Titel
Im Zeichen der Gewalt. Frieden und Krieg im 19. und 20. Jahrhundert


Autor(en)
Dülffer, Jost
Erschienen
Köln 2003: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
304 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Friedrich Kießling, Institut für Geschichte, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Anlässlich des 60. Geburtstags von Jost Dülffer haben Martin Kröger, Ulrich S. Soénius und Stefan Wunsch siebzehn Aufsätze des Kölner Historikers aus den Jahren 1976 bis 2000 versammelt. Dülffers großes Thema ist die zwischenstaatliche Gewalt im 19. und 20. Jahrhundert, ihre Gründe und Auswirkungen, vor allem aber die Strategien zu ihrer Vermeidung. Ereignisgeschichte darf man von seinen Aufsätzen nicht erwarten. Es sind Problemaufrisse, oft diachron angelegt, die ihren Gegenstand von vielerlei Seiten her beleuchten.

Die Geschichte von Frieden und Krieg ist für Jost Dülffer die Geschichte grundsätzlicher friedlicher oder kriegerischer Dispositionen, von Kriegsbildern, Kriegserfahrungen und Kriegserwartungen, nicht zuletzt die Geschichte der zeitgenössischen Vorstellungen davon, wie die internationale Ordnung aussieht oder aussehen sollte. Die Untersuchungen sind dabei nicht auf die staatliche Ebene reduziert. Natürlich kommen Wilhelm II., Adolf Hitler, Dwight David Eisenhower oder Nikita Chruschtschow vor, ebenso beschäftigen sich Dülffers Arbeiten aber mit Joseph Görres, Max Scheler oder mit der bundesdeutschen „Kampf dem Atomtod“-Bewegung. Überhaupt ist der Zusammenhang zwischen theoretischen Überlegungen und praktischer Politik ein wichtiges Thema, sei es bei einem Politiker und Publizisten wie Friedrich Gentz, dessen direkter politischer Einfluss nur zeitweise eindeutig war, oder bei Bismarck, über den Dülffer einmal schreibt, es sei „töricht“, von ihm „einen großen theoretischen Entwurf für eine europäische Ordnung zu erwarten“ (S. 19). Ebenso wie diesem Problem von Theorie und Praxis spürt Dülffer dem Spannungsfeld von situativen und eher strukturellen Faktoren nach, wenn er zum Beispiel in einem Aufsatz von 1992 über „Supranationalität und Machtpolitik im Denken deutscher politischer Eliten nach den beiden Weltkriegen“ die Haltungen in Deutschland zu Völkerbund bzw. europäischer Integration untersucht, die eben nicht nur von langfristigen Dispositionen bestimmt waren, sondern die sich vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen im Zweifelsfall auch recht schnell wandelten. Und immer wieder macht Dülffer auch den aktuellen Bezug seiner historischen Arbeit kenntlich. Am Beginn des Aufsatzes zu „Krieg und Frieden bei Max Scheler“ aus dem Jahr 2000 verweist er auf die deutsche Beteiligung am Krieg im ehemaligen Jugoslawien (S. 141), in einem „Modell der Friedenssicherung in Deutschland seit der Französischen Revolution - Joseph Görres, Friedrich Gentz und die Entwicklung seither“ überschriebenen Beitrag von 1990 heißt es am Ende: „Geht auf Frieden ausgerichtete Politik allein von einer gleichsam präexistenten Stabilität eines abgesicherten Friedens zwischen den Staaten aus, versäumt sie sozialen Wandel einzukalkulieren und verfehlt so ihr Ziel. Fixiert sie sich alleine auf eine Zukunftsqualität neuer Friedlichkeit, so droht sie auf dem Weg dahin nationale Disparitäten und Konflikte zwischen Staaten zu schaffen, die ihrerseits den Frieden gefährden können.“ Erst eine immer wieder „neu zu erstellende Synthese zwischen Friedensentwürfen à la Gentz und à la Görres vermag den selbstgesteckten Zweck zu erreichen“ (S. 25).

Friedrich Gentz und (der junge) Joseph Görres sind denn auch Stichwörter, wenn man nach der eher summarischen Aufzählung von Themen und Problemstellungen genauer nach den beiden Grundmomenten von Dülffers Deutung der Geschichte von Frieden und Krieg in der Moderne fragt, dem Zusammenhang von zwischenstaatlicher Gewalt und internationalen Ordnungsvorstellungen sowie den jeweiligen Dispositionen zu Krieg und Frieden. Bei den Modellen zur Friedenssicherung steht Görres mit seinen frühen Schriften für das Projekt einer „homogenen Staatengesellschaft“ als Garantie für den Frieden, ein Projekt, das letztendlich auf „eine Umgestaltung der inneren Verhältnisse als Voraussetzung“ für eine friedliche Ordnung zielt (S. 10). Gentz dagegen steht für eine Vorstellung, die im Ausgleich zwischen den unterschiedlichen, macht- und interessengeleiteten staatlichen Einheiten zumindest die beste Chance auf Frieden sieht. Modern gesprochen geht es dabei um die Alternative zwischen einer einheitlichen Gesellschaftsform überall auf der Welt und einem wie auch immer gearteten, bi- oder multipolaren Gleichgewichtssystem. Ersteres zeigt sich zum Beispiel - durchaus konfliktträchtig - in der Ideologisierung der internationalen Politik in Teilen des 19. Jahrhunderts, letzteres etwa in der Stresemannschen Politik der „Rekonstruktion eines europäischen Gleichgewichts“ (S. 22). Noch in den bundesdeutschen Debatten der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts erkennt Dülffer diese Grundmuster (S. 24). Dülffers Augenmerk gilt aber auch alternativen historischen Ordnungsvorstellungen, Vorstellungen, die nicht zum Zuge gekommen sind. Dem liegt nicht zuletzt die Einsicht zugrunde, dass auch die politisch Handelnden mit unterschiedlichen Szenarien rechneten bzw. zu rechnen hatten. Einen Schwerpunkt von Dülffers Forschungen bilden so die Haager Konferenzen von 1899 und 1907. Vor allem Klein- und Mittelstaaten sahen hier die Chance, „daß rechtliche Maßnahmen zur Friedenssicherung die bislang praktizierte Machtpolitik modifizieren könnten“, wie Dülffer in einem hier zum erstenmal veröffentlichten Beitrag schreibt („Die kleineren Staaten auf den Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907“, S. 82). Durchsetzen konnten sie sich damit freilich nicht. Die Großmächte taten in Haag vornehmlich das, was sie auch sonst mit alternativen Ideen etwa aus der Friedensbewegung, taten sie gingen von ihren „traditionellen diplomatischen Abwägungen“ aus (S. 68). Wirklich herausgefordert wurden die Ordnungsvorstellungen der europäischen Großmächte zu Beginn des 20. Jahrhunderts von etwas ganz anderem. Das System befand sich auf dem Weg von einer europäischen zu einer globalen Staatenordnung. Althergebrachte Hierarchien und die Auffassungen davon, was unter einer Großmacht zu verstehen sei, kamen ins Wanken. Das konnte den Frieden bedrohen, zum Beispiel wenn ein „Mißverhältnis von Wirtschaftskraft und eigenem Territorium, vor allem aber zum Kolonialbesitz“ die Folgerung zuließ, „daß eine solche Schere durch eine gezielte Politik geschlossen werden müsse“ (S. 52f.). Es zeigte aber auch, dass Großmächte „prinzipiell gefährdet waren“, und auch deshalb wurde „die Konfliktschwelle zum Krieg nicht häufig überschritten“ (S. 55). Mit dem Wandel zum globalen System der Jahrhundertwende begann Europa gleichsam zu „schrumpfen“ (S. 245), mit dem Ersten Weltkrieg beschleunigte sich diese Entwicklung weiter. Dülffer hat sie als „Niedergang Europas im Zeichen der Gewalt“ in einer Weise skizziert, die weit über politische Zusammenhänge hinaus den verschiedenen Vorstellungen von der Gestalt Europas nachgeht. In der politischen Sphäre kann man die Suez-Krise von 1956 als Schlusspunkt im Übergang der internationalen Politik zu einem Weltstaatensystem betrachten. Auch ihr und der gleichzeitigen Intervention des Warschauer Pakts in Ungarn hat Dülffer einen Aufsatz gewidmet. Wieder geht es ihm um Wandel in den internationalen Ordnungsideen sowie den Zusammenhang von entsprechenden Konzepten und Kriegsgefahr. Europa spielt nur noch auslösend eine Rolle. In der sich 1956 bestätigenden Anerkennung des Status quo und der Abkehr von Befreiungsszenarien scheint vielmehr wieder die Dichotomie von Weltgesellschaft und Gleichgewichtsvorstellung auf. Dülffer beschreibt sie als Hinwendung zur Logik des Macht- und Interessenausgleichs zwischen den beiden Supermächten, dokumentiert in der sowjetisch-amerikanischen „Kooperation“ gegen die früheren Weltmächte Frankreich und Großbritannien.

Zu diesem Wandel in der internationalen Politik der 50er Jahre trug die atomare Bedrohung maßgeblich bei. Begleitet werden die Vorstellungen von der Ordnung der internationalen Politik also nicht zuletzt von aktuellen Kriegserfahrungen und Kriegserwartungen. Gentz und Görres gingen von der Erfahrung der französischen Revolutionskriege aus. Max Scheler stand unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs. Auch bei den Einstellungen zum Krieg, die daraus resultierten, stellt sich die Frage, inwieweit es sich um grundsätzliche Kriegsbereitschaft oder unbedingten Friedenswillen handelt. Bismarck zum Beispiel hatte als preußischer Ministerpräsident bekanntlich keine Skrupel, „begrenzte Kriege“ in sein politisches Kalkül einzubeziehen, er führte entsprechende Krisen bewusst herbei. Hinsichtlich des großen Krieges stellt sich die Sache schon komplizierter dar. Ein solcher Krieg war, so Dülffer, nach der Reichsgründung zumindest „unerwünscht“ und musste „um - fast - jeden Preis“ verhindert werden (S. 44). Das schloss den großen Krieg nicht vollständig aus, der „europäische Frieden“ wurde aber zunehmend ein „hoher Wert“ für den Reichskanzler (S. 48). Wie differenziert auch das Kriegsbild im Wilhelminischen Deutschland betrachtet werden muss, hat Jost Dülffer als einer der ersten gezeigt. Unter anderem auf der Basis der zeitgenössischen Science-fiction-Literatur kam er zu dem Ergebnis, dass sowohl in der Öffentlichkeit als auch im Establishment die neue Qualität eines „Zukunftskrieges“ mit seinen ungeheuren Verlusten und Schrecken sehr wohl erkannt wurde. Auch die Gefahr eines langen Krieges wurde durchaus gesehen. Der Unterschied war, wie Dülffer schreibt, zwischen Militaristen und Pazifisten „doch nicht so groß“ (S. 112). Doch das Kriegsbild ist eine Sache, die Konsequenzen, die daraus gezogen werden eine ganz andere. Während die Diskussion um den zukünftigen „Weltbrand“ für die einen dazu führte, den Krieg zunehmend für unführbar zu halten, sehnten Militaristen ihn gerade wegen seines vermuteten Ausmaßes herbei. Irgendwo dazwischen ist vermutlich die Haltung der Reichsleitung einzuordnen. Jost Dülffer hat die Reichspolitik angesichts dessen als fatalistisch bezeichnet (S. 140).

Dülffers Arbeiten gehen immer wieder von den zeitgenössischen Wirklichkeitskonstruktionen aus, sie sind offen für historische Alternativen und rivalisierende Vorstellungen. Darüber schiebt sich dann aber bald eine klare analytische Ebene. „Abschreckung“ oder „Eindämmung“ sind Kategorien, die Jost Dülffer auch an die internationale Politik des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts anlegt. Bei alldem überschreitet er souverän vermeintliche Barrieren zwischen Innen- und Außenpolitik, Elitenkultur und allgemeinen Mentalitäten, ökonomischen oder kulturellen Momenten. Wer bei den Recherchen für ein neues Projekt auf einen Beitrag von Jost Dülffer stößt, wird diesen vielleicht mit so etwas wie banger Vorfreude zur Hand nehmen. Vorfreude, weil man sicher sein kann, zum Kern des Problems geführt zu werden. Bang wird die Freude vielleicht sein, weil die Chance groß ist, dass von Dülffer das wirklich Wichtige bereits gesagt ist.