Fritz Bauer Institut u.a. (Hgg.): Im Labyrinth der Schuld

Cover
Titel
Im Labyrinth der Schuld. Täter - Opfer - Ankläger


Herausgeber
Fritz Bauer Institut; Wojak, Irmtrud; Meinl, Susanne
Reihe
Jahrbuch 2003 zur Geschichte und Wirkung des Holocaust
Erschienen
Frankfurt am Main 2003: Campus Verlag
Anzahl Seiten
362 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Annette Weinke, American University - World Capitals Program/Berlin Semester, Berlin European Studies (BEST) Program

"Der Prozess gegen die Chargen von Auschwitz hat eine Bedeutung erhalten, die mit dem Rechtsgeschäft nichts mehr zu tun hat. Geschichtsforschung läuft mit, Enthüllung, moralische und politische Aufklärung einer Bevölkerung, die offenbar auf keinem anderen Weg zur Erinnerung des Geschehens zu bringen war."1

"Jedenfalls ist, was da in Frankfurt abgehandelt wird, unser aller Sache."2

Zwei zeitgenössische Kommentare zum ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Der erste Kritiker verwirft die Möglichkeit einer strafrechtlichen Reaktion auf den Holocaust als kontraproduktiv, der zweite verbindet mit ihr die Hoffnung, dass sie zu einer Bewusstseinserweiterung und langfristig sogar zu einer Bewusstseinsänderung führen möge. Zwar sind die Resultate der so genannten juristischen Vergangenheitsbewältigung auch sechzig Jahre nach deren Beginn weiterhin umstritten. Kaum jemand leugnet aber noch, dass die bundesdeutschen NS-Prozesse ungeachtet aller Defizite und Fehlentwicklungen eine Wirkung entfaltet haben, die weit über die Arena der Justiz hinausreicht.

Unter denjenigen Einrichtungen, die sich in den 1990er-Jahren intensiv sich um die Erforschung der NS-Prozesse gekümmert haben, ragt das Frankfurter Fritz Bauer Institut in besonderer Weise hervor, verknüpft sich doch mit dessen Namensgeber, dem früheren Hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der bis heute in der Justiz nur selten anzutreffende Wille, eine adäquate strafrechtliche Antwort auf die Massenverbrechen der Nationalsozialisten zu finden. Seit seiner Gründung im Jahre 1995 hat das Institut eine Reihe bemerkenswerter Publikationen zur Geschichte der NS-Strafverfolgung in der alten Bundesrepublik herausgebracht, die sich schwerpunktmäßig mit Bauers Wirken an der Schnittstelle von Politik, Justiz und Geschichte beschäftigen. Mit dem kürzlich erschienenen Jahrbuch 2003 wird zum einen diese Forschungstradition fortgesetzt und zum anderen ein Ausnahmejurist geehrt, welcher sich der verbreiteten Haltung aus "Abwehr, Verdrängung, Stigmatisierung und Diskriminierung" (S. 7) entgegenstellte und seinen Kampf gegen eine gesamtgesellschaftliche Schlussstrichmentalität mit wachsender seelischer Vereinsamung und körperlicher Zermürbung bezahlte.

Wer war dieser Fritz Bauer, und von welchen Ideen ließ er sich leiten, als er gegen Ende der 1950er-Jahre mit den Ermittlungen gegen teils untergetauchte, teils in bürgerlicher Behaglichkeit lebende NS-Täter begann? Diesen Fragen geht Irmtrud Wojak im Rahmen einer knappen biografischen Skizze nach. In Entgegnung auf eine vor kurzem in einer ZDF-Dokumentation geäußerte These, nach der Bauers frühzeitiger Tod im Juni 1968 entweder ein Auftragsmord von ODESSA (einer von Südamerika aus operierenden Geheimorganisation ehemaliger SS-Leute) oder aber Selbstmord gewesen sein soll, stellt Wojak nüchtern fest, dass wir bis heute "nicht genau wissen, woran und an welchem Tag Fritz Bauer gestorben" sei (S. 19). Während sie die Auftragsmordthese ohne große Diskussion ad acta legt, will sie die Selbstmordversion nicht von vornherein ausschließen. Bekannt ist, dass Bauer in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre unter wachsender sozialer Isolation und beruflichen Rückschlägen litt. Verstärkt wurde dies durch eine resignative Grundstimmung in Bezug auf die Erfolgsaussichten der juristischen Aufarbeitungsbemühungen. Hinzu kam, dass sich der politische Druck auf den Generalstaatsanwalt wenige Tage vor dessen Tod nochmals enorm erhöhte: So hatte das Frankfurter Landgericht aufgrund eines Antrags der Verteidigung im so genannten "Diplomaten-Prozess" angekündigt, Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger am 1. Juli 1968 als Zeuge zu den Kenntnissen des Auswärtigen Amtes über die Judendeportationen vom Balkan vernehmen zu wollen; damit drohte sich die Abwehrfront der westdeutschen Eliten gegen eine Fortsetzung der NS-Ermittlungen weiter zu verhärten.3 Nimmt man all dies zusammen, könnte es möglicherweise eine Verzweiflungstat ausgelöst haben. Wojak bezieht ebenfalls zu dem oft geäußerten, vielfach polemisch formulierten Vorwurf Stellung, Bauers Engagement im Bereich der NS-Strafverfolgung sei einem unstillbaren Rachebedürfnis entsprungen, das seine gleichzeitig unternommenen Reformbemühungen zur Überwindung eines traditionellen Schuld- und Vergeltungsstrafrechts konterkariert habe. Sie weist dies mit dem Argument zurück, die von Bauer geforderte öffentliche Durchsetzung des Rechts gegenüber Trägern staatlicher Gewalt habe die generelle Frage von deren Schuldfähigkeit nicht berührt (S. 21). Das greift allerdings etwas zu kurz, denn wie Matthias Meusch in seiner Studie zu Bauers Kriminologiekonzepten überzeugend dargelegt hat, bleibt ein unauflösbarer Restwiderspruch zwischen dessen Positionen zu normaler Alltagskriminalität und staatlich angeordneter "Makrokriminalität" (Herbert Jäger) bestehen.4 Dies war in gewisser Weise auch unvermeidlich in einer Zeit, in der sich die liberalen Reformtheorien verstärkt mit der Einbeziehung sozialpsychologischer Erkenntnisse bei der Schuldbeurteilung beschäftigten, die im Fall von Kollektivverbrechen Zweifel an der individuellen Verantwortlichkeit des Täters wecken mussten.

Dass die 1958 erfolgte Gründung der "Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen" eine entscheidende Zäsur in der Geschichte der bundesdeutschen NS-Strafverfolgung darstellt, ist in der zeithistorischen Forschung schon vor einigen Jahren herausgearbeitet worden. Unklar blieb jedoch bisher, welche konkreten vergangenheitspolitischen Motive sich mit der Einrichtung der neuen Vorermittlungsbehörde verbanden und was die Ziele ihrer Ermittlungstätigkeit waren. Michael Greve legt in seinem Essay zur Gründungsgeschichte der Ludwigsburger Stelle anschaulich dar, dass der Beschluss zur Zentralisierung und Systematisierung von KZ- und Einsatzgruppenverbrechen von dem Wunsch begleitet war, ein rasches Ende der unpopulären NS-Ermittlungen herbeiführen zu wollen. Greve setzt sich in diesem Zusammenhang auch mit der ambivalenten Rolle des ersten Behördenleiters, des ehemaligen Ulmer Chefanklägers Erwin Schüle, auseinander: Dessen Bemühen um konsequente Verfolgung schwerster NS-Verbrechen, so Greves zutreffender Befund, beruhte "nicht unerheblich auf dem Motiv, die politischen Vorgaben und Ziele der Bundesregierung und des Bundesjustizministeriums zu erfüllen" (S. 53). Zu widersprechen ist Greve allerdings in seiner Darstellung der zweiten Verjährungsdebatte von 1964/65 sowie der daran anschließenden "Affaire Schüle", die mit dessen beruflicher Demontage auf Raten endete: Nicht nur hätte man an dieser Stelle auf gravierende vergangenheitspolitische Divergenzen zwischen einzelnen Bundesländern und der CDU/FDP-Bundesregierung sowie unterschiedlichen Lagern innerhalb der beiden großen Volksparteien eingehen müssen, sondern auch der nicht unbeträchtliche Anteil des Ostblocks, insbesondere Polens, an dem bundesdeutschen Verjährungskompromiss wäre stärker zu gewichten gewesen.

Mit den Selbstrechtfertigungsstrategien des Deportationsspezialisten Adolf Eichmann beschäftigt sich Christian Kolbe. Er stützt sich dabei auf zwei Schlüsseldokumente: Zum einen auf ein Interview, das Eichmann in den 1950er-Jahren dem ehemaligen SS-Offizier Willem Sassen an seinem Fluchtort in Argentinien gewährte, zum anderen auf den 1961 in Jerusalemer Untersuchungshaft entstandenen autobiografischen Text "Götzen". Kolbe weist nach, dass Eichmanns Rechtfertigungsschriften ungeachtet aller Verfälschungen und Verzerrungen von der Geschichtswissenschaft genutzt werden sollten, um das Verständnis der Wirkungsweise von NS-Sonderorganisationen zu erhöhen. In ihrem Beitrag zum Auftritt von Mitgliedern der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess beleuchtet Franziska Bruder die Einflüsse der Ost-West-Konfrontation auf die Geschichte der NS-Strafverfolgung. Dabei handelt es sich um einen politisch wie psychologisch gleichermaßen heiklen Bereich, versuchten doch einige Strafverteidiger in NS-Verfahren aus naheliegenden prozesstaktischen Gründen immer wieder, die Glaubwürdigkeit von Zeugen aus dem kommunistischen Machtbereich pauschal in Frage zu stellen. Eine geradezu notorische Kaltschnäuzigkeit legte dabei der erfolgsverwöhnte Frankfurter Anwalt Hans Laternser an den Tag, der mit der Ladung ukrainischer Zeugen offensichtlich die Doppelstrategie verfolgte, einerseits die Verbrechen der deutschen Besatzungsherrschaft in Polen relativieren und andererseits die juristische Aufarbeitung von NS-Verbrechen als kommunistisch gesteuertes Unternehmen diskreditieren zu wollen. Bruders kenntnisreicher Artikel hätte noch an Wert gewonnen, wenn sie sich dazu entschlossen hätte, die krude Instrumentalisierung des Prozessstoffes, die in dem Gegeneinanderausspielen völlig unterschiedlicher NS-Opfergruppen lag, noch stärker als eine solche zu kennzeichnen. Auch hätte man die Gelegenheit nutzen sollen, die Frage nach möglichen Querverbindungen zwischen rechtslastigen Anwälten und ehemaligen Angehörigen der NS-Funktionseliten im bundesdeutschen Nachrichtendienstmilieu am Beispiel von OUN zu vertiefen.

Ein besonders bedeutsamer Prozess aus der Vor- und Frühgeschichte der Bundesrepublik, der heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist, war der Wilhelmstraßenprozess oder "Ministries Case", den die amerikanische Anklagebehörde OCCWC (Office of Chief Counsel for War Crimes) nach Abschluss des Nürnberger Hauptkriegsverbrechertribunals gegen 21 Repräsentanten der obersten Reichs- und Parteibehörden anstrengte. Im Rahmen seiner Vorarbeiten zu einer Robert-Kempner-Biografie hat sich Dirk Pöppmann genauer mit diesem Verfahren auseinandergesetzt. Die im zeitgenössischen Diskurs zu beobachtende Personalisierung des Prozesses, welche sich spätestens seit der Urteilsverkündung zum Konstrukt eines "Zweikampfes" zwischen Kempner und dem ehemaligen Staatssekretär Ernst von Weizsäcker (Auswärtiges Amt) auswuchs, erklärt Pöppmann mit der Suche nach positiven Identifikationsfiguren und dem Fortleben nationalsozialistischer Denkmuster: Während der aus linksliberal-jüdischem Milieu stammende Kempner in der deutschsprachigen Presse als "Gehilfe Stalins" diffamiert wurde, stilisierte man den konservativ-militärisch geprägten Hauptangeklagten von Weizsäcker zur Galionsfigur einer angeblich integer gebliebenen "alten Ministerialbürokratie", welche künftig auch eine Führungsrolle in der neuen Bundesrepublik übernehmen sollte.

Abschließend ist festzuhalten, dass die Beiträge im Jahrbuch des Fritz Bauer Instituts wiederum eine Fülle von Argumenten enthalten, welche Zweifel an der – neuerdings an Raum gewinnenden – These nähren, die negativen Rückwirkungen einer vorwiegend auf Umdeuten, Verdrängen und Aussitzen beruhenden Vergangenheitspolitik seien durch die "Macht der Institution" und den sich daraus ergebenden Resozialisierungseffekten quasi "neutralisiert" worden.

Anmerkungen:
1 Walser, Martin, Unser Auschwitz, in: Kursbuch 1 (1965), S. 189-200, hier S. 189.
2 Reich-Ranicki, Marcel, In einer deutschen Angelegenheit, in: Die Zeit, 22.5.1964.
3 Zu dem ebenfalls von Bauer angestrengten Prozess gegen ehemalige Angehörige des Auswärtigen Amtes siehe Weinke, Annette, Die Verfolgung von NS-Tätern im geteilten Deutschland. Vergangenheitsbewältigung 1949–1969 oder: Eine deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte im Kalten Krieg, Paderborn 2002, S. 258-286.
4 Meusch, Matthias, Von der Diktatur zur Demokratie. Fritz Bauer und die Aufarbeitung von NS-Verbrechen in Hessen (1956–1968), Wiesbaden 2001, S. 198-212.

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