F. M. Kuhlemann u.a. (Hgg.): Beruf und Religion

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Titel
Beruf und Religion im 19. und 20. Jahrhundert.


Herausgeber
Kuhlemann, Frank Michael; Schmuhl, Hans Walter
Reihe
Konfession und Gesellschaft 26
Erschienen
Stuttgart 2003: Kohlhammer Verlag
Anzahl Seiten
332 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Hirschfeld, Institut für Geschichte und Historische Landesforschung, Hochschule Vechta

„Professionalisierung – oder doch wenigstens Verberuflichung – war ein Schlüssel zur Bewältigung der Moderne“. Dieser Satz in der Einleitung der Herausgeber Frank-Michael Kuhlemann und Hans-Walter Schmuhl bringt die Intention dieses Sammelbandes treffend zum Ausdruck. Es geht um Transformationsprozesse der Konfessionen in Deutschland vor dem Hintergrund der Ausprägung einer modernen Industriegesellschaft seit der Französischen Revolution, die unter dem Leitgedanken eines sich ausdifferenzierenden und spezialisierenden kirchlichen Berufswesens untersucht werden sollen. Auf der Folie eines sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Zugriffs, der in den letzten Jahren zunehmend auch Profanhistoriker auf die Spuren kirchlich-gesellschaftlicher Beziehungen geführt hat, bündeln Kuhlemann und Schmuhl 16 Beiträge von Historikern, Theologen, Sozial- und Politikwissenschaftlern, die sich mit einzelnen Personengruppen im kirchlichen Umfeld beschäftigt haben, wobei die jüdische Religion sinnvollerweise mit eingeschlossen ist, zumal hier im Zuge der Assimilierung aus Perspektive der Modernisierungstheorie ein paralleler Prozess zu den christlichen Konfessionen erkennbar ist. Katholische Priester und protestantische Pastoren, jüdische Rabbiner und Lehrer, Kirchenmusiker und Lehrer beider Konfessionen, Diakonissen und Ärzte, katholische Arbeitersekretäre und evangelische Journalisten sind es, deren Berufsgeschichte sich hier in jeweils zwei Jahrhunderte bis zur Gegenwart umspannenden Längsschnitten wiederfinden, sinnvoll unterteilt in vier Sektionen: I. Verkündigung, II. Schule, Bildung und Musik, III. Diakonie und Medizin und IV. Öffentlichkeit und Politik.

Wie komplex das Feld kirchlicher Berufe geworden ist, macht erst der Blick auf die in diesem Sammelband nicht berücksichtigten kirchlichen Berufe deutlich, die Kuhlemann und Schmuhl in ihrer Einführung (S. 11) knapp benennen: Ordensschwestern, Diakone und Missionare, Küster und Fürsorgerinnen, Pastoral- und Gemeindereferent(inn)en usw. Dabei bleiben sie jedoch die Erklärung schuldig, weshalb sie etwa keinen Beitrag über die katholischen Kongregationen aufgenommen haben, die gerade auf dem Sektor der Krankenpflege im 19. Jahrhundert gleichsam wie Pilze aus dem Boden schossen und angesichts ihrer Wirkungskraft und gesamtgesellschaftlichen Bedeutung eine repräsentative Darstellung verlangt hätten.

Überhaupt enthält der Sammelband ein Übergewicht „evangelischer“ Beiträge, das vornehmlich im Abschnitt III (Diakonie und Medizin) zutage tritt. Hier stehen vier Aufsätze zu Diakonissen (Ruth Felgentreff), Freier Hilfsschwesternschaft in der Diakonie (Kerstin Winkler), evangelischer Wohlfahrtspflegerin (Petra Brinkmeier) und evangelischer Gemeindehelferin (Silvia Lange) in einer Reihe ohne ein dem ökumenischen Charakter der Reihe „Konfession und Gesellschaft“ entsprechendes Pendant.

Sicherlich gab es unter der Fragestellung der Professionalisierung manche konfessionsübergreifende Parallelen in den einzelnen karitativen Berufen, wie der Mitherausgeber Schmuhl im fünften Aufsatz dieses Blocks „Ärzte in konfessionellen Kranken- und Pflegeanstalten 1908 – 1957“ konstatiert. So lautet dann auch knapp formuliert ein Fazit des Sammelbandes, dass die Professionalisierung schließlich infolge von Interessenkonflikten zum Aufbrechen hierarchischer und patriarchalischer Strukturen und letztlich zu einer Emanzipation und Ausdifferenzierung der kirchlichen Berufe führte. Inwieweit hingegen ein bürgerlich-liberales protestantisches Milieu dieser Entwicklung nicht eher Vorschub leistete als das katholische Milieu bleibt wenig konkret, weil direkte Vergleichsperspektiven in dieser Studie fehlen.

Allein deshalb wären die Herausgeber vor der Folie des insgesamt begrüßenswerten ökumenischen Konzepts der Reihe „Konfession und Gesellschaft“ gut beraten gewesen, auf eine stärkere Ausgewogenheit der behandelten großen Konfessionen zu achten. Dann hätte auch vermieden werden können, dass der auf den ersten Blick konfessionsübergreifend anmutende Beitrag über „Journalismus als Beruf“ (Michael Schibilsky/Roland Rosenstock) bei genauerer Betrachtung eben nur die Entwicklung von evangelischen „Presspfarrern“ bis zum eingestellten „Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt“ nachzeichnet. Es ist aber keineswegs nur Paritätsdenken, welches dieses Desiderat ein wenig schmerzlich empfinden lässt, sondern auch das Wissen um den im katholischen Milieu anders gelagerten Ursprung kirchlichen Journalismus. Letzterer ist dort nicht erst um 1900 entstanden, sondern hat seine Wurzeln schon in den Kölner Wirren und allemal im Kulturkampf als einigendes Band einer sich gesellschaftlich zurückgesetzt fühlenden Minderheit.

Nur exemplarisch soll dieser Hinweis deutlich machen, dass eine vergleichende Betrachtung des Professionalisierungsprozesses in den Kirchen durchaus an Grenzen stößt, die Kuhlemann und Schmuhl letztlich auch erkannt haben, wenn sie eingangs explizit davor warnen, dass die Professionalisierungsforschung sich „der fundamentalen Differenzen zwischen einzelnen Berufen innerhalb der Milieus sehr bewusst bleiben und sich nicht vorschnell auf eine [...] beliebte Vorstellung von der ‚professionalization of everyone´ einlassen“ (S. 24) sollte. So überzeugend die Herausgeber ihr theoretisches Konzept auch auf 20 Seiten Einführung in alle Richtungen differenziert ausgelotet und innerhalb der Modernisierungstheorie verortet haben, so problematisch erweist sich die Umsetzung ihres Vorhabens in der Praxis, wenngleich bei den Autoren das Bemühen erkennbar ist, den Leitgedanken der Professionalisierung zu verfolgen.

Vielleicht ist dieses den Beiträgern aufgegebene gemeinsame methodische Rüstzeug aber auch gerade die Ursache dafür, dass ihnen ihre in den Blick genommene Teilgruppe – untermauert durch einen strukturalistischen Zugriff – zu einer in Ellenbogenmentalität agierenden „pressure group“ mutiert. Eines wird nämlich in den Einzelbeiträgen kaum deutlich: Der von Kuhlemann und Schmuhl einleitend angerissene Terminus „Berufung“ in seiner theologisch-heilsgeschichtlichen Dimension. In Thomas Schulte-Umbergs ansonsten analytisch scharfer Abhandlung über die Professionalisierung des katholischen Klerus am Beispiel des Bistums Münster – einer Zusammenfassung seiner Dissertation - also bei einem kirchlichen Beruf, wo man am ehesten eine Berufung vermuten würde – sucht man diesen Hinweise zur Berufung vergebens. Aber auch in vielerlei anderen kirchlichen Berufen prägt zweifelsohne eine wie auch immer geartete Berufung das Selbstverständnis und ist möglicherweise die Ursache von Nipperdeys Erkenntnis, dass Religion auch in der modernen Welt „ein Stück Deutungskultur“ (vgl. S. 9) geblieben sei.

Allerdings müssen Kuhlemann und Schmuhl dieses angesichts der gleichzeitig beobachteten massiven Säkularisierungstendenzen positive Resultat mit Staunen quittieren, da sie den theoretischen Ansatz des Soziologen Hannes Siegrist von der besonderen Bedeutung des gesellschaftlichen Status für den Beruf favorisieren (vgl. S. 13). Der Erkenntnishorizont hat demnach in Richtung Emanzipation und nicht in Richtung Berufung zu weisen, auch wenn – wie Annette Drees in ihrem Beitrag „Profilierungsbestrebungen katholischer Lehrerinnen Anfang des 20. Jahrhunderts“ aufzeigt – das Berufsethos einer bestimmten Gruppe von dem als Berufung angesehenen und freiwillig gewählten Lehrerinnenzölibat bestimmt war. In der Lesart der „gender studies“ wird hieraus jedoch ein Professionalisierungskennzeichen im Sinne einer „Sicherung des Marktmonopols“ (S. 125). Fraglich erscheint nur, ob diese Begründung aus dem persönlichen Erleben einer in einem religiös geprägten Lebensumfeld beheimateten Lehrerin in dieser Ausschließlichkeit Geltung beanspruchen kann.

Mit diesen kritischen Anfragen soll keineswegs in Abrede gestellt werden, dass gesellschaftlich begründete Verhaltensmuster Handlungsweisen im kirchlichen Raum stark geprägt haben. Dies belegen nicht zuletzt die stark konfessionell bestimmten Handlungsweisen der vier Beamten des Westfälischen Landesjugendamtes, die Markus Köster in seinem Aufsatz nachzeichnet. Kösters Beitrag erweist sich im übrigen zugleich deplaziert wie auch richtungweisend: Ersteres aufgrund der Behandlung einer Berufsgruppe, die nicht unmittelbar im kirchlichen Dienst steht und Letzteres mit Blick auf politisch-gesellschaftlich exponierte Gruppen, z.B. christliche Politiker, die Berührungsfelder mit Religion und den Kirchen aufweisen und unter der Leitidee des Sammelbandes ebenfalls in den Blick genommen und eine ergiebige Projektionsfläche ergeben könnten. Insofern eröffnet der Band neue Perspektiven und gibt zahlreiche Anreize für eine weiterführende Verknüpfung von Professionalisierungsforschung auf der einen und kirchlicher Zeitgeschichtsforschung auf der anderen Seite. Wenn auch die Professionalisierung einen ernst zu nehmenden Faktor für die Entwicklung kirchlicher Berufe darstellt, so sollte sie in diesem Kontext doch nicht absolut gesetzt werden, sondern der Erkenntnis Raum gewähren, dass die Dimension kirchlicher Berufe (und eben Berufungen) vielschichtiger und mehrdimensionaler ist, als dieser Sammelband sie im Kontext modernisierungstheoretischer Konzeptionen präsentieren kann. Eine solche Sensibilität in der Feinstruktur hätte der Wirkungskraft einer Synthese der beiden Segmente Beruf und Religion gut getan.

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