lódz, Prag, Warschau, oder Zagreb ein verzweigtes Netzwerk bildeten und miteinander eng verbunden waren. Sie stellten gleichzeitig Verbindungen zu Amsterdam, Berlin, Köln, Hannover, Moskau oder Paris her. Deutschland mit seinen in den Blickwinkel der Autoren gekommenen kreativen Zentren wie Dessau, Weimar oder Berlin gehört im Wesentlichen zu diesem mittel – oder zwischeneuropäischen Geflecht. Nach Derek Sayer 2, hatte sich diese Region (festgemacht an den Böhmischen Ländern) schon immer durch eine „post-moderne“ Polyphonie ausgezeichnet. Die zentraleuropäische Avantgarde besonders der Nachkriegszeit wird in den hier besprochenen Bänden somit als ein dichtes Flechtwerk von „Austauschsstätten“ angesehen, in denen „künstlerische Idiome, Stile, Ideologien und Sprachen debattiert, vermischt und verändert wurden“ (Essayband, S. 16).

Dieser an sich sehr produktive Ansatz gibt einen lockeren Rahmen für unterschiedliche Zugänge, die in einem Raster aus Beiträgen über verschiedene regionale Zentren und allgemeine Themen geordnet sind. Viele Beiträge im Essayband wurden von Spezialisten aus diesen Zentren erarbeitet. So stammen die Texte über Poznan von Jerzy Malinowski, über Bukarest von Ioana Vlasiu, über Krakau von Tomasz Gryglewicz. Die ungarische Kunsthistorikerin Krisztina Passuth schrieb über Berlin und steuerte einen grundlegenden Artikel über „Ausstellungen als Kunstwerk: Avantgarde-Ausstellungen in Ostmitteleuropa“ bei. Auf die ungarische Problematik konzentrierte sich die in den USA lehrende Éva Forgács. Dieses strikte Rasterprinzip wird auch durch die streng geometrische Buchgestaltung zur Geltung gebracht. Die exzellente Ausstattung der Bände, die sich an konstruktivistischen Prinzipien orientiert und mit typografischen Raffinessen der Avantgardebuchkunst gekonnt umgeht (das Design stammt von Catherine Go und Scott Taylor), verdient es, ganz besonders hervorgehoben zu werden. Gleichzeitig lenkt das rationale Gestaltungsprinzip geschickt von der dennoch etwas willkürlichen Zusammensetzung des Essaybandes mit seiner proklamierten Diversität ab.

Ausgehend von dem von El Lissitzky und Ilja Ehrenburg formulierten Verständnis der Avantgarde als einer internationalen communitas, die gleichzeitig regionale und lokale Eigenschaften behält, versucht der Essayband ein Gleichgewicht zwischen nationalen Spezifika und transnationalen Aspirationen zu erhalten. Die Avantgarde im Spannungsfeld zwischen Nationalismus und Modernismus ist dann auch das eigentliche Thema des Essaybandes. Nach Steven A. Mansbach („Methodologie und Bedeutung in der modernen Kunst Osteuropas“, S. 289-303) besteht die Besonderheit der zentraleuropäischen Avantgarde in dem oft an sich widersprüchlichen Bestreben, das Regionale und Lokale mit dem universalistischen Idiom zu vereinbaren (S. 299). Piotr Piotrowski („Modernität und Nationalismus: Avantgarde und polnische Unabhängigkeit“, S. 313-326) geht so weit, dass er von „Nationalisierung des Modernismus“ in Bezug auf die polnische Kunst der Zwischenkriegszeit spricht (S. 324). Sogar der internationale Konstruktivismus bei aller Uniformität seiner Sprache sei nur in den Differenzen der lokalen Varianten zu verstehen. Zu dieser Ansicht gelangte Forgács in Bezug auf den Konstruktivismus in Ungarn.

Anthony D. Smith („Nationalismus und Modernität“, Essayband, S. 68-80) lieferte einen kritischen Aperçu der Nationalismustheorien, in dem die Konzepte von Ernest Gellner bis Rogers Brubaker, Eric Hobsbawm und Benedict Anderson kritisch bewertet werden. Entgegen der Idee der Nationen als „imagined communities“ (Anderson) hebt er die Bedeutung des „vornationalen ethno-symbolischen Erbes“ als eines der Identifikationsstiftenden Impulse für die nationale Wiedergeburt hervor (S. 78-80). Dies trifft vielleicht nicht vollends auf die Avantgarde zu. Bestand doch das Bestreben vieler Künstler gerade in der untersuchten Zeit eher darin, zu den großen nationalen - retrospektiv gerichteten - Narrativen einen Gegenentwurf zu entwickeln.

Das offene pluralistische Konzept der Bände lässt jedoch einige Fragen offen. Die wichtigste ist die nach dem Beitrag jüdischer Künstler für die zentraleuropäischen Avantgarden. In dem vorgeschlagenen „geographischen“ Modell der „exchange cities“ mit deren Verflechtung von Regionalismus und Universalismus fand sich kein Platz für Juden. Dabei gehörten die jüdischen Konzepte der Avantgarde, die gleichzeitig national und transnational sein wollten und zeitgleich in mehreren Zentren zum Ausdruck kamen - so in Kiew und Warschau, in Berlin und Lódz -, zu den Katalysatoren der Bewegung. 3 Dieser Mangel im Konzept trifft auch auf den Quellenband zu. Der polnisch-jüdische Künstler Henryk Berlewi ist dort zwar mit seinen universalistischen Theorien der Mechanofaktura sowie und dem Artikel „Kampf um die neue Form“ vertreten, die Schärfe seiner Argumentation jedoch ist ohne die jüdischen Debatten um die nationale Kunst, an denen er intensiv beteiligt war, nicht zu verstehen.

Fast völlig untergegangen in dem deutlich auf den internationalen Konstruktivismus ausgerichteten Blick der Herausgeber und Autoren ist der internationale Futurismus, der Anfang der 1920er-Jahre in Ostmitteleuropa eine wichtige Rolle spielte. Zählte doch die destruktive Gestik sowie ein erweiterter Kunstbegriff zu den wichtigen Orientierungspunkten im Selbstverständnis der neuen Kunst in den neuen Staaten nach 1918. Zudem wird Russland trotz der Tatsache, dass es vorrangig um den Raum „dazwischen“ geht, zu wenig in den Blick genommen. Die Verbindungen zu Sowjetrussland waren dank der Sympathien der linken Kunst sehr stark. Man denke an Erno Kállai und Lajos Kassák, an Wladyslaw Strzeminski, Mieczyslaw Szczuka und viele andere Künstler und Theoretiker, die wichtige Impulse aus Russland erhalten hatten und enge Kontakte zu ihren dortigen Kollegen unterhielten. Auch die Rolle von El Lissitzky als Vermittlungsfigur zwischen Ost und West hätte es verdient, hervorgehoben zu werden.

Der an sich verdienstvolle Quellenband ist ein Sammelsurium von Texten, gegliedert durch - vielleicht zu abstrakt erscheinende - Überschriften wie „Stil als Verschmelzung von Vergangenheit und Zukunft“; „Kunst und soziale Veränderungen“; „Internationalismus“ oder „In der Dämmerung der Ideologien“, unter denen man die kleinen Textteile zu verschiedenen Ländern oder Städten findet. Instruktiv sind die knappen Einführungen. Leider fehlen jedoch ein Register sowie jeglicher Kommentar. Obgleich der Quellenband damit den Eindruck einer in Eile zusammengetragenen und mit Mühe geordneten Textsammlung macht, stellt er zusammen mit dem Essayband einen wichtigen, in manchen Teilen sogar innovativen Beitrag zur Erforschung der Kunst der Avantgarde dar.

Anmerkungen:
1 Mansbach, Steven A., Modern Art in Eastern Europe. From the Baltic to the Balkan, Cambridge 1999; Europa, Europa. Das Jahrhundert der Avantgarde in Mittel- und Osteuropa. Bonn 1994; Zwischen Experiment und Repräsentation. Der neue Staat. Polnische Kunst 1918-1939, Wien 2003.
2 Sayer, Derek, The Coasts of Bohemia. A Czech History, Princeton 1998, S. 17.
3 Dazu z.B.: Bowlt, John, From the Pale of Settlement to the Reconstruction of the World, In: Alper-Gabriel, Ruth (Hg.), Tradition and Revolution. The Jewish Renaissance in Russian Avant-garde Art, Jerusalem 1987, S. 43-60.

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