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Titel
Frankfurter Verhöre. Städtische Lebenswelten und Kriminalität im 18. Jahrhundert


Autor(en)
Eibach, Joachim
Erschienen
Paderborn 2003: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
464 S.
Preis
€ 44,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karl Härter, Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, Frankfurt am Main

Die historische Kriminalitätsforschung konzentrierte sich in Deutschland zunächst auf die spätmittelalterliche Stadt, und erst in den letzten Jahren entstanden Untersuchungen zu einzelnen Territorien des frühneuzeitlichen Alten Reiches. Mit der Arbeit von Joachim Eibach liegt nun auch eine Fallstudie zur Kriminalität in einer Reichsstadt des 18. Jahrhunderts – Frankfurt am Main – vor. Wie die meisten Studien nutzt sie Quellen, Ansätze und Instrumentarium der historischen Kriminalitätsforschung, um auch sozial- und kulturgeschichtlichen Fragestellungen nachzugehen. Es geht dem Autor folglich nicht primär um Strafrecht, Justiz und Strafvollzug, sondern um die soziökonomischen Bedingungen, unter denen Kriminalität „produziert“, zugeschrieben und sanktioniert wurde. Strafjustiz wird folglich als „Prisma der Lebenswelten“ verstanden (S. 26), das eine Analyse der sozialen, kulturellen und rechtlichen Dimensionen der Frankfurter Delinquenz des 18. Jahrhunderts ermöglichen soll, um vor allem das „Sozialprofil der beteiligten Akteure“ und „die Rechtserfahrungen der Lebenswelten“ aufzuhellen (S. 36). Eibach weist allerdings dem institutionellen und rechtlichen Rahmen, in dem die Kriminalquellen entstanden, wesentliche Bedeutung zu und beschreibt diesen luzide in einem gelungen Kapitel (II. Voraussetzungen und Rahmenbedingungen). Als theoretisches Modell legt der Autor den in der Kriminalitätsforschung überwiegend verwendeten Etikettierungsansatz zugrunde und bekundet gegenüber den Theoremen „Sozialdisziplinierung“ (G. Ostreich) und „Prozeß der Zivilisation“ (N. Elias) Skepsis, freilich ohne sich mit diesen näher auseinanderzusetzen. Hinsichtlich Funktionen und Wirkungen von Strafjustiz bleibt es ebenfalls bei knappen Verweisen auf „soziale Kontrolle“ und „Machtausübung herrschender gesellschaftlicher Gruppen“ (S. 25), ohne dass diese theoretischen Grundannahmen – wie im übrigen auch das Konzept der Lebenswelten – genauer diskutiert würden.

Methodisch steht die qualitative Analyse der Kriminalquellen (Verhörprotokolle, Rechtsgutachten, Suppliken u.a.m.) im Mittelpunkt, wobei sich Eibach der obrigkeitlichen Prägung und forensischen Konstruktion der Texte quellenkritisch bewusst ist. Als Basis dient zudem eine quantitative Auswertung der Fälle, von denen sich für das frühneuzeitliche Frankfurt rund 11000 nachweisen lassen. Um diese Masse zu bändigen, beschränkt sich der Autor auf eine einfache Auszählung der Fälle der Jahre 1717-1806 und arbeitet bei der inhaltlichen Analyse mit Stichproben für die Jahre 1741-43, 1771-75 und 1801-05. Aufgrund fehlender Überlieferung kann er allerdings einen großen Bereich der Kriminalität – die so genannte „Sittlichkeitsdelinquenz“ – nicht berücksichtigen, und die Analyse wird auf die Deliktfelder „politische Konflikte“, „Gewalt“ und „Eigentum“ konzentriert, für die fünf weitere, abweichende Stichproben erhoben werden. Die „formalen Gründe“, die Eibach für diese Auswahl anführt (S. 28f.), scheinen dem Rezensenten allerdings nicht ausreichend. Auch wenn es primär um den zunehmenden Wandel am Ende des Ancien Régime gehen soll, muss die Datengrundlage breiter sein: Drei Stichprobenjahre für den gesamten Zeitraum von 1700 bis 1770 genügen kaum, um langfristige Entwicklungen von Kriminalität und Strafpraxis zuverlässig bestimmen zu können. Zudem lässt sich anhand der einfachen Zählung aller Fälle zwischen 1717 und 1806 nicht die Delinquenz insgesamt bestimmen (S. 28, 89ff.): Denn in einem Fall können mehrere Delikte von mehreren Delinquenten begangen und bestraft worden sein, was gerade bei „Massendelikten“ wie Schlägereien oder von „Banden“ begangenen Diebstählen zu erheblichen Verschiebungen führt. Zwar werden Diebstahl und Hehlerei separat gezählt, bei anderen Delikten bleibt die quantitative Berücksichtigung von Mehrfachdelikten jedoch diffus. Die Grafiken und Ausführungen zur „Delinquenzentwicklung“ (S. 95) und zu Spektrum bzw. Entwicklung der Strafen (S. 387-389) können folglich langfristige Entwicklungen nur bedingt deutlich machen: Warum z.B. die Fallzahlen 1750-52 stark steigen, bleibt ungeklärt, die Verteilung der Strafen (Graphik S. 387) in Bezug auf alle Delinquenten und Delikte ist unklar, nicht einmal absolute Zahlen sind angegeben.

Insofern bleiben auch die Schlussfolgerungen zum Wandel der Strafpraxis im „Zeitalter der Aufklärung“, zum Zusammenhang zwischen ökonomischer Entwicklung und Kriminalität (Brotpreise, Versorgungskrisen) sowie zu der in der Forschung kontrovers diskutierten These einer Abnahme der Gewalt- und Zunahme der Eigentumsdelinquenz stellenweise kursorisch: Dass die Kriminalitätsspitze im Jahr 1751 nicht mit dem niedrigen Brotpreis koinzidiert, „ohne daß hierfür ein plausibler Grund benannt werden kann“ (S. 99) erscheint problematisch, wenn nicht geklärt wird, wie sich die Kriminalität im Jahr 1751 zusammensetzte und wie es zu dieser Häufigkeitsspitze kam. Zumal Eibach insgesamt die Interdependenzen von Bevölkerungsentwicklung, Armut und Kriminalität betont. Auch der Zusammenhang zwischen „Aufklärung“ und der Zunahme der auf „Besserung“ zielenden „Freiheits- und Arbeitsstrafen im Zeitalter der Aufklärung“ (S. 400) lässt sich kaum direkt aus den drei Stichprobenzeiträumen herauslesen, denn schließlich wurde das Frankfurter Zuchthaus bereits 1679 eröffnet, und seit Ende des 17. Jahrhunderts war auch die Arbeitsstrafe des Schanzens in Gebrauch. Dass die Frankfurter Justiz in einem linearen Wirkungszusammenhang zwischen Diskurs und Praxis hinsichtlich der Strafzwecke „Besserung“/„Disziplinierung“ „im Zuge der Aufklärung Neuland“ betrat (S. 418) wird nicht belegt, zumal „die Aufklärung“ und „ihr Zeitalter“ als plakative Begriffe verwendet und ihre konkrete Ausprägung bzw. Wirkung für Frankfurt und seine Strafjustiz nicht näher bestimmt werden. Der von Eibach beschriebene und mit anderen Territorien übereinstimmende Wandel der Strafzwecke von einem theokratischen zu einem utilitaristischen Strafmodell soll keineswegs bestritten werden, doch reicht nach Auffassung des Rezensenten „Aufklärung“ oder die zeitliche Einordnung in deren wie auch immer näher zu bestimmendes „Zeitalter“ als generelles Erklärungstheorem für die spezifischen Verhältnisse einer Reichsstadt kaum aus.

Dagegen kann Eibach die Praxis der einzelnen Strafarten anhand der qualitativen Analyse der Kriminalakten präziser herausarbeiten und gleichzeitig die Entscheidungslogiken der Richter aufhellen: Zutreffend lassen sich diese als selektive Anwendung des Strafrechts beschreiben, bei der Konfliktschlichtung zwischen einheimischen Delinquenten und Repression/Ausgrenzung gegenüber Fremden, Vaganten und Angehörigen von Randgruppen dominieren. Letztlich blieb die „Stabilisierung sozialer Ordnung im Hinblick auf die Befestigung von Herrschaft“ ein permanenter Grundzug der Frankfurter Strafjustiz (S. 425). Dies macht auch die Detailanalyse der drei Deliktfelder „politische Konflikte“ (Kapitel III), Gewalt (Kapitel IV) und Eigentum (Kapitel V) deutlich. Geschickt verknüpft Eibach hier die Analyse exemplarischer Fälle mit den sozialen und ökonomischen Strukturen der Reichsstadt und gelangt zu einer mehr oder weniger „dichten Beschreibung“ der Lebenswelten. Der Wandel der Protestkultur vom Fettmilchaufstand bis zur Französischen Revolution und der jeweils differenzierte Einsatz von Strafjustiz und/oder Konflikteindämmung durch den Rat werden ebenso wie Praxis und Formenwandel der insbesondere im Handwerk lokalisierten Gewaltkulturen überzeugend herausgearbeitet. Bezüglich der Zusammenhänge zwischen Eigentumsdevianz und städtischer Lebenswelt kann Eibach ebenfalls mit profunden Ergebnissen, vor allem bezüglich der spezifischen Kriminalisierung des Gesindes („Hausdiebstahl“) und der Frankfurter Juden („Betrug“) aufwarten.

Im Ergebnis resümiert Eibach knapp zentrale Strukturmerkmale der reichsstädtischen Strafjustiz und „Lebenswelten“ des 18. Jahrhunderts, die durchaus mit anderen frühneuzeitlichen Städten, Territorien oder Staaten vergleichbar sind; allerdings fehlt eine vergleichende Einordnung und Bewertung auf der Basis der neueren Forschung gänzlich. Die Frankfurter Strafjustiz war gesellschaftlich akzeptiert und es bestand weitgehend Konsens trotz einer stratifizierten, sozial ungleichen Ständegesellschaft; der „Dissens“ zwischen Obrigkeit und Stadtbewohnern blieb auf einzelne Konflikte bzw. Konfliktfelder begrenzt, und die sanktionierte Kriminalität verweist nicht auf ein Gegenmodell von Rechtsvorstellungen. Weder lässt sich die Delinquenz als ein Protestverhalten von Unterschichten oder Untertanen im Sinne des Konzeptes des „social crime“ deuten noch existierte eine „kriminelle“ Unter- oder Gegenwelt. Die Interaktion zwischen Untertanen und Obrigkeit im Rahmen der Strafjustiz und damit einhergehend Justiznutzung, Konfliktregulierung, Erhaltung des städtischen Friedens, „Integration“ sowie ein utilitaristischer Grundzug bestimmten die „lebensweltliche Rechtserfahrung“ wie die Justizpraxis – zumindest was die „einheimischen“ Nutzer und Delinquenten betrifft. Dem gegenüber steht die repressive Seite der Strafjustiz, die „vor allem fremde und mangelhaft integrierte Unterschichten“ ausgrenzte, um soziale Ungleichheit zu befestigen, und aus dieser Perspektive erscheint das 18. Jahrhundert als ein „Jahrhundert der Unterschichten-Delinquenz“, die sich aus Bevölkerungswachstum und Armut speiste (S. 428). Ambivalent gedeutet wird der Prozess der „Verobrigkeitlichung“ und „Juridifizierung“ der Strafjustiz, den auch die Frankfurter Obrigkeit vorantrieb, indem sie obrigkeitliche Konfliktlösungsmechanismen an die Stelle informeller sozialer Kontrolle setzte und ihre Stellung als Garantin des Stadtfriedens monopolisierte. Dies wertet Eibach zumindest partiell als „Kolonialisierung der Lebenswelten“, nicht jedoch als „Sozialdisziplinierung“ oder „Zivilisation“, auch wenn weder die „Funktionsweisen der Obrigkeit noch die Lebenswelten“ (S. 429) als statisch angesehen werden könnten. Ein Wandel sei vor allem im höheren und mittleren Bürgertum bezüglich „der Kultur des Streitaustrags, der Geselligkeit und des politischen Konflikts“ auszumachen (S. 430). Die Gewaltdelinquenz zog sich aus diesen Schichten wie auch aus dem öffentlichen Raum zurück und nahm insgesamt ab. Dem entspricht der Befund, dass die Bürgerschaft Protest weniger mit gewaltsamen Großaktionen - wie dem Fettmilchaufstand - und eher auf rechtlichem Weg austrug. Nimmt man die überwiegend den Randgruppen und Unterschichten zugeschriebene Eigentumsdelinquenz hinzu, könne die Gesamtentwicklung als eine neue Polarisierung über alte Standesgrenzen hinweg und letztlich als zunehmende Partizipation des höheren Bürgertums an der Stadtherrschaft und als "Herrschaft der Bürger über Unterschichten" (S. 431) gedeutet werden.

Diese teilweise zirkulär und widersprüchlich erscheinenden Deutungsmuster - einerseits Akzeptanz und Konsens, andererseits Ausgrenzung und Polarisierung - besitzen zwar partiell für einzelne Felder der städtischen Kriminalität und Strafjustiz Erklärungskraft, eine argumentativ stringente theoretische Einordnung der Entwicklungsprozesse und Interdependenzen zwischen obrigkeitlicher Strafjustiz, Kriminalität und städtischen Lebenswelten in der Reichsstadt der Frühen Neuzeit liefert Eibach damit jedoch nicht. Der dennoch nicht zu bezweifelnde große Wert der Studie liegt dann auch eher in der konkreten Analyse und Darstellung der drei Devianzfelder „politische Konflikte“, „Gewalt“ und „Eigentum“, auf denen Eibach mittels der Sonde Kriminalitätsforschung durchaus überzeugende Ergebnisse erarbeitet und so aufschlussreiche Einblicke in die Lebenswelten einer Reichsstadt des 18. Jahrhunderts gibt.

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