A. Ivanisevic u.a. (Hgg.): Klio ohne Fesseln?

Cover
Titel
Klio ohne Fesseln?. Historiographie im östlichen Europa nach dem Zusammenbruch des Kommunismus


Herausgeber
Ivanisevic, Alojz; Kappeler, Andreas; Lukan, Walter; Suppan, Arnold
Reihe
Osthefte Sonderband 16, hg. vom Österreichischen Ost- und Südosteuropainstitut
Erschienen
Frankfurt am Main 2003: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
548 S.
Preis
€ 54,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Pavel Kolar, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Der auf eine im Herbst 2001 im Wiener Österreichischen Ost- und Südosteuropainstitut durchgeführte Tagung zurückgehende Sammelband stellt den ersten Versuch dar, zehn Jahre nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums eine Bilanz der Historiografien Osteuropas in ihrem Gesamtumfang vorzulegen – ein sicherlich begrüßenswertes Unternehmen, das eine erhebliche Kenntnislücke der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft zu schließen ermöglicht und zu einer wünschenswerten Annäherung beizutragen verspricht. Denn obwohl bereits vor 1989 einige Einzelkontakte zwischen den beiden Seiten des Eisernen Vorhangs bestanden, ist in der benachbarten deutschsprachigen Geschichtswissenschaft überraschenderweise die Gegend „drüben“ auch nach der Wende außerhalb der engeren Spezialistenkreise weitgehend unbekannt geblieben.

Den Beiträgen, die in drei geografisch-politische Bereiche aufgeteilt sind (die ehemalige Sowjetunion, Ostmitteleuropa und Südosteuropa), liegen von den Herausgebern formulierte einleitende Fragen zugrunde, welche sowohl der fachlichen Eigendynamik als auch der gesellschaftlichen Verflechtung der Geschichtswissenschaft Rechnung tragen. Dabei werden die Beiträge der HistorikerInnen aus Osteuropa jeweils mit einem Koreferat von Kollegen und Kolleginnen aus Österreich und Deutschland ergänzt, die zu den Hauptreferaten kritisch Stellung nehmen. Damit werden die Differenzen zwischen den beiden Wissenschaftskulturen sichtbar, gleichzeitig jedoch können (unerwartete) Gemeinsamkeiten zu einer Neubetrachtung dieses manchmal beliebig konstruierten Gegensatzes führen.

Für eine bedeutende Errungenschaft der neuen Entwicklung halten die meisten AutorInnen die Tatsache, dass infolge des Zusammenbruches der Diktaturen auch der in den Geisteswissenschaften als einzige Methodologie bewilligte Marxismus-Leninismus zerfiel. Die neu entstandene Pluralität der Theorien und Methoden wird begrüßt, da sie eine Grundvoraussetzung der freien Forschung sei. Doch die aufgrund der „Entideologisierung“ neu gewonnene Freiheit erweist sich als höchst problematisch. Es entsteht das Bedürfnis nach einem neuen Orientierungswissen; die Existenz eines „methodologischen Vakuums“ wird beklagt. Die am meisten verbreitete Reaktion ist der Rekurs auf die „reine Wissenschaft“ und auf einen geschichtsphilosophisch naiven Wahrheitsbegriff. Damit wird häufig eine neue Ideologisierung verschleiert: Die Angst vor Theorie wird von einer verborgenen „Sehnsucht nach Ideologie“ begleitet.

Solch theoriefeindliche Einstellung ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass der Marxismus selbst bereits lange vor der Wende nicht mehr ernst genommen wurde, von dessen innovativer Verarbeitung ganz zu schweigen: Gegen Ende der Diktaturen handelte es sich um einen bloßen Scheinmarxismus, in dem formell aus den Klassikern zitiert wurde, um anschließend die alte narrative Geschichtsschreibung zu betreiben. Somit ist zu erklären, dass trotz der beanspruchten Gesellschaftsorientierung des offiziellen Marxismus-Leninismus die Sozialgeschichte paradoxerweise eine Randdisziplin blieb.

Zwar räumen die AutorInnen ein, dass sich nach der Wende die Alltags- und Mentalitätsgeschichte durchsetzten. Auf die konkreten Forschungsergebnisse wird jedoch meistens nicht eingegangen. Stellenweise zeigt sich auch eine gewisse Begeisterung für die neuen kulturalistischen Strömungen im Westen, deren Durchsetzung im Osten ein Desiderat sei. Da jedoch in den meisten osteuropäischen Beiträgen der eigentliche Ideengehalt dieser Ansätze nicht näher erläutert wird, drängt sich der Eindruck auf, es handele sich größtenteils um gegen die vorherrschende Orthodoxie gerichtete Kampfbegriffe.

Die ausbleibende Auseinandersetzung mit der marxistischen Wissenschaftstradition, die nicht historiografiegeschichtlich aufgearbeitet, sondern meistens schlicht negiert wird, wirkt sich negativ auf das sich neu auszugestaltende Verhältnis zwischen Geschichte und Politik aus. Einige Referenten beklagen die mangelnde Reflexion der Fachhistoriker über die Konsequenzen der „Entpolitisierung“ der Geschichte sowie über die Stellung der Fachhistorie im Rahmen des wiederhergestellten kollektiven Gedächtnisses. Meistens sind die Reflexionen bei der Forderung nach „Entideologisierung“ und Rückkehr zur „Wissenschaftlichkeit“ stehen geblieben. In Bezug auf die gesellschaftliche Rolle der Geschichtswissenschaft lässt sich jedoch hinter diesen Appellen die äußerst dubiose Erwartung ablesen, dass die Öffentlichkeit nun auf die Historiker warte, die ihr eine Orientierung in den neuen verwirrten Verhältnissen besorgen könnten. Der Schock, dass die Entwicklung anders verlief, hatte selten eine vertiefte Selbstreflexion des Faches, sondern vielmehr eine noch strengere Abgrenzung zu Folge. Dementsprechend wird etwa der Ausdruck „Medialisierung der Geschichte“ von den osteuropäischen Historikern in der Regel geradezu als Schimpfwort gebraucht.

So sehr aber dieses auffallend übertriebene Wissenschaftspathos heutzutage geschichtsphilosophisch naiv erscheinen mag, wäre es unzureichend, es bloß als ein Resultat des zeitweiligen Orientierungsverlusts zu betrachten: Es ist gleichzeitig als Ausdruck eines historisch bedingten Selbstverständnisses der HistorikerInnen Osteuropas zu verstehen, die nicht nur jahrzehntelang einer massiven Kontrolle ausgesetzt waren, sondern häufig auch nach dem Zusammenbruch der Diktaturen einem neuen politischen Druck gegenüberstanden.

Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, dass der weit verbreitete Wahrheitsglaube auch Ausschließungstendenzen hervorrufen kann. In der Tat sind die Historiker in einigen Ländern bestrebt, das Deutungsmonopol über die Geschichte für sich in Anspruch zu nehmen, und verweigern den Laien das Recht auf historische Urteile. Beunruhigend erscheint diese Tendenz vor allem dann, wenn den Historikern in ihrem Kampf für die historische Wahrheit gegen den journalistischen Dschungel die politische Macht selbst zu Hilfe kommt. So wurden die slowenischen Historiker vom Parlament beauftragt, in einem offiziellen Büchlein einen „Konsens“ über die slowenische Zeitgeschichte zu erzielen (Beitrag von Dušan Necak, S. 340f.). In Albanien wurde in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre ein Nationalrat für Geschichte gegründet, der einen verbindlichen „objektiven“ Geschichtslehrplan für die voruniversitäre Bildung zu verfassen hatte, der stark von den Regierungswechseln beeinflusst wurde (S. 515).

Oft kommt in den Beiträgen die skeptische Meinung zum Ausdruck, dass der Abschied vom Marxismus-Leninismus keineswegs ein Ende der Ideologie bedeute, sondern dass die alte lediglich durch eine neue Ideologie – diesmal den Nationalismus – ersetzt und die Pluralisierung der Geschichte sofort von einer neuen Instrumentalisierung gefolgt worden sei. Jedenfalls lässt sich für die meisten Länder eine Rückkehr zu den oder eine Verstärkung der unterschwellig ruhenden „nationalen Meistererzählungen“ bzw. gar eine „Umkodierung der Vergangenheit“ konstatieren, die eine identitätsstiftende und legitimatorische Rolle hauptsächlich im Kontext der jüngst ausgebrochenen ethnisch-politischen Auseinandersetzungen spielte. Am deutlichsten wird die Erfindung von neuen Meistererzählungen im Falle Makedoniens, wo man erst seit der Wende durch eine umfassende Geschichtserzählung die Identität eines ethnisch definierten „makedonischen Volkes“ seit der Antike zu stiften sucht. Nicht überall deckte sich jedoch die erneuerte „Politisierung“ der Geschichte mit ihrer „Nationalisierung“: Wie die Entwicklung in Weißrussland zeigt, erfolgten auch Anstöße in die entgegen gesetzte Richtung.

Auch wenn Geschichte im Prozess der Identitätsstiftung zu einer Art „Legitimationswissenschaft“ besonders in denjenigen postkommunistischen Nachfolgestaaten wurde, die nicht über eine Kontinuität der Staatlichkeit verfügten, sollte man nicht darüber hinwegsehen, dass auch in den relativ stabilen und traditionellen Nationalgesellschaften Ostmitteleuropas eine heftige Polarisierung in der Öffentlichkeit und in Fachkreisen stattfand (Jedwabne in Polen, die so genannten Beneš-Dekrete in Tschechien). In diesen Kontroversen trat die Fachgeschichte häufig als „Vertreterin der Nationalinteressen“ auf. In diesem Licht ließe sich Wolfgang Höpkens Schlussfolgerung über die bulgarische Fachhistoriografie, sie sehe sich eher als „Sachverwalter des nationalen Geschichtsbildes“ denn als dessen „Dekonstrukteur“ (S. 498), mehr oder weniger auf die ganze osteuropäische Region ausweiten. Die häufig unterstellte Unterscheidung zwischen dem „fortgeschrittenen“ Ostmitteleuropa auf der einen und dem „zurückgebliebenen“ Ost- bzw. Südosteuropa („Balkan“) auf der anderen Seite weicht damit erheblich auf.

Abschließend sei auch kurz auf die Qualitätsunterschiede zwischen den einzelnen Beiträgen selbst hingewiesen: Eine erste Gruppe der osteuropäischen Referate bilden diejenigen, die – aus einer quasi-westlichen Perspektive – ihre nationalen Historiografien einer scharfen Kritik unterziehen: so Jaroslav Hrycak über die Ukraine, Ilgvars Misans über Lettland, Iskra Iveljic über Kroatien oder Ljubinka Trgovcevic über Serbien. Die zweite Gruppe von Beiträgen steht gewissermaßen unter dem Einfluss der jeweiligen nationalen Meistererzählungen (Gorgi Stojcevski über Makedonien oder Valentina Duka über Albanien). Die meisten Referate sind allerdings auf einer sachlich-deskriptiven Ebene gefasst, ohne explizit Partei zu ergreifen. Dabei erscheinen insbesondere die Beiträge über Polen und Tschechien erstaunlich blass, da sie die brisantesten historiografischen Themen nur am Rande ansprechen und den gesellschaftlichen Kontext fast völlig ausblenden (Jerzy W. Borejsa, Alena Míšková).

Was die „westlichen“ Kommentare betrifft, so sind die meisten bemüht, abseits der aktuellen nationalgeschichtlichen Kontroversen zu stehen. Dies gelang jedoch nicht ausnahmslos. Etwas frappierend wirkt beispielsweise im Beitrag von Emilia Hrabovec über die slowakische Geschichtsschreibung, dass hier mit dem faschistischen Slowakischen Staat sympathisierende Arbeiten (Milan S. Durica, František Vnuk) kommentarlos als „Bibliographieerweiterung“ angeführt und in einen Topf mit den Studien von Ivan Kamenec oder Tatjana Tönsmeyer geworfen werden. Genauso merkwürdig ist, dass der Begriff Holocaust konsequent vermieden wird und stattdessen von der „Tragödie der rassisch verfolgten Bevölkerung“ die Rede ist.

Die meisten Koreferate bieten sowohl wissenswerte Einzelergänzungen als auch konzeptionelle Weiterentwicklungen. Wegweisend erscheint vor allem jener Ansatz, der die Historiografien Osteuropas in ihren breiteren gesellschaftlichen Kontext setzt, also nicht über ihre Politisierung lamentiert, sondern diese anhand analytischer Begriffe wie die „historische Meistererzählung“ zu deuten sucht. Gerade ein solcher diskursanalytischer Zugang erlaubt es, die Verflechtung des „Neuen“ mit dem „Alten“ und die Beharrungskraft der Interpretamente der herkömmlichen Vergangenheitsdeutung aufzuspüren, die die politischen Erschütterungen relativ unbeschadet überstanden und in den neuen Verhältnissen ein gemütliches Zuhause fanden.

Der vorliegende Sammelband gibt nicht nur eine solide Bestandsaufnahme der Entwicklung der Historiografie in den postkommunistischen Ländern, sondern weist zudem auf deren aktuelle politisch-gesellschaftliche Brisanz hin. Gleichzeitig liefert er auch der westlichen Geschichtswissenschaft einen Anlass, anhand der Erfahrung der osteuropäischen HistorikerInnen über die politische Verflechtung der Wissenschaftsproduktion und die Reminiszenzen der nationalen Meistererzählungen unter den Bedingungen einer etablierten Demokratie zu reflektieren. Last but not least könnte der Sammelband – ohne aufklärerisch einen „Gesinnungswandel“ bewirken zu wollen - das kritische Potenzial der osteuropäischen Geschichtswissenschaft weiter entwickeln, da er auch auf die schwerer zu lösenden Fesseln der Klio aufmerksam macht.

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