A. Klein u.a. (Hgg.): NS-Unrecht vor Kölner Gerichten nach 1945

Cover
Titel
NS-Unrecht vor Kölner Gerichten nach 1945.


Herausgeber
Klein, Anne; Wilhelm, Jürgen
Erschienen
Anzahl Seiten
285 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Krause, Wissen für Entscheidungsprozesse, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften

Die Fülle der Literatur über Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden und das so genannte „Dritte Reich“ ist in den letzten Jahren stetig angewachsen und auch für den Fachhistoriker nahezu unüberschaubar geworden. Selbst Rand- oder Spezialbereiche werden inzwischen erforscht – und das ist ausdrücklich zu begrüßen. Neben Untersuchungen zum Schicksal einzelner Opfer oder Opfergruppen liegt auch im Bereich der Täterforschung mittlerweile eine große Zahl an Publikationen vor, die frühere Sichtweisen verändert haben.

Ähnliches gilt für den Bereich der so genannten „Aufarbeitung“ der nationalsozialistischen Vergangenheit: Auch hier sind in den letzten Jahren zahlreiche Studien in Form von Aufsätzen, Sammelbänden oder Monografien erschienen. Für den Bereich der (straf-)rechtlichen Aufarbeitung der NS-Verbrechen seien hier exemplarisch nur die von Gerd R. Ueberschär sowie Gerhard Werle und Thomas Wandres publizierten Bücher über die alliierten NS-Prozesse bzw. den Frankfurter Auschwitz-Prozess genannt.1

Angesichts der Fülle des bereits verfügbaren Materials mag verschiedentlich der Eindruck entstehen, es sei eigentlich alles oder zumindest das Meiste bereits gesagt und geschrieben. Dieser Eindruck täuscht. Es finden sich auch heute noch „blinde Flecken“ in der Erforschung der nationalsozialistischen Vergangenheit, und die Geschichte der „Vergangenheitsbewältigung“ ist noch lange nicht vollständig geschrieben.

Hier nun setzt das von Anne Klein und Jürgen Wilhelm herausgegebene Buch „NS-Unrecht vor Kölner Gerichten nach 1945“ an. Der aus dreizehn Fachbeiträgen sowie einer Einführung, einem Grußwort des Justizministers von Nordrhein-Westfalen, Wolfgang Gerhards, sowie einem abschließenden Resümee von Horst Matzerath, bis Oktober 2002 Direktor des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln, bestehende Sammelband dokumentiert die Beiträge der im November 2002 in Köln durchgeführten Tagung „Die Kölner Justiz und der Umgang mit dem nationalsozialistischen Unrecht an den Juden“. Die Tagung widmete sich der komplexen Thematik der juristischen Aufarbeitung der Vergangenheit unter dem titelgebenden regionalen Fokus. Die zur Betrachtung gewählte Zeitspanne reicht dabei von der Besatzungszeit bis zum Ende der 1970er-Jahre, so dass die Würdigung der einzelnen Phasen der juristischen Aufarbeitung des NS-Unrechts gewährleistet ist.

Wie nicht selten bei derartigen Tagungsbänden, sind auch die im vorliegenden Band versammelten Beiträge – von denen hier nur eine kleine Auswahl erwähnt werden kann – in ihrem wissenschaftlichen Anspruch höchst unterschiedlich, wobei der vereinzelte Mangel an Wissenschaftlichkeit nicht zwangsläufig mit einem Mangel an Qualität verbunden sein muss und durchaus der thematischen Ausrichtung des Bandes entspricht. Die Beiträge lassen sich im Großen und Ganzen in zwei Gruppen zusammenfassen: Zum einen finden sich historisch-wissenschaftlich orientierte Aufsätze, die sich sehr kenntnisreich den politischen und juristischen Problemen bei der Strafverfolgung von NS-Tätern, der Durchsetzung von Entschädigungs- und Restitutionsansprüchen der verfolgten und entrechteten Juden sowie dem Problem der Weiterbeschäftigung von NS-Juristen in der bundesdeutschen Justiz widmen. Der Jurist und Staatsanwalt Maik Wogersien beschreibt und analysiert beispielsweise die juristischen Grundlagen und die Praxis der Rückerstattung von eingezogenem jüdischem Eigentum an die überlebenden Juden oder deren Erben (S. 100-128). Anhand von exemplarischen Fällen aus den 1950er-Jahren, die vor den Wiedergutmachungskammern des Oberlandesgerichtsbezirks Hamm verhandelt wurden, gelingt es Wogersien auf sehr anschauliche und auch für den Nicht-Juristen nachvollziehbare Weise, die zum Teil grotesk anmutenden Probleme aufzuzeigen, mit denen sich die um ihr Eigentum kämpfenden Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung auseinanderzusetzen hatten. Am Ende zieht er dennoch zumindest für die Arbeit der den Justizministerien unterstehenden Wiedergutmachungskammern eine eher positive Bilanz: Ihnen sei es weitestgehend gelungen, die von den Alliierten vorgegebenen gesetzlichen Grundlagen umzusetzen, was sich auch an der hohen Anzahl anerkannter Rückerstattungsansprüche zeige. Anders beurteilt Wogersien die Praxis der Finanzbehörden des Landes, die sich durch eine „rückerstattungsfeindliche Haltung“ ausgezeichnet und die Rückgabe von über das Instrument der „Reichsfluchtsteuer“ und der „Judenvermögensabgabe“ entzogenen Vermögenswerte verweigert hätten (S. 127f.).

Ein weiterer hervorzuhebender Beitrag stammt von Raphael Gross, seit Oktober 2001 Direktor des Leo Baeck Instituts in London. Gross, der bereits mit seiner Arbeit über „Carl Schmitt und die Juden“2 auf die wirkmächtigen antidemokratischen und antisemitischen Traditionslinien in Teilen der deutschen Philosophie und Rechtswissenschaft hingewiesen hat, zeigt auch in dem hier vorliegenden Beitrag über den Rechtstheoretiker und Zivilrechtler Fritz von Hippel die verschiedentlich vorfindbaren, kaum gebrochenen Kontinuitäten in der deutschen Justiz über 1945 hinaus auf (S. 23-34). Ausgehend von einer kritischen Textanalyse des von v. Hippel 1946 publizierten kleinen Bändchens mit dem Titel „Die nationalsozialistische Herrschaftsordnung als Warnung und Lehre. Eine juristische Betrachtung“ versucht Gross nachzuweisen, wie das an einem „Führer“ orientierte, antidemokratische Denken bestimmter juristischer Kreise in die frühe Bundesrepublik hinüber gerettet wurde. Vor allem die von v. Hippel gegenüber dem juristischen Positivismus erhobene Kritik als angebliche Basis des auf amoralischen Verordnungen und Gesetzen beruhenden nationalsozialistischen Unrechtssystems und sein Bestreben, die Deutschen als eine von der Doppelmoral Hitlers irregeleitete verantwortungsfreie Masse darzustellen, sind nach Gross ein Beleg für die Absicht, sich von der Verantwortung reinwaschen zu wollen. „Entweder sind die Deutschen dem Führer gefolgt, weil sie durch den vorherrschenden Positivismus keine moralische Handhabe mehr besaßen, sich gegen ihn zu wehren. Oder aber sie folgten einer moralisch scheinenden Instanz, die sich nachträglich als eine betrügerische herausstellte.“ (S. 32) Aber es ist nicht in erster Linie die mit der These von der Doppelmoral des „Führers“ offenkundig verfolgte Entlastungstrategie v. Hippels, die Gross kritisiert. Seine Kritik zielt vor allem auf die Behauptung eines angeblich dominierenden Rechtspositivismus, worin er den Versuch des Juristen erkennt, sich als Opfer von Gesetzen darzustellen, ohne sich mit der Entstehungsgeschichte dieser Gesetze oder mit den zugrunde liegenden antisemitischen und antidemokratischen Überzeugungen auseinandersetzen zu müssen. Dies führe wiederum dazu, eben diese Überzeugungen in die neue Zeit hinüber retten zu können.

Neben den wissenschaftlich-historisch ausgerichteten Beiträgen finden sich in diesem Band die Berichte von Zeitzeugen, die in zum Teil sehr persönlichen Worten über ihre eigenen Erfahrungen mit der juristischen Aufarbeitung und Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts berichten. Besonders hervorzuheben sind hier die Beiträge von Heinz Faßbender und Beate Klarsfeld. Beide schildern sehr eindrücklich ihre Erfahrungen mit der deutschen Justiz – oder präziser der Kölner Justiz: Faßbender aus der Perspektive des Vorsitzenden Richters beim so genannten „Lischka-Prozess“ gegen die Hauptverantwortlichen für die Deportation der Juden aus Frankreich, Kurt Lischka, Herbert Hagen und Ernst Heinrichsohn (S. 177-182); Klarsfeld aus dem Blickwinkel der engagierten Bürgerin, die die Nachsichtigkeit der deutschen Nachkriegsgesellschaft gegenüber den Tätern nicht ruhen ließ und die sich unermüdlich für die Rechte der Opfer und die Verfolgung der Täter einsetzte. Nicht zuletzt ihr war es zu verdanken, dass die ehemaligen SS-Obersturmbannführer Lischka und Hagen, die beide nach dem Krieg unbehelligt in Deutschland gelebt hatten und von ihr nach kurzer Suche „enttarnt“ wurden, im Oktober 1979 endlich vor Gericht gestellt und verurteilt wurden (S. 167-176). Faßbender und Klarsfeld schildern jeweils aus ihrer persönlichen Sicht den langen Weg von der „Enttarnung“ der Hauptbeschuldigten bis zu ihrer Verurteilung – und den Anteil, den sie selbst daran hatten. Durch die Gegenüberstellung beider Perspektiven in einem Buch wird es möglich, in das Geschehen des Prozesses einzutauchen und die politisch hoch aufgeladene Situation, in der dieser Prozess stattfand, ein Stück weit nachzuvollziehen.

Gut ergänzt werden die beiden Erfahrungsberichte durch den sehr ergiebigen Beitrag von Bernhard Brunner über die komplexen politischen und rechtlichen Hintergründe der juristischen Aufarbeitung der in Frankreich verübten NS-Gewaltverbrechen durch die bundesdeutsche Justiz (S. 183-200). Brunner verweist auf die hartnäckigen Versuche von Beate Klarsfeld und Thomas Harlan, dem Sohn des Nazi-Regisseurs Veit Harlan, die Verantwortlichen für die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen in Frankreich vor Gericht zu bringen, sowie auf die dabei zu überwindenden juristischen und vor allem auch politischen Hürden. Dabei wird deutlich, dass die Hindernisse nicht allein in dem komplizierten juristischen Geflecht von Besatzungsrecht, Völkerrecht und deutsch-französischen Verträgen zu suchen sind, sondern auch und nicht zuletzt in einem weit verbreiteten Unwillen der deutschen Behörden, die strafrechtliche Verfolgung der Täter aktiv zu betreiben. Letztlich zieht Brunner eine ernüchternde Bilanz, wenn er schreibt, dass „die strafrechtliche Ahndung der in Frankreich verübten NS-Gewaltverbrechen […] schwerlich als gelungen angesehen werden“ kann. „Die meisten Täter blieben unbestraft, und das, obwohl der weitaus größte Teil bereits in den sechziger Jahren ermittelt worden und die Beweislage im Gegensatz zu anderen Verfahren außerordentlich günstig war.“ (S. 197)

Zusammenfassend lässt sich sagen: Wer hinter dem Titel des Buches auf den ersten Blick eine vielleicht allzu enge Fokussierung auf die Kölner Lokalgeschichte vermutet, sieht sich angenehm enttäuscht – nicht nur aufgrund der Tatsache, dass hier das vor dem Kölner Gericht durchgeführte und überaus prominente Strafverfahren gegen Kurt Lischka und seine Komplizen umfangreich gewürdigt wird, sondern auch durch den durchaus exemplarischen Charakter, den verschiedene in diesem Band versammelte „Fallstudien“ zu wichtigen Aspekten der juristischen Aufarbeitung des NS-Unrechts für sich beanspruchen können.

Anmerkungen:
1 Ueberschär, Gerd R. (Hg.), Der Nationalsozialismus vor Gericht. Die alliierten Prozesse gegen Kriegsverbrecher und Soldaten 1943–1952, Frankfurt am Main 1999; Werle, Gerhard; Wandres, Thomas, Auschwitz vor Gericht. Völkermord und bundesdeutsche Strafjustiz, München 1995.
2 Gross, Raphael, Carl Schmitt und die Juden. Eine deutsche Rechtslehre, Frankfurt am Main 2000.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension