P. Godman u.a. (Hg.): Am Vorabend der Kaiserkrönung

Cover
Titel
Am Vorabend der Kaiserkrönung. Das Epos 'Karolus Magnus et Leo Papa' und der Papstbesuch in Paderborn 799


Herausgeber
Godman, Peter; Jarnut, Jörg; Johanek, Peter
Erschienen
Berlin 2002: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
369 S., Ill.
Preis
€ 69,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gernot Michael Müller, Institut für Europäische Kulturgeschichte, Universität Augsburg

Im Jahre 1999 jährte sich ein für die europäische Geschichte des Frühmittelalters bedeutsames Ereignis zum 1200. Mal: das Treffen Karls des Großen mit Papst Leo III. in Paderborn. Dies war Anlass für die westfälische Stadt, in vielfältiger Weise – etwa durch eine reichhaltige Ausstellung mit dem Titel „799. Kunst und Kultur der Karolingerzeit. Karl der Große und Papst Leo III.“ – der Zusammenkunft zu gedenken, so auch durch ein vom Mittellatinisten Peter Godman sowie den Historikern Jörg Jarnut und Peter Johanek in Verbindung mit der Historischen Kommission für Westfalen veranstaltetes Symposion, dessen Beiträge aus der Feder von Philologen, Historikern und Kunsthistorikern drei Jahre später in dem hier anzuzeigenden Sammelband veröffentlicht wurden. Ausgangspunkt der Tagung sollte dabei ein Text sein, welcher das Zusammentreffen von Karl und Leo an der Pader breit und feierlich zur Darstellung bringt: das einzig in einer aus St. Gallen stammenden, seit 1712 in der Zentralbibliothek Zürich aufbewahrten Handschrift überlieferte Fragment eines anonymen zeitgeschichtlich-panegyrischen Epos, das in der Forschung in der Regel mit dem Titel „Karolus Magnus et Leo Papa“ versehen wird. Ihm sind die ersten drei Beiträge des Bandes gewidmet.

Diese beginnen mit den informativen Zeilen Fidel Rädles, die das Eposfragment in den Kontext karolingischen Herrscherlobs einordnen und dessen verschiedene literarische Möglichkeiten sowie die Kontexte seiner Realisierung andeuten (Tugenden, Verdienste, Ordnungen. Zum Herrscherlob in der karolingischen Dichtung, S. 9-18). Rädles Ausführungen zeichnen ein Panorama lateinischer Literatur um 800, die durch Erneuerung verschiedener Gattungsformen einer Modellierung Karls zu einem alter Augustus zuarbeitet und dabei vor allem auf das Augustusbild, das Vergil in seinem Œuvre entworfen hat, rekurriert. Bildet in Rädles Beitrag das Karlsepos im Sinne der Herausgeber in der Tat den Ausgangspunkt für eine weiter ausgreifende Betrachtung der literarischen Kultur im zeitlichen Umfeld der Kaiserkrönung Karls des Großen, wendet sich Francesco Stellas anschließender Aufsatz diesem allein zu und stellt erneut die besonders häufig behandelte Frage nach dessen Autor (Autore e attribuzione del ‚Karolus Magnus et Leo Papa‘, S. 19-33). Nach umständlicher Erörterung kommt Stella aufgrund sprachlicher, stilistischer und metrischer Analysen schließlich zu dem Ergebnis, dass niemand anderer als Modoin Autor des anonym überlieferten Textes sein könne, eine These, die zwar von Dieter Schallers prominenter Auffassung, das Epos „Karolus Magnus et Leo Papa“ stamme aus der Feder Einhards, abweicht, gleichwohl aber keinesfalls neu ist.1

Resultat von Stellas Argumentation ist folglich eine Illusion: Mag er auch die eine oder andere bislang nicht bemerkte Ähnlichkeit zwischen dem Eposfragment und den Gedichten Modoins herausgearbeitet haben, so steht am Ende des Aufsatzes doch wiederum nur eine Hypothese, die einen möglichen Autor vor anderen ebenso möglichen privilegiert. Stellas Beitrag reiht sich daher in eine Forschungsdiskussion ein, die beständig innerhalb einer begrenzten Gruppe potenzieller Verfasser des Karlsepos hin und her schwankt, ohne jemals den schlagenden Beleg für einen von ihnen beigebracht zu haben. Statt die einzelnen Autorthesen in regelmäßigen Abständen mit weiteren Stellungnahmen zu bereichern und damit einen sich im Kreis drehenden Diskurs am Leben zu erhalten, sollte von dieser nicht lösbaren Frage endgültig abgelassen werden, zumal sie ohnehin von geringem Erkenntniswert ist. Demgegenüber bieten sich andere, bisher kaum behandelte Themenstellungen an, um das Karlsepos auf nutzbringendere Weise an dem ihm zukommenden Ort in die karolingische Literatur einzupassen. Neben der von Rädle vorgenommenen Einordnung des Eposfragments in den Kreis karolingischer Herrscherpanegyrik bietet sich vor allem das noch nicht abschließend behandelte Problem seiner Gattungszugehörigkeit an, an welches sich die intrikate Frage anschließt, ob in „Karolus Magnus et Leo Papa“ das erste Beispiel eines spezifisch mittelalterlichen Epos lateinischer Sprache vorliegt. Gerade in diesem Bereich bleiben Stellas Andeutungen aber ebenso vage wie missverständlich, so dass sie zwangsläufig hinter den bereits erzielten Forschungsergebnissen zur Gattungsfrage zurückbleiben.2

Ein Beitrag zum Publikum karolingischer lateinischer Literatur von Michel Banniard, der aufgrund seiner streng linguistischen Ausrichtung innerhalb des Sammelbandes einigermaßen isoliert dasteht (La réception des carmina auliques: Niveau de latinité et niveau de réception à la fin du VIIIe siècle, S. 35-53), beschließt die kleine Gruppe der sich auf die Literatur der Karolingerzeit beziehenden Beiträge, worauf die Reihe der historischen Aufsätze folgt, die im Folgenden in Auswahl zur Sprache kommen sollen. Sie wenden sich entweder dem Zusammentreffen von Karl und Leo in Paderborn und seinen Beweggründen direkt zu oder situieren es in den weiteren Kontext der zeitgeschichtlichen Entwicklungen. Den Bereich karolingischer Kunst und Kultur tangieren schließlich die Ausführungen von Uwe Lobbedey über „Westwerke und Westchöre im Kirchenbau der Karolingerzeit“ (S. 163-191) und von Renato Bordone über die Funktion der Stadt in der Karolingerzeit (Le città in età carolingia, S. 323-333).

Den Höhepunkt jener Beiträge, die sich mit dem Paderborner Treffen und dem ihm vorausgehenden Attentat auf Papst Leo III. in Rom auseinandersetzen, bilden zweifelsohne die Zeilen Rudolf Schieffers, welche die Verarbeitung der römischen Ereignisse in der Historiografie und ihre Wahrnehmung im Umkreis des Karlshofes untersuchen (Das Attentat auf Papst Leo III., S. 75-85). Schieffer zeigt vorrangig an drei Briefen Alkuins, in denen dieser auf den Überfall des Papstes zu sprechen kommt, und einem Gedicht Theodulfs von Orléans (Nr. 32) auf, dass in der Umgebung Karls zunächst von der schweren Verwundung Leos an Augen und Zunge ausgegangen wurde, wie sie auch in den Geschichtsquellen verbreitet wurde, dass sich aber mit zunehmender zeitlicher Nähe zu dem Paderborner Treffen die Erkenntnis durchsetzte, Leo sei bei dem Anschlag glimpflich davongekommen. Während Alkuin in seinem Brief Nr. 178 an Karl inzwischen in der Vereitelung des Unternehmens den Ausweis göttlichen Beistands, der dem Papst widerfahren sei, zu erkennen meinte, beharrt die historiografische Überlieferung auf der ursprünglich auch am Karlshof verbreiteten Version, der Papst sei durch ein Wunder von seiner Blendung und der Verletzung an der Zunge geheilt worden. Den Grund für die Persistenz der Historiografie auch über das Paderborner Treffen hinaus, an dem spätestens die Unversehrtheit des erst 816 verstorbenen Papstes offenbar wurde, sieht Schieffer in dem Bemühen, „dem in seiner Stellung und Integrität nicht unangefochtenen Papst durch ein von Gott gewirktes Wunder die höchste nur denkbare Legitimation zuteil werden zu lassen, und seit Weihnachten 800 war die Rechtmäßigkeit Leos III. zugleich die Basis des Kaisertums, das er dem großen Frankenkönig verliehen hatte“ (S. 84). So vermag er abschließend zu folgern, dass „alles somit darauf hin[deutet], daß die Version der fränkischen Quellen vom Erfolg des Anschlags nicht so sehr die Folge getrübter Wahrnehmung wie vielmehr einer politischen Sprachregelung war, die es vorzog, den Eindruck der ersten Meldungen bestehen zu lassen, auch wenn man intern bald zu anderen Erkenntnissen gelangt war“ (S. 85). Komplementär zu Schieffers Analyse fränkischer Geschichtsquellen im Hinblick auf ihre Darstellung der dem Paderborner Treffen vorangehenden römischen Ereignisse sind Matthias Bechers Ausführungen über die Reise Leos III. nach Paderborn, in denen er minutiös deren Chronologie und den Verlauf der Verhandlungen an der Pader zu rekonstruieren sucht (Die Reise Papst Leos III. zu Karl dem Großen. Überlegungen zu Chronologie, Verlauf und Inhalt der Paderborner Verhandlungen des Jahres 799, S. 87-112).

Den Kreis der Beiträge, der sich mit Karls Eroberung der Sachsen und deren Missionierung beschäftigt, eröffnen die Ausführungen Lutz E. von Padbergs, der aufzeigt, dass bei der Frage, wie die Sachsen zur Übernahme des Christentums bewegt werden könnten, in Karls Umgebung durchaus unterschiedliche Standpunkte bestanden (Die Diskussion missionarischer Programme zur Zeit Karls des Großen, S. 125-143). Zumal die angelsächsischen Missionare hätten sich, so von Padberg, nicht mit dem Verfahren der Massentaufen abfinden wollen, durch welche die Unterweisung im Glauben der Taufe nachgeordnet wurde. Der konkreten Missionsarbeit in den sächsischen Stammesgebieten, zu denen nicht selten Insassen westfränkischer Klöster abgeordnet wurden, wendet sich Hedwig Röckelein hierauf in einem an von Padberg anschließenden profunden Beitrag zu (‚Pervenimus mirificum ad sancti Medardi oraculum‘. Der Anteil westfränkischer Zellen am Aufbau sächsischer Missionszentren, S. 145-162).

Mit Ludwig dem Frommen, der nach dem Tod seiner beiden Brüder unverhofft zum Nachfolger seines Vaters wurde, beschäftigt sich Ernst Tremp, wobei sein Hauptaugenmerk den Unterschieden gilt, die sich zwischen Karl und seinem Sohn in der Haltung gegenüber dem Islam auf der iberischen Halbinsel zeigen (Zwischen Paderborn und Barcelona. König Ludwig von Aquitanien und die Auseinandersetzung des Karlsreiches mit dem Islam, S. 283-299). Tremp vermag dabei aufzuzeigen, dass die Herausbildung einer islamfeindlichen Haltung unter Ludwig dem Frommen mit seinen Erfahrungen als König von Aquitanien, mehr noch aber mit einem Beraterkreis zusammenhängt, der sich aus nicht wenigen Vertrauten gotisch-spanischer Herkunft zusammensetzte. Im Zuge seiner Ausführungen kommt Tremp nicht nur als einer der wenigen Autoren auf „Karolus Magnus et Leo Papa“, sondern auch auf das Ludwigsepos des Ermoldus Nigellus zu sprechen, welches das erste vollständig erhaltene mittellateinische Epos darstellt,3 und behandelt damit ein Werk, welches man in den literaturwissenschaftlichen Beiträgen des Bandes durchaus vermisst, da es mit dem Karlsepos in engem Gattungszusammenhang steht. Den Kreis der in dem Sammelband behandelten karolingischen Literatur erweitert schließlich auch Ian Wood durch einen Aufsatz über die literarische Verarbeitung der Sachsenmission, in welchem nicht weniger als Ansätze einer Typologie karolingischer Hagiografie enthalten sind (An Absence of Saints? The Evidence for the Christianisation of Saxony, S. 335-352).

Gerade die letzten beiden angesprochenen Aufsätze weisen darauf hin, dass in der historischen Sektion des Sammelbandes neben den obligaten historiografischen Quellen immer wieder auch relevante Teilbereiche der zeitgenössischen Literatur in die Untersuchungen mit einbezogen werden. Dabei fragen die Autoren nicht nur nach deren Brauchbarkeit als Testimonien der besprochenen historischen Vorgänge, sondern auch nach den spezifischen gattungstypischen Verarbeitungsformen der in ihnen beschriebenen Ereignisse. Auf diese Weise zeichnen die Beiträge des Sammelbandes nicht nur ein breites und facettenreiches Bild der Vorgänge während und im Umkreis des Papstbesuches in Paderborn im Jahre 799, sondern auch der diese verarbeitenden Schriftzeugen, zu denen eben nicht nur Historiografie, sondern die ganze Breite der karolingischen Literatur zählt. Unter diesen Zeugnissen mag das Eposfragment „Karolus Magnus et Leo Papa“ zwar einen wichtigen Platz einnehmen; gleichwohl bleibt es eine literarische Quelle unter vielen, und vor allem eine, die nicht zuletzt dank der mannigfaltigen Studien des kürzlich verstorbenen Bonner Mittellatinisten Dieter Schaller wie kaum ein anderer literarischer Text der Karolingerzeit erschlossen ist.4 Es ist daher kaum verwunderlich, dass das Eposfragment von den wenigsten Autoren des Bandes angesprochen wird, und also wäre es sicher angemessener gewesen, die thematische Konzeption des Kolloquiums und daraufhin des Tagungsbandes im Hinblick auf seine literarische Komponente weiter zu fassen. Ein Titel wie „Der Papstbesuch in Paderborn 799 im Spiegel zeitgenössischer historischer Quellen und Literatur“ wäre dem tatsächlichen Zuschnitt der meisten Beiträge erheblich näher gekommen.

Angesichts der thematischen Breite der Aufsätze wäre es sicher wünschenswert gewesen, diese etwas konsequenter zu gruppieren, und den Band durch Überschriften in einzelne Abteilungen zu gliedern. Seiner besseren Benutzbarkeit hätte auch ein längeres Vorwort gedient, in dem die einzelnen Beiträge zunächst kurz vorgestellt und kommentiert worden wären. Bei aller Kritik im Detail und an manchem Beitrag ist allerdings nicht zu bezweifeln, dass mit diesem Tagungsband nicht nur eine willkommene Ergänzung der Kataloge zur Paderborner Ausstellung „799 – Kunst und Kultur der Karolinger“, sondern auch ein relevanter Beitrag zur Erforschung des historischen Umfelds der Kaiserkrönung am Weihnachtstag des Jahres 800 geschaffen wurde, ein Beitrag indes, der auch manche Fehlentwicklung und Sackgasse im Bereich der philologisch-literaturwissenschaftlichen Aufarbeitung der Epoche deutlich macht. Auch in dieser Hinsicht ist der Nutzen des Bandes sicherlich als nicht gering zu veranschlagen.

Anmerkungen:
1 Siehe Stella, S. 30-33. Zu Schallers These, Einhard könne womöglich der Autor des Karlsepos sein, siehe dessen vorsichtige Argumentation in Ders., Das Aachener Epos für Karl den Kaiser, Frühmittelalterliche Studien 10 (1976), S. 134-168 (wieder abgedruckt in: Ders., Studien zur lateinischen Dichtung des Frühmittelalters (wie Anm. 4), S. 129-163).
2 Siehe als neueste Veröffentlichung dazu Ratkowitsch, Christine, Karolus Magnus – Alter Aeneas, Alter Martinus, Alter Iustinus. Zu Intention und Datierung des Aachener Karlsepos, Wien 1997.
3 Faral, Edmond (Hg.), Ermoldus Nigellus, Carmen in honorem Hludowici christianissimi Caesaris Augusti, Paris 1932.
4 Schallers Beiträge sind gesammelt in: Ders., Studien zur lateinischen Dichtung des Frühmittelalters, Stuttgart 1995.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension