M. Mayer: Geheime Diplomatie und öffentliche Meinung

Titel
Geheime Diplomatie und öffentliche Meinung. Die Parlamente in Frankreich, Deutschland und Großbritannien und die erste Marokkokrise 1904-1906


Autor(en)
Mayer, Martin
Erschienen
Düsseldorf 2002: Droste Verlag
Anzahl Seiten
383 S.
Preis
€ 80,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ruth-Stephanie Merz, Zentrum für Höhere Studien, Universität Leipzig

Die Auseinandersetzung mit den internationalen Krisen vor 1914 hat durch die Betrachtung publizistischer Quellen seit den 90er-Jahren wieder vermehrtes Interesse gefunden. Hieran anknüpfend hat sich Martin Mayer in seiner im Jahre 2000 von der Universität Mainz angenommenen Dissertation einer erneuten Analyse der Ersten Marokkokrise (1904-1906) zugewandt. Er hat sich hierfür einer anderen, bisher allenfalls implizit mitbehandelten Dimension von Öffentlichkeit gewidmet: den gewählten Volksvertretern. Die von ihm vorgelegte Studie ist komparatistisch angelegt und betrachtet die Reden von französischen, englischen und deutschen Parlamentariern und die in ihnen verbreitete Grundstimmung vor und während der Ersten Marokkokrise.

Diese Grundstimmung soll als Indikator für die Beschreibung der Krisensymptome bei den parlamentarischen Vertretern aller drei Länder dienen und die veränderte politische Handlungsweise und Perspektive nach der Krise erklären. Zur Bündelung der Quellen berücksichtigt Martin Mayer nur diejenigen Mitglieder der drei Parlamente, die mindestens einmal in ihren Reden Stellung zur Marokkokrise bezogen haben. Die Äußerungen der Presse werden lediglich in ihrer Funktion als „Agenda-Setter“ berücksichtigt.

In einem der einleitenden Kapitel zur Legitimierung seines komparatistischen Vorgehens (ein anderes fasst die Vorgeschichte der Ersten Marokkokrise nochmals zusammen) stellt Martin Mayer die Verfassungstheorie und die Verfassungswirklichkeit, sowie die Rolle der Presse und das unterschiedliche Verständnis von Außenpolitik in den drei untersuchten Ländern gegenüber. Er hält fest, dass den französischen Parlamentariern zwar verfassungsgemäß das größte Potenzial an außenpolitischer Mitgestaltung zustand, sie dafür jedoch vor 1904 nur ein geringfügiges Interesse aufbringen konnten. Ganz anders ihre Kollegen in Großbritannien und Deutschland: Diese hatten vergleichsweise wenig außenpolitisches Mitspracherecht, dafür übertraf ihr Interesse hieran dasjenige der Franzosen bei weitem, insbesondere in England.

Das Verhältnis von Presse und Parlament war ebenso verschieden: Während die französischen Abgeordneten sehr oft selbst zur Feder griffen und somit das Medium „Presse“ unmittelbar in Anspruch nahmen, begnügten sich ihre englischen Kollegen mit freundschaftlichen Kontakten zur schreibenden Zunft. Die deutschen Reichstagsabgeordneten positionierten sich irgendwo zwischen diesen beiden Extremen. Das Verhältnis zur Außenpolitik hingegen war in allen drei Nationen ein vergleichbar anachronistisches: die Außenpolitik wurde als „preserve of the few“ angesehen und unter Ausschluss der Öffentlichkeit als geheime Kabinettspolitik betrieben – ein Umstand, der sich für alle Krisen des jungen 20. Jahrhunderts am Vorabend des Ersten Weltkrieges als höchst irritierender Faktor darstellen sollte.

Dies wird in den folgenden beiden Abschnitten überdeutlich, welche die geheimen Verhandlungen und die europäischen Gerüchte zur Entente Cordiale, sowie die Landung des deutschen Kaisers in Tanger 1904 zum Untersuchungsgegenstand haben. Beide Ereignisse (Entente Cordiale und Tangerlandung) wurden fern von der Öffentlichkeit vorbereitet, verhandelt und durchgeführt. Die „veröffentlichte Meinung“ (Presse) reagierte hierauf mit „Enthüllungen“, die zwar dem „öffentlichen Nationalbewusstsein“ Auftrieb gaben und der Abgrenzung der nationalen „öffentlichen Meinung“ nach außen Vorschub leisteten, die aber dennoch kontraproduktiv waren, da sie die „öffentliche Meinung“ in Gestalt der parlamentarischen Vertreter unter Zugzwang setzten. Martin Mayer versäumt es nicht, in diesem Zusammenhang auch die Rolle und Funktion der außerparlamentarischen Triebkräfte zu erwähnen, die sich vornehmlich aus Mitgliedern kolonialpolitischer Gruppierungen zusammensetzten. Sie waren in Fragen der Kolonien oftmals besser informiert als die Volksvertreter und suchten die Parlamentarier mit Lobbyarbeit zusätzlich unter Druck zu setzen.

Die Nachwirkungen auf die friedliche Beilegung des Konfliktes im spanischen Städtchen Algeciras im Jahr 1906 sind Untersuchungsgegenstand des vorletzten Kapitels. Martin Mayer hält fest, dass mit der Ersten Marokkokrise und der Friedensverhandlung von Algeciras ein beginnender Wechsel in der Betrachtung von Außenpolitik bei den Volksvertretern der drei untersuchten Parlamente zu verzeichnen ist. In kleinen Schritten verabschiedeten sie sich von einer rein imperialistisch motivierten und an der Peripherie angesiedelten Außenpolitik. In das Blickfeld geriet nun zunehmend wieder das europäische Zentrum und seine Bündnispolitik.

Die Quintessenz der abschließenden Betrachtungen des Autors ist die Feststellung, dass „die liberale Idee vom freien Austausch der Meinungen […] in den Konflikt mit dem Gebot nationaler Einigkeit“ (S. 326) geriet und die derart sensibilisierte Öffentlichkeit sich sprunghaft für die außenpolitischen Geschehnisse zu interessieren begann.

Martin Mayer hat mit dieser Arbeit eine Studie vorgelegt, deren Gewinn darin liegt, die oftmals vernachlässigte Größe des Parlamentes für die Jahre vor 1914 als ein Hort der Repräsentation öffentlicher Meinung und ihrer Rolle in Fragen nationaler Politik ins Blickfeld der Forschung gerückt zu haben. Einen darüber hinausgehenden Erkenntnisgewinn bietet die Studie jedoch nicht, und dies aus zwei Gründen:

1. Die theoretische Auseinandersetzung mit der nach wie vor sehr fluiden Definition von „Öffentlichkeit“ und „öffentlicher Meinung“ ist vergleichsweise dünn.

Die „Öffentlichkeitsakteure“ in der vorliegenden Studie sind die parlamentarischen Volksvertreter der drei verglichenen Länder; Presse wird lediglich in ihrer Funktion als „Agenda-Setter“ berücksichtigt. Diese ohne Zweifel legitimierbare Trennung hätte dennoch einleitend einer tieferen Auseinandersetzung mit den Bedingungen, Strukturen und Funktionen von „Öffentlichkeit“, „öffentlicher Meinung“ oder „veröffentlichter Meinung“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts bedurft. Zwar rekurriert der Autor auf das nach wie vor bedeutende Werk Walter Lippmans „Public Opinion“ aus dem Jahre 1922, doch auch die neuere Forschung hat – allerdings selten anhand historischer, sondern eher zeitgenössischer Beispiele und oftmals unter besonderer Berücksichtigung des Pressewesens – weitere Erklärungsansätze erarbeitet, deren theoretische Überlegungen wertvolle Denkanstöße für eine historische Betrachtung der „öffentlichen Meinung“ bieten.

2. Die historischen Fakten zur Ersten Marokkokrise sind in Einzelstudien bereits aus unterschiedlichen Perspektiven, auch zum Thema „öffentliche Meinung“, in den Forschungslandschaften aller drei untersuchten Länder freigelegt worden – dies verdeutlicht nicht zuletzt ein Blick in das Literaturverzeichnis der vorliegenden Monografie. Die Ergebnisse dieser Studien hätte Martin Mayer zu einer größeren Synthese der „öffentlichen Meinung“ im Zusammenhang mit der Außenpolitik vor 1914 zusammenführen und die komparatistische Methode über ihre primäre Funktion des Beschreibens und Kontrastierens hinaus einsetzen können. Insgesamt betrachtet hätte dem Vergleich ein gewinnbringender Spannungsbogen hinzugefügt werden können, wäre die Gruppe der parlamentarischen Akteure als Repräsentanten der „öffentlichen Meinung“ nicht singulär betrachtet worden, sondern die „öffentliche Meinung“ in ihrer Gesamtheit (Parlament, Presse, außerparlamentarische Gruppierungen etc.). Die Verschränkungen und Implikationen des diskursiven Modells der Meinungsbildung wären durch solch ein Vorgehen auf nationaler, aber vor allen Dingen auch auf transnationaler Ebene wesentlich griffiger veranschaulicht worden und hätten eine tiefer gehende Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Konstitutionalismus und europäischer Massengesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts in drei europäischen Ländern ermöglicht. So jedoch bleibt der Leser mit einem Mangel an Bezugspunkten in der Betrachtung der Ersten Marokkokrise als „Kommunikationsereignis“ (S. 11) zurück.

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