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Titel
Odzyskiwanie miasta. Władza i tożsamość społeczna


Autor(en)
Niedzwiedzki, Dariusz
Erschienen
Anzahl Seiten
287 S.
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Oliver Loew, Deutsches Polen-Institut Darmstadt

1945, Bevölkerungsaustausch, Zeit der großen Wanderungen. Die von Stalin durchgesetzte Westverschiebung Polens verändert die ethnische Landkarte in den damaligen, dann ehemaligen deutschen Ostgebieten fast vollständig. Bei allen jüngsten deutschen Diskussionen um die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten, bei aller politischer Instrumentalisierung der Vertriebenen, ist die Geschichte der Vertreibungsgebiete seit der Zeit der Vertreibungen weitgehend unbeachtet geblieben. Dabei haben zwischen Memel und Stettin, Görlitz und Kattowitz Millionen von Menschen einen neuen Wohnort gefunden, in einer fremden Umgebung, die für sie über Jahrzehnte hinweg wenig von ihrer Fremdheit verlieren sollte.

Die soziologische Untersuchung der polnischen Westgebiete ist nun nichts Neues, im Gegenteil – bereits kurz nach dem Krieg erkannte die polnische Wissenschaft die in beispiellosem Maßstab erfolgende Neubildung lokaler und regionaler Gesellschaften als faszinierendes Untersuchungsobjekt. 1 Nach einem Rückgang des wissenschaftlichen Interesses in den siebziger und achtziger Jahren finden die gesellschaftlichen Amalgamierungsprozesse in den Westgebieten seit dem politischen Systemwandel wieder größere Aufmerksamkeit, zumindest in Polen.

Dariusz Niedźwiedzki zeigt in seiner Krakauer Dissertation eindringlich, welch hochinteressantes Untersuchungsgebiet die polnischen Westgebiete sind. Ausgehend von dem Konzept der Patronage, das der Autor auf der Grundlage der englischsprachigen Fachliteratur entwickelt (v.a. Ernest Gellner), wendet er sich einer Fallstudie zu, dem winzigen niederschlesischen Städtchen Liebenthal/Lubomierz. Seine Quellen sind neben archivalischem Material auch Interviews, die er Ende der achtziger und Mitte der neunziger Jahre mit zahlreichen Einwohnern der Stadt und der umliegenden Dörfern führte. 2

Niedźwiedzkis Untersuchung bestätigt das aus anderen „Neusiedelgebieten“ Polens bekannte Muster: Die unmittelbare Nachkriegszeit war eine Zeit des Durcheinanders und der administrativen Impotenz; Plünderungen, wilde und organisierte Vertreibungen sowie mißlungene Ansiedlungsversuche und der Übergang zum totalitären System kommunistischen Typs prägten die ersten Monate und Jahre in weiten Landstrichen der Westgebiete. Die Neusiedler trafen in mehreren Schüben ein und stammten aus den unterschiedlichsten Regionen des historischen Polens. Das vom Krieg nicht zerstörte, recht wohlhabende Lubomierz war allen fremd – und es sollte fremd bleiben. Die Gründe waren vielfältig. Zum einen fanden die polnischen Ankömmlinge, die ihre Heimat oft nicht freiwillig verlassen hatten, eine ihnen unbekannte materielle und agrarische Kultur vor. Des weiteren liquidierte die bald einsetzende Totalisierung des öffentlichen Lebens bescheidene Versuche der Neusiedler, sich am neuen Wohnort in konstruktiver Auseinandersetzung mit dem neuen Lebensumfeld zu vergemeinschaften und es sich damit mental anzueignen. So berücksichtigten die Behörden z.B. die im polnischen lokalen Sprachgebrauch bald schon verbreiteten polnischen Ortsnamen nicht, sondern dekretierten andere (146). Und schließlich verstellten die Kriegserfahrungen auf Jahrzehnte hin die Möglichkeit, sich objektiv mit den deutschen Bestimmungsfaktoren lokaler Existenz zu beschäftigen – alles Deutsche galt nicht nur als fremd, sondern auch als feindlich, wurde vernachlässigt, oft auch willentlich zerstört. Trotz dieser partiellen Aneignung (Entdeutschung) des öffentlichen Raums war die lokale Gesellschaft bis in die jüngste Vergangenheit von Fremdheitsgefühlen geprägt (180).

Verstärkend kam die negative Erfahrung von Staatsmacht und Verwaltung hinzu. Der Widerspruch zwischen – ideologisch angespornten – großen Veränderungswünschen der Stadtgewaltigen, finanziellen Engpässen und geringen administrativen Kompetenzen der Beamtenschaft ließ die lokale Gesellschaft bald in einen Zustand der Frustration gleiten. Viele Angehörige der zweiten Generation zogen „ins richtige Polen“ fort, viele der bleibenden waren bestenfalls ökonomisch passiv, schlimmstenfalls flüchteten sie in den Alkohol. Zu einer Vergemeinschaftung kam es nur ansatzweise; wichtigste soziale Gliederung blieb bis in die achtziger Jahre der Herkunftsverband (210). Die Idealisierung der verlorenen Heimat, die sozioökonomische Passivität und das Gefühl von Ausweglosigkeit angesichts der faktisch inkompetenten und impotenten lokalen Macht verhinderten eine erfolgreiche Identifikation mit dem neuen Wohnort. Anders als in Oberschlesien, Danzig oder Masuren, also Regionen mit polnischen Traditionen, wurden den Siedlern wenig lokale bzw. regionale Identitätskonstruktionen angeboten.

Vor dem Hintergrund einer solcherart zerbrochenen Gesellschaft bildete sich ein Patronage-System heraus, das Niedźwiedzki im Grunde in einer Person verkörpert sieht – dem Direktor der örtlichen Kolchose, der in den achtziger Jahren dann in Personalunion auch Parteisekretär und Bürgermeister war. Durch seinen Zugriff auf die Verteilung knapper Güter konnte er einen Großteil der lokalen Gemeinschaft zu „Klienten“ machen und daraus selbst materiellen Nutzen ziehen.

Erst die politische Wende von 1989 veränderte die beschriebenen Grundkonstanten lokaler Existenz. In einer sich langsam pluralisierenden Öffentlichkeit erwarben die Vertreter der dritten Generation Einfluß, denen nunmehr daran lag, sich endlich im neuen Heim einzurichten, die wirtschaftliche Situation vor Ort konkret zu verbessern, und nach einer lokalen Identität jenseits der jahrzehntelangen Geschichts- und Geschichtenlosigkeit zu suchen. Diese fand sich weniger im Rückgriff auf die deutsche Vergangenheit, wie dies in vielen Gegenden der Westgebiete der Fall war, sondern durch die Erinnerung an Liebenthal/Lubomierz als Zentrum des polnischen Films. In den siebziger Jahren waren hier zahlreiche Komödien gedreht worden, unter anderem der bekannte Film „Sami swoi“ („Unter uns“), der einiges von den sozialen Spannungen in den Westgebieten schildert, d.h. von den Anpassungsschwierigkeiten der Menschen aus Ostpolen im neuen polnischen Westen. Ein seit 1997 jährlich ausgerichtetes Festival der polnischen Filmkomödie ist nicht nur zum touristischen Anziehungspunkt geworden, sondern auch zum Zentrum der lokalen Vergesellschaftungsprozesse und der Aktivierung der lokalen Gemeinschaft.

So weit, so gut. Schade, daß der Autor seine Arbeit über große Strecken mehr oder weniger als (nota bene sehr gut zu lesenden) Essay anlegt. Seine Quellengrundlage ist mager (sie wird übrigens an keiner Stelle genauer beschrieben). Deutsche Quellen bzw. Literatur, die vor allem für die Schilderung der unmittelbaren Nachkriegszeit interessant gewesen wären, nimmt er überhaupt nicht wahr. Niedźwiedzki hat anscheinend nur unstrukturierte Interviews geführt, was die Aussagekraft seiner Thesen, selbst wenn die Narration als solche plausibel ist, stark einschränkt (z.B. die starke Konzentration auf den Patron oder die Begründung der positiven Entwicklung der letzten Jahre mit der Person des neuen Bürgermeisters). Die Tatsache, daß die sozialen Prozesse bis zum Ende der achtziger Jahre weitgehend retrospektiv aus diesen Interviews rekonstruiert werden, ist der wissenschaftlichen Fundiertheit der Arbeit ebenfalls nicht zuträglich. Wesentliche Bereiche des lokalen Lebens und der Beziehungen zwischen Staat und Bürgern werden ausgeklammert (z.B. die Schulen); eine auch nur ansatzweise analytische Darstellung der lokalen Gesellschaft fehlt. Schließlich vermißt man einen selbst rudimentären Vergleich mit anderen Orten der Westgebiete.

Als wissenschaftlichem Werk der Soziologie darf man dieser Arbeit somit manchen berechtigten Zweifel entgegenbringen und sie mit dem Vorwurf der (zumindest partiellen) Oberflächlichkeit konfrontieren. Als Fallstudie aus der westpolnischen Provinz ist sie interessant. Als Versuch, soziale Entwicklungsprozesse in den Westgebieten im Verlauf von mehr als einem halben Jahrhundert narrativ zu erklären, ist sie überaus aufschlußreich. Vielleicht findet sich nun auch in Deutschland ein mutiger Soziologe, vielleicht auch ein Historiker, der sich jenseits von Nationalismus- und Minderheitenforschung umfassend mit der Geschichte der polnischen Westgebiete seit 1945 beschäftigt – mit jenem im mehrfachen Wortsinn „verlorenen“ Terrain zwischen Deutschen und Polen. 3

Anmerkungen
1 Besonders das Posener Westinstitut interessierte sich für derartige Fragen. Wichtige Veröffentlichungen liegen bereits einige Zeit zurück, u.a.: Ziemie zachodnie w polskiej literaturze socjologicznej. Wybór tekstów [Die Westgebiete in der polnischen soziologischen Literatur. Eine Textsammlung], hg. v. Andrzej Kwilecki, Poznań 1970; Przemiany społeczne na ziemiach zachodnich [Soziale Veränderungen in den Westgebieten], hg. v. W. Markiewicz u. P. Rybicki, Poznań 1967; Tworzenie sie nowego społeczenstwa na ziemiach zachodnich [Die Bildung einer neuen Gesellschaft in den Westgebieten], Poznań 1961.
2 Die Arbeit entstand in Zusammenarbeit mit Zbigniew Mach, der kurz zuvor selbst ein Buch über Lubomierz veröffentlichte: Zbigniew Mach: Niechciane miasta. Migracja i tożsamość społeczna [Ungewollte Städte. Migration und soziale Identität], Kraków 1998.
3 Vgl. aber die unlängst erschienene, hochinteressante Fallstudie von Gregor Thum: Die fremde Stadt. Breslau 1945, Berlin 2003.

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