Cover
Titel
Umweltgeschichte. Themen und Perspektiven


Herausgeber
Siemann, Wolfram
Reihe
Beck'sche Reihe 1519
Erschienen
München 2003: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
206 S., 34 Abb.
Preis
€ 12,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Albrecht Weisker, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Ob für die Überschwemmungen in Ostdeutschland im vergangenen Jahr, den diesjährigen "Jahrhundertsommer" mit wachsender Waldbrandgefahr oder andere Wetterkapriolen ein umfassender, vom Menschen ausgelöster Klimawandel verantwortlich gemacht werden kann, ist wissenschaftlich umstritten. Selbst wenn gute Argumente offenkundig diese anthropogene Hypothese stützen: Derartige Ereignisse führen zuallererst deutlich vor Augen, dass auch angesichts fortschreitender Naturbeherrschung unsere moderne technische Zivilisation in eine dynamische natürliche Umwelt eingebettet bleibt, die gestern, heute und morgen zu den zentralen Bedingungsfaktoren unserer menschlichen Lebenswelt zählt. Wird die lebensnotwendige Ressource Wasser zum global umkämpften "blauen Gold" des 21. Jahrhunderts? Wie ist unsere Umwelt durch menschliche Eingriffe zur heutigen Kulturlandschaft geworden? Welche Folgen hat das für das Verhältnis von Mensch und Natur? Und welche Chancen haben Forderungen nach einer nachhaltigen Ökonomie der heutigen Industrie- und Konsumgesellschaft angesichts wachsender Müllberge, zunehmenden Flächenverbrauchs und des extremen Energiehungers, den die Blackouts von New York und London jüngst erneut demonstriert haben? Fragen, denen Historiker nicht selten ausweichen, die aber den Aktualitätsbezug der vergleichsweise jungen Disziplin der Umweltgeschichte vergegenwärtigen und unser heuristisches Interesse an der Vergangenheit beeinflussen können.

Natur und Umwelt werden jedoch als Basiskategorien menschlichen Handelns - in vergangener Zeit wie in der Gegenwart - erst seit wenigen Jahrzehnten von der historischen Forschung ernst genommen. Die Umwelthistorie, darauf verweisen Wolfram Siemann und Nils Freytag in ihrem einleitenden Beitrag zu dem vorliegenden Sammelband, ist ein Derivat der Umweltbewegung der 1970er Jahre. Zu den zentralen Absichten des Münchner Neuhistorikers und seines Assistenten zählt es, Umwelt gleichberechtigt als vierte historische Grundkategorie neben Herrschaft, Wirtschaft und Kultur zu etablieren und für die Einsicht zu werben, dass Umweltgeschichte Orientierungswissen liefere (S. 9). Dafür gibt es überzeugende Gründe - und dieser als Taschenbuch in der Beck'schen Reihe erschienene Sammelband führt viele von ihnen an.

Hervorgegangen ist die Publikation aus einer Ringvorlesung, die sich im Sommer 2002 an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität den Erträgen und Perspektiven der Umweltgeschichte widmete. Ihr erklärtes Ziel ist es, "die besten Kenner aus Deutschland und der Schweiz zu vereinen und zugleich ein breites Spektrum natur-und geisteswissenschaftlicher Methoden und Fragestellungen anschaulich vorzustellen" (S. 19). Ohne Frage erfüllt das Buch mit Beiträgen von einer Autorin und neun Autoren unterschiedlicher fachlicher Provenienz diesen Zweck in beispielhafter Weise. Doch der zum derzeitigen Stand der Fachdiskussion präsentierte Pluralismus der Methoden, Ansätze und Fragestellungen wirft im Verbund mit der interdisziplinären Streuung der Beiträge auch Probleme auf. Gerade bei Studienanfängern und Überblick suchenden Interessierten, an die sich das Buch insbesondere wendet, kann dies zu Orientierungsproblemen und der Frage nach dem Fokus der Umweltgeschichte führen.

Ein Beispiel dafür ist der aus geobotanischer und vegetationshistorischer Perspektive geschriebene, weit ausholende Beitrag von Hansjörg Küster über die "wissenschaftliche Botschaft der Umweltgeschichte". Getragen von einem leisen Zorn auf unverständige Ökoapostel und kompromisslose Naturschützer möchte Küster durch Verweis auf erdgeschichtliche Epochen belegen, dass es ein vielfach gefordertes "zurück zur Natur!" nicht geben kann. Zu recht betont er, dass Natur (und damit auch Klima und Vegetation) ständig in Veränderung begriffen sei, Stabilität nie erreicht und Natur somit nur dynamisch begriffen werden könne. Eine wichtige Zäsur für unser mitteleuropäisches Verständnis von Natur erkennt Küster im Verlauf des 18. Jahrhunderts im Umgang mit der zentralen Ressource Holz, die als Energielieferant und Werkstoff unentbehrlich war. Für die prominente Rolle von Wäldern und Forsten speziell in Deutschland - von dem bereits im 18. Jahrhundert geprägten Nachhaltigkeitsbegriff über die Aufforstungspolitik im 19. Jahrhundert bis zur Debatte über das Waldsterben in den 1980er Jahren - macht er vor allem kulturelle Gründe verantwortlich. Dass aber der Umwelthistoriker mit Küster, der für eine strikt naturwissenschaftlich ausgerichtete Ökologie plädiert, den Akzent besonders auf natürliche Schwankungsbreiten dynamisch begriffener Ökosysteme legen sollte, wirkt wenig plausibel. Küster räumt jedoch ein, dass gerade in der Erforschung von sozialen, politischen und mentalen Konstellationen "die zur Herausbildung bestimmter Umwelt- und Naturbegriffe in den letzten Jahrhunderten führten" (S. 38), der genuine Beitrag der Umwelthistorie liegen könnte.

Eine ähnlich ausgreifende "tour d' horizon" unternimmt Rolf Peter Sieferle, der sich mit "Nachhaltigkeit in unversalhistorischer Perspektive" befasst. Im Anschluss an sein Modell verschiedener weltgeschichtlicher Energieregimes wie Jäger- und Sammler- Kulturen oder vormoderne Agrargesellschaften gilt Sieferles Interesse den Auswirkungen derartiger Gesellschaftsformationen auf Biodiversität und Bevölkerungsentwicklung. Selbst wenn diese Gruppen lokal ihre Ressourcen übernutzten, kam es nie zu einer derartigen Problemkumulation, wie sie erst durch die präzedenzlose industrielle Transformation seit rund 200 Jahren hervorgerufen wurde. Deren Merkmal, so Sieferle, sei ihre "prinzipielle und spektakuläre Nicht-Nachhaltigkeit" (S. 57), die ernergetisch insbesondere in der Nutzung (eher sollte man sagen: Vergeudung) fossiler Energieträger wie Kohle, Öl und Erdgas besteht und die, soviel ist klar, dauerhaft nicht aufrechterhalten werden kann. Kein Wunder also, dass sich die Mehrheit heutiger Umwelthistoriker mit den durch die industriegesellschaftliche Moderne hervorgerufenen Umweltbelastungen beschäftigt.

In ähnlicher Weise argumentiert Christian Pfister in seiner Skizze "Zum Stand der Diskussion über das 1950er Syndrom." Erstmalig hatte der Berner Umwelthistoriker 1992 seine These formuliert, dass es sich bei den 1950er Jahren hinsichtlich des globalen Verbrauchs an fossilen Energieträgern und der Akkumulation von Schadstoffen um eine weltgeschichtlich neuartige Zäsur handle. Inzwischen ist dieser Themenkomplex vielfach diskutiert, kritisiert und leicht modifiziert worden, doch hält Pfister an seinen Kernaussagen nach wie vor fest. Für die langfristige Wirksamkeit des "1950er Syndroms" macht er zum einen wachstumsbedingte, zum anderen preisbedingte Effekte verantwortlich und erläutert eindringlich die Folgen für Mobilität, Konsumverhalten und gesellschaftliche Wertvorstellungen: Hätte beispielsweise die Preisentwicklung für fossile Energieträger seit 1950 mit derjenigen anderer Güter oder Dienstleistungen Schritt gehalten, würde ein Flug in die USA heute etwa 7.000 Euro kosten!

Im Mittelpunkt der beiden folgenden Beiträge steht mit dem Ruhrgebiet eine Region, die zu den am schwersten von Umweltproblemen betroffenen Industriegegenden Europas gehörte und deren Erforschung in der Bundesrepublik zugleich an der Wiege der jüngeren Umwelthistoriographie steht. Während Franz Josef Brüggemeier einen kenntnisreichen, aber ein wenig glattgestrichenen Überblick über die "Umwelt im Ruhrgebiet 1800-2000" präsentiert, erzählt Ulrike Gilhaus anhand der Erfahrungen des dezentral organisierten Westfälischen Industriemuseums aus der "Umweltgeschichte in der Praxis" und erläutert die museumspädagogischen Möglichkeiten industriegeschichtlicher Relikte vor Ort. Ohne den so genannten "Ökooptimisten" das Wort zu reden, erkennt Brüggemeier am Beispiel der deutlich verringerten Luftschadstoffbelastungen und anhand des Flusslaufs der Emscher, der zu einer kanalisierten Kloake von unsagbarer industrieller Tristesse mutiert war (wie eine Abbildung auf dem Einband zeigt) und in den vergangenen Jahrzehnten zumindest teilweise renaturiert werden konnte, im Ruhrgebiet auch einen guten "Indikator für das, was möglich ist" ( S. 113), um den ökologischen Schuldenberg der Folgekosten von Fortschritt und Wirtschaftswachstum abzutragen.

Die Historische Geografie als "umwelthistorisches Brückenfach zwischen Geschichte und Geographie" stärker im Bewusstsein zu verankern, ist das Anliegen des Beitrags von Winfried Schenk. Er bietet einen gut strukturierten Überblick über Themen und Anregungspotenziale insbesondere aus dem Spektrum der Anthropogeografie, denen augenblicklich wieder stärker von der Geschichtswissenschaft Beachtung geschenkt wird. Dass neben "Zeit" auch "Raum" eine geschichtliche Grundkategorie bleibt, ist eine Binsenweisheit. Aufgrund seiner semantischen Kontamination im Nationalsozialismus von der Forschung lange gemieden, gewinnt der Raumbegriff jedoch inzwischen wieder an Bedeutung. Von Interesse ist hierbei nicht allein die metaphorische Bedeutung des Raumes als imaginierter, diskursiv begründeter oder konstruierter Kommunikationsraum in der Geschichte - wie das Motto des Kieler Historikertages 2004 unterstreicht - , sondern "Raum" auch in seinen sinnlich wahrnehmbaren, dreidimensionalen, variablen naturräumlichen Ausprägungen der durch menschliche Eingriffe gestalteten Kulturlandschaft.

"Aspekte populären Landschaftsbewußtseins" stellt der Volkskundler Albrecht Lehmann in den Mittelpunkt seines Aufsatzes, der sich auf der Basis von qualitativen lebensgeschichtlichen Interviews der Entstehung eben jenes heutigen Landschaftsbewusstseins und den mentalen Folgen neuartiger Landschaftsentwicklungen zuwendet. Mit Spannung liest man dort vom individuellen Erleben der allermeisten Landschaftsveränderungen zumeist in Form von Verlusterfahrungen und davon, dass unter dem Einfluss von literarischen Topoi Naturwahrnehmung oftmals generalisiert und das Sprechen über die natürliche Umwelt gleichsam festgeschrieben wird, während solcherart beeinflusste romantische Heimatgefühle und Naturaneignungen wiederum eine politische Dynamik entfalten können.

Der abschließende programmatische Essay von Joachim Radkau mit dem Titel "Nachdenken über Umweltgeschichte" entstammt seiner vor drei Jahren erschienenen Weltumweltgeschichte "Natur und Macht". Radkau wirbt einmal mehr dafür, Umweltgeschichte "nicht als Spezialität, sondern als integralen Bestandteil einer 'histoire totale'" zu begreifen (S. 170), denn der Elementarzusammenhang zwischen Mensch und Umwelt sei dadurch gegeben, "daß der Mensch ein biologischer Organismus ist" und dieser innere Zusammenhang zwischen äußerer und innerer Natur des Menschen stets spürbar geblieben sei (S. 171). Zugleich ist dieser Text ein offenes Plädoyer für den Wert interdisziplinärer Neugier und zuweilen wildwüchsigen, mutigen Querdenkens einer an Zusammenhangerkenntnis interessierten Umwelthistorie, die ihre Zukunft noch vor sich haben mag.

Alles in allem: ein Studien-, Einführungs-und Arbeitsbuch im besten Sinne des Wortes. Ein Buch für die Gegenwart zu einem moderaten Preis, das so zuverlässig über wichtige Themenfelder der Umweltgeschichte informiert wie es ungeklärte Fragen unumwunden offen lässt. Anspruch auf Vollständigkeit, das räumt der Herausgeber ein, wird dabei nicht erhoben. Es fehlen z. B. Beiträge zu Naturkatastrophen, einer Geschichte des Lärms oder zu der durch Krankheitserreger hervorgerufenen "l'unification microbienne du monde"; ebenso drängen sich Brückenschläge der Umwelthistorie zu den Folgeproblemen wachsender Tourismus- und Mobilitätsströme geradezu auf. Die Qualität der Abbildungen ist leider zu bemängeln, doch wird der Sammelband erfreulicherweise durch ein ausführliches, themenbezogenes Literaturverzeichnis komplettiert, das dem Novizen auf dem Feld der Umwelthistorie zahlreiche Lektüreanregungen vermittelt. Überzeugend wirken zudem die sieben Schlussseiten des Buches, die in praxistauglicher Weise eine Adressenauswahl zur Umweltgeschichte samt Ansprechpartnern, Telefonnummern und Internetadressen bieten. Gerade für eine Subdisziplin wie die Umweltgeschichte, der nach wie vor ein institutionelles Zentrum in der Bundesrepublik fehlt, ist so etwas im Interesse einer Vernetzung der disparaten Forschungseinrichtungen und Arbeitskreise besonders hilfreich.

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