Titel
Ich trage einen goldenen Stern. Ein Frauenleben in Deutschland


Autor(en)
Kuhn, Annette
Erschienen
Berlin 2003: Aufbau Verlag
Anzahl Seiten
232 S.
Preis
€ 17,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Reinhard Mehring, Institut für Philosophie, Humboldt-Universität zu Berlin

Autobiografie ist Ex-post-Erzählung, Dichtung und Wahrheit. Der Blick auf die Lebensgeschichte gewinnt sein Licht aus der Gegenwart. Mühsam wehrt sich dann die Erinnerung gegen die Erfolgsgeschichte. Annette Kuhns Memoiren reflektieren diese Gefahr mit einer doppelten Brechung: Sie schalten zahlreiche Dokumente ein, Tagebucheinträge, Briefe und Fotos, die die Authentizität der Erinnerung verbürgen, und sie fiktionalisieren das leitende Narrativ als feministischen Mythos. Kuhn erzählt ihre Biografie als Entdeckungsgang der Frauengeschichte, der Wendung vom Vater zur Mutter. Das Zeichen des goldenen Sterns wechselt dabei seine Bedeutung. Steht es zunächst für das Stigma des Judentums, wird es zum Zeichen des Glücks und eines festlich gelungenen Lebens.

Anette Kuhn wurde 1934 in Berlin geboren. Ihre Vater gehörte zur akademischen Elite. Er war dort ein aufstrebender Privatdozent für Philosophie. Nach nationalsozialistischen Kategorien war er aber „Halbjude“, die Mutter war „Volljüdin“. Die Familie emigrierte über England in die USA und kehrte nach 1945 bald nach Deutschland, nach Erlangen und München, zurück. Die Kindheit steht im Zeichen des Schweigens und der Lüge. Erst nach dem Tod der Mutter erfährt die Tochter von deren jüdischer Herkunft. Die Mutter baute in der Emigration eine „Märchenwelt“ auf, in der die eine „arische“ Großmutter zur bösen Stiefmutter wurde. Die Eltern wollten keine Emigranten sein. Sie sprachen nicht über ihre Sorgen. Die Tochter steht zwischen den Welten. Ein erstes Glück ist der philosophische „Vater-Tochter-Dialog“. Allmählich aber entdeckt die Tochter gegenüber dem gestrengen Vater auch die Mutter als „Leitbild einer Philosophin“. Die Eltern kehren nach 1945 nur in „das gute Deutschland“ (S. 55) zurück, nur zu denen, die Hitler widerstanden haben. Die Mutter engagiert sich im „Hilfswerk des 20. Juli“ und gibt zusammen mit Reinhold Schneider und Hellmut Gollwitzer ein sehr erfolgreiches Erinnerungsbuch über den deutschen Widerstand heraus. Doch sie bewahrt das „Schweigegebot“ (S. 62) der bundesdeutschen Nachkriegszeit über Judentum und Holocaust. Sie verstummt und verschließt sich zuletzt in eine „Wahnwelt“. Die Tochter meint dazu heute: „Sie ging an ihrem Schweigen zugrunde.“ (S. 64)

Sie kann sich nach 1945 nicht leicht einfinden. Im Internat begegnen ihr aber Traditionen der Jugend- und Frauenbewegung, die sie beeindrucken. Sie wird eine „judenfreie Deutsche“ (S. 79). Später studiert sie Geschichte, promoviert bei Franz Schnabel, wird Mitarbeiterin der sozialgeschichtlichen „Conze-Schule“. Doch auch dort werden „die wichtigsten Fragen zur jüngsten deutschen Geschichte“ (S. 93) tunlichst beschwiegen. Kuhn konvertiert vom Protestantismus zum Katholizismus und gewinnt in München engen Kontakt zu Romano Guardini. 1964 wird sie Professorin für Geschichtsdidaktik an der PH-Bonn, die später der Universität angeschlossen wird. Es beginnt eine „Lebens- und Wohngemeinschaft“ mit einer anderen Tochter aus gutem Hause, die ebenfalls Emanzipation sucht. Doch der Mythos der „weisen Frau“, den Kuhn jenseits der katholischen Mariologie, die ihr in Guardini begegnete, für sich entdeckt, führt über diese Beziehung hinaus.

Im zweiten Teil der Memoiren erzählt Kuhn ihr Berufsleben als eine „Reise ins Reich der Frauengeschichte“, für die sie die Figur der „Promethea“ als Leitstern fand. Die Aufgaben der Didaktik sind ihr anfangs noch unklar. Im intellektuellen Kosmos des Vaters kommen sie nicht vor. In der männlich dominierten Berufswelt fühlt sie sich lange als „Gliederpuppe“ und „Hampelmann“. Zeigt ihr die 68er-Bewegung auch die „Vision“ der Demokratisierung, so vernimmt sie doch erst mit dem traurigen Tod der Mutter die „Botschaft“ von der Frauengeschichte als „Beziehungsgeschichte“ (S. 169). Ihr Blick auf die NS-Zeit ändert sich. Sie setzt eine Lehrstuhlerweiterung auf „Frauengeschichte“ durch, den ersten dieser Art, gerät dadurch aber in bittere Auseinandersetzungen um die Anerkennung der Frauengeschichte als Prüfungsfach (S. 174ff.). Das Leben als „Emerita“ erscheint dann im dritten Teil als Befreiung. Nun trägt Kuhn stolz ihren „goldenen Stern“. Die Autobiografie ist eine Geschichte der Entdeckung des eigenen Selbstverständnisses, das Kuhn vor allem mit weiblichen, feministischen Mythen verbindet.

Welche überindividuelle Bedeutung mag der Leser hier finden? Zunächst zeigen die Memoiren die Identitätsprobleme der Emigrationskinder, die verborgener und diffuser sind, als die verstandenen Kämpfe der Eltern. Sodann erinnern sie das Emanzipationsstreben der 68er, aus dem nicht nur die neuere Geschichtsdidaktik, sondern eben auch die Frauengeschichtschreibung herauswuchs. Nicht zuletzt exemplifizieren sie die narrativen Konsequenzen der Wendung zur Geschichte als „Beziehungsgeschichte“. Lehrte Guardini einst den „Weg vom Mythos zum Logos“, so entdeckt Kuhn in ihrer Identitätssuche nun die Notwendigkeit eines freien Umgangs, einer feministischen Wendung des Mythos. Diese Thematisierung des Mythos für die Orientierung der eigenen Wege macht ihre Memoiren auch narrativ interessant.

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