Cover
Titel
Phantasiereiche. Zur Kulturgeschichte des deutschen Kolonialismus


Herausgeber
Kundrus, Birthe
Erschienen
Frankfurt am Main 2003: Campus Verlag
Anzahl Seiten
327 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karsten Linne, Außenstelle Hamburg-Eppendorf, Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts

Bereits der Untertitel des von Birthe Kundrus herausgegebenen Sammelbands macht deutlich, in welchem intellektuellen Fahrwasser sich die 15 Beiträge bewegen. Sie knüpfen an die, im englischsprachigen Raum bereits seit einiger Zeit einflussreichen, postcolonial studies an und beziehen deren Konzepte auf die Kulturgeschichte des deutschen Kolonialismus. Damit reiht sich der Band in eine immer länger werdende Liste deutscher Neuerscheinungen ein, die sich diesem Ansatz verpflichtet fühlen.

In ihrer Einleitung betont Kundrus den emotionalen und phantastischen Charakter der deutschen Kolonialdiskussion. Der zweite Ansatzpunkt ergibt sich aus den Spuren, die der Kolonialismus in Deutschland hinterlassen hat. Russell A. Berman steuert einen programmatischen Aufsatz bei, in dem er dem deutschen Kolonialismus einen sekundären Charakter attestiert; Deutschland sei der „ewige Zweite“ gewesen, der die Strategien der anderen Kolonialmächte lediglich nachahmte. Antrieb waren nicht ökonomische oder missionarische Gründe, sondern die angestrebte Gleichstellung mit den anderen Kolonialmächten.

Im zweiten Abschnitt zur „politischen Dimension imperialer Entwürfe“ untersucht Christian Geulen das komplexe und spannungsreiche Bedeutungsgeflecht der Kategorien Heimat, Nation und Kolonie anhand der Schriften von Carl Peters. Peters sah in einer „nationalen Kolonialpolitik“ den einzig gangbaren Weg, die inneren Grenzen der Nation zu überwinden. Er war Vertreter eines völkischen Nationalismus, der die Größe der Nation erst herstellen wollte: „Nicht weil man sich als Herrenvolk fühlte, nahm man das Recht für sich in Anspruch, eine koloniale Machtposition zu schaffen, sondern man kolonisierte, um das Gefühl eine Herrenrasse zu sein, zu erzeugen und zu erhalten.“ (S. 48) Peters zeichnete sich, wie alle berühmten realen und fiktionalen Figuren des imperialistischen Zeitalters, durch eine typische Obsessivität aus, eine Rastlosigkeit, bei der Stillstand den Tod zu bedeuten schien.

Helmut Bley analysiert in seinem Beitrag den im Kaiserreich zunehmenden Rechtsradikalismus als Antwort auf die – trotz der wirtschaftlichen Stärke – gescheiterten politischen Illusionen. Die Diskrepanz zwischen Erwartungen und realen Möglichkeiten provozierte ein „Schwanken zwischen Enttäuschung und aggressiver Hybris […], das schließlich zum expansionistischen Perspektivwechsel hin zu Osteuropa beitrug“ (S. 57). Das Dilemma der Kolonialpolitik bestand darin, dass sie als ein enttäuschendes Projekt wahrgenommen wurde.

Mit dem imaginären Ausbau der imperialen Infrastruktur in Deutschland nach 1918 beschäftigt sich Dirk van Laak. Nach dem Ersten Weltkrieg rückten Diskussionen in die akademischen Gleise zurück und konzentrierten sich auf die letzte Phase deutscher Kolonialpolitik, die eine Tendenz zum „wissenschaftlichen“ Zugriff gezeigt hatte. Verkehr und Kommunikation bildeten die Schlüsselbegriffe für die geplante neue Erschließung Afrikas, das in den Phantasien den „natürlichen Ergänzungsraum Europas“ bildete. Ab 1938 setzte eine Pluralität von Planungen ein, die sich ab 1940 noch einmal verstärkte.

Pascal Grosse untersucht die Kolonialmigration in Deutschland seit der Jahrhundertwende. Die Migranten aus den deutschen Kolonien unterschieden sich wegen der deutschen kolonialen Herrschaftsinteressen von anderen „Schwarzen“ der vorkolonialen Zeit und von „Farbigen“ aus anderen Ländern; ihre Existenz blieb an die wechselhafte deutsche Kolonialpolitik gebunden. Das Leben der Kolonialmigranten schwankte zwischen öffentlicher Inszenierung und Ausschluss von der politischen Öffentlichkeit. Ihr Auftreten in so genannten Völkerschauen nahm solche Ausmaße an, dass die deutsche Kolonialverwaltung 1901 sogar ein „Ausfuhrverbot von Eingeborenen aus den deutschen Kolonien zum Zwecke der Schaustellung“ erließ.

Birthe Kundrus analysiert die Beziehungen der kolonialen „Mischehenverbote“ zur späteren nationalsozialistischen Rassengesetzgebung. Einige Historiker sehen hier eine direkte Kontinuität zwischen Kaiserreich und Drittem Reich; Kundrus verweist demgegenüber auf die Unterschiedlichkeit der Feindbilder. Die Nationalsozialisten entwickelten kein in sich geschlossenes Sonderrecht für Afrikaner. Auch der oft ins Feld geführte Anthropologe Eugen Fischer taugt laut Kundrus nicht als Kronzeuge für eine ideelle und personelle Kontinuität. Der Entwurf des „Kolonialblutschutzgesetzes“ von 1940 stand ganz in der Tradition des Denkens in rassenanthropologischen Stereotypen.

Im dritten Teil, der um die Fixpunkte „Kultur, Rasse, Geschlecht“ kreist, widmet sich David M. Ciarlo den Wandlungen von der exotischen zur kolonialen Imagination in der Bildreklame des Kaiserreiches. In der Zeit bis zum Ersten Weltkrieg dominierte bei der Darstellung von Afrikanern die Subordination; sie wurden in Szenen präsentiert, die koloniale Unterwerfung zeigten oder diese evozierten. Um 1900 tauchten verstärkt Bilder von Afrikanern auf, die sich radikal vom Bild des „Mohren“ unterschieden, ebenso etablierte sich immer stärker das Bild des Lastenträgers. Zur fortschreitenden Rassifizierung des Afrikaner-Bildes gehörte ihre Darstellung mit besonders großen Lippen, krausem Haar, weit geöffneten weißen Augen etc.

Sibylle Benninghoff-Lühl lotet aus, wie Angehörige unterschiedlicher Professionen, Theologen, Großwildjäger, Naturforscher und Künstler in den Gesichtern von Tieren „lasen“. Als Referenzbeispiel hat sie die Interpretation der Gesichter von Affen gewählt. Die Suche nach dem Eigenen im Fremden, die Identitätsvergewisserung, konstituierte hier eine Ähnlichkeit mit dem Menschen, zugleich wurde aber die Differenz betont.

Lora Wildenthal untersucht die Frauenorganisationen in der deutschen Kolonialbewegung des Kaiserreiches. Bis zur Jahrhundertwende spielten Frauen in der männerdominierten Kolonialbewegung nur eine untergeordnete Rolle. Danach gelang es einigen Tausend Frauen dort einen festen Platz zu erhalten, indem sie ihre männlichen Mitstreiter von der dringend erforderlichen Anwesenheit der deutschen Frauen in den Kolonien überzeugt hatten. Der Frauenbund der Deutschen Kolonialgesellschaft wollte „die weibliche Kolonistin als notwendige kulturelle, wirtschaftliche und politische Partnerin des Kolonisten“ etablieren (S. 206). Die Frauen nutzten die Rhetorik der „rassereinen“ Bevölkerungspolitik und unterstrichen die kulturprägende Kraft der Frau, die erst für „wahrhaft deutsche“ Kolonien sorgen würde.

Lene Haases Roman „Raggys Fahrt nach Südwest“ bildet den Untersuchungsgegenstand des Beitrags von John K. Noyes. Der 1910 erschienene Roman hatte ein zentrales Motiv: die „Kulturarbeit“. Das Handeln der Protagonistin verweist einerseits kritisch auf die Strukturen der patriarchalen Gesellschaft, stellt sich jedoch als besonders unangemessen für die koloniale Welt heraus. Bildung wird als Störung der Geschlechterrollen dargestellt, als entzweiende Kraft in der Kolonialideologie. „Der Kulturtransfer, eines der Herzstücke des Siedlungskolonialismus, wird angesichts der Antinomien von sozialen, geographischen und geschlechtlichen Grenzüberschreitungen unmöglich.“ (S. 237)

Im vierten Abschnitt stehen die „Kolonialen Imaginationen auf dem Prüfstand“: Christian Rogowski analysiert die Widersprüche im Kolonialrevisionismus der Weimarer Republik. Zwischen Kolonialbewegung, Reichsregierung und Wirtschaft, kam es aufgrund der engen Verflechtung häufig zu Spannungen, da die Perspektiven im Hinblick auf ideologische Prämissen, Zielsetzungen und Vorgehensweisen nicht immer zusammenpassten. Nach der Rehabilitierung Deutschlands 1925 auf der Konferenz von Locarno geriet die Kolonialfrage in der Außenpolitik zu einer delikaten Angelegenheit. Symbol für die schwierige Position der Kolonialbewegung war das Scheitern der groß inszenierten „Hamburger Kolonialwoche“ von 1926, die mit ihren überkommenen Formen und Inhalten nicht mehr die breite Bevölkerung erreichte.

Wolfgang Struck untersucht die Beziehungen zwischen Kolonialismus und Abenteuerfilm nach dem Ersten Weltkrieg. Die „exotistischen“ Filme gehörten zu den erfolgreichsten Bereichen populärkultureller Phantasieproduktion in dieser Zeit. Der Streifen „Die Herrin der Welt“ von 1919 war ein typischer Abenteuerfilm mit allen Ingredienzien des Genres. Der Exotismus bildete hier „ein Medium, wirkungsmächtige Stereotype des wilhelminischen und insbesondere des kolonialistischen Kulturmodells aufzuweichen“ (S. 277). Auf der anderen Seite bediente sich der Film aus dem Fundus kolonialliterarischer Motive und offenbarte so ein gespanntes Verhältnis zwischen der exotistischen Abenteuernarration und der „Erzählung der Kolonie“, für die fremde Kultur immer nur etwas zu Überwindendes oder zu Unterwerfendes sein konnte.

Eve Rosenhaft widmet sich den Afrodeutschen in der Weimarer Republik, deren politische Betätigung bislang kaum untersucht wurde. Das Ende des deutschen Kolonialismus schuf einen Raum für die antikoloniale Selbstmobilisierung Afrodeutscher, die zunächst durch ambivalente Loyalitäten geprägt war. Ab 1926 kam es – unter Beteiligung Afrodeutscher – zur Gründung mehrerer Organisationen, die sich kritisch mit Imperialismus und Kolonialismus auseinandersetzten. An der Kampagne zur Rettung der US-amerikanischen „Scottsboro Boys“ 1931/32 nahmen ebenfalls Afrodeutsche teil, hier galten sie bei ihren Auftritten als Experten für „Neger“ schlechthin. Die Anpassung an rassistische Phantasien verweist auf die „spezifische Doppelbödigkeit afrodeutschen Lebens“; im Dreieck Amerika-Afrika-Europa fand ein „gemeinsamer, interferenter Selbstfindungsprozess“ statt (S. 297).

Im fünften Teil zeichnet Alexander Honold die „koloniale mental map als Straßennetz“ am Beispiel der Straßennamen im Afrikanischen Viertel in Berlin nach. Die Benennungen begannen in Folge der „Ersten deutschen Kolonialausstellung“ 1896 in Berlin, die eine Faszination für die Schutzgebiete hervorrief. Der Boom des Afrikanischen Viertels wurde durch Carl Hagenbecks Pläne ausgelöst, der ein großes Freigelände für wilde Tiere und exotische Völkerschauen in den Berliner Rehbergen einrichten wollte. Er legte diesen Plan mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu den Akten, und erst die Mitte der zwanziger Jahre zunehmende Bautätigkeit brachte ab 1927 einen neuen „Benennungsschub“ (S. 315). An diesem Instrument politischer Gedächtnis-Lenkung zeigen sich die Nachwirkungen des Kolonialismus, die „memoriale Aufrechterhaltung der afrikanischen Expansionen des früheren Reiches“ (S. 317).

Die Qualität der einzelnen Beiträge ist sehr unterschiedlich – das ist bei einem Sammelband die Regel und daher nicht weiter erwähnenswert. Wichtig bleibt jedoch festzuhalten, dass sie in unterschiedlichem Maße einer kulturgeschichtlichen Herangehensweise verpflichtet sind. Die Heterogenität ist kein Nachteil, zeigen sich doch in einigen Fällen die Grenzen einer Methode, die auf Codes, Bedeutungen, Projektionen und Präsentationen rekurriert. Entweder beschäftigen sich diese Beiträge mit wenig repräsentativen Beispielen (Noyes) oder kommen trotz gewaltigen Wortgeklingels zu eher bescheidenen empirischen Ergebnissen (Benninghoff-Lühl). Positiv davon heben sich – neben dem Aufsatz von Rosenhaft, in dem die Kolonisierten ausnahmsweise als handelnde Subjekte auftauchen – die Aufsätze von Ciarlo und Honold ab; wohl auch deshalb, weil sie auf vergleichsweise neuen Quellen aufbauen (Warenzeichenblätter und Straßennamen). Insgesamt ergibt sich ein buntes Potpourri, aus dem man gleichwohl erfahren kann, wie der Anschluss an die postcolonial studies hierzulande geprobt wird.

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