J.-H. Kirsch: Nationaler Mythos oder historische Trauer?

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Titel
Nationaler Mythos oder historische Trauer?. Der Streit um ein zentrales "Holocaust-Mahnmal" für die Berliner Republik


Autor(en)
Kirsch, Jan-Holger
Reihe
Beiträge zur Geschichtskultur 25
Erschienen
Köln 2003: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
400 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nina Leonhard, Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr, Strausberg

Mit dem Beschluss des Deutschen Bundestages im Juni 1999, ein „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ in Berlin zu errichten, scheint eine über ein Jahrzehnt andauernde öffentliche Debatte vorerst beendet worden zu sein. Nun hat sich die Wissenschaft dieser Thematik angenommen: Nach verschiedenen Dokumentationen zum Mahnmalsstreit und einer ersten Dissertation1 ist Anfang diesen Jahres eine weitere Arbeit erschienen. Jan-Holger Kirsch, der bereits eine Reihe von Rezensionen zu diesem Themenbereich für H-Soz-u-Kult verfasst und damit bereits einen „Vorgeschmack“ auf seine eigenen Untersuchungen gegeben hat2, hat damit an der Universität Witten/Herdecke bei Jörn Rüsen promoviert.

Kirsch geht es in seiner Studie um mehr als um eine genaue Darstellung des Verlaufs der Kontroverse um das sogenannte „Holocaust-Mahnmal“. Ausgehend von der Annahme, dass „ein differenziertes historisches Erinnern für das Selbstverständnis der deutschen Gesellschaft weiterhin notwendig ist“ (S. 3), hat er sich das Ziel gesetzt, aus „kulturtheoretischer“, „geschichtsdidaktischer“ und „erinnerungsethischer Perspektive“ Antworten auf weiterführende Fragen zu entwickeln, welche die „Prozesse der Transformation“ der Erinnerung an den Holocaust, geeignete „Zugänge zur NS-Vergangenheit“ sowie einen „zukunftsfähige[n] Umgang“ damit betreffen (ibid.): Angesichts der Zäsur von 1989/90 geht es darum, am Beispiel des Mahnmalsstreits zu untersuchen, „welchen Stellenwert die NS-Zeit in der Berliner Republik erhalten könnte bzw. bereits erhalten hat“ (S. 27). Daneben sollen die Möglichkeiten und Hindernisse einer „historischen Trauer“, verstanden als Leitbild eines angemessenen Modus des Gedenkens an die NS-Zeit, herausgearbeitet werden (S. 18): „Um der Sinnlosigkeit der NS-Verbrechen standhalten zu können, sind Praktiken der Trauer schlechterdings unverzichtbar“ (S. 13). Kirsch wendet sich damit gegen die in der deutschen Zeitgeschichtsforschung seit Jahrzehnten vorherrschende Position, nach der sich „die moralische Botschaft des Nationalsozialismus aus sachlicher Quellenarbeit gleichsam von selbst ergebe“ (S. 4). „Historische Trauer“, die den Bruch des Vertrauens „auf der Grundlage der Humanität“ (S. 14) zum Inhalt habe, könnte dagegen auf allen Ebenen der historischen Repräsentation wirksam werden, „nämlich dort, wo die Bemühungen des wissenschaftlichen Erklärens, des ästhetischen Ausdrucks und des politischen Handelns an Grenzen stoßen.“ (S. 13).

Die Untersuchung besteht aus fünf Teilen: Nach einer einführenden Vorstellung der Zielstellung und des theoretischen Rahmens folgt ein Überblick über die geschichtspolitischen Debatten in den 1990er Jahren, die den Hintergrund der Mahnmal-Kontroverse bilden. In Kapitel III werden die Etappen der Kontroverse von ihren Anfängen 1988 bis Ende der 1990er Jahre nachgezeichnet und die wesentlichen Konfliktlinien sowie die Rolle der verschiedenen daran beteiligten Akteure herausgearbeitet. Kirsch stützt sich hierbei auf die Auswertung der in sieben wichtigen Tages- und Wochenzeitungen erschienenen Artikel zu diesem Thema. In Teil IV erfolgt eine Analyse der künstlerischen Entwürfe für das „Holocaust-Denkmal“. Im letzten Kapitel werden die wichtigsten Ergebnisse mit Blick auf die übergeordnete Fragestellung diskutiert.

Positiv herauszustellen ist zunächst, dass es sich um eine klar strukturierte, trotz der hohen Anzahl von Zitaten gut lesbare Arbeit handelt. „Zwischenbilanzen“ am Ende der einzelnen Abschnitte, in denen die wichtigsten Ergebnisse und Thesen des Autors zusammengefasst werden, erleichtern es, dem Argumentationsgang zu folgen. Darüber hinaus umfasst der Anhang neben dem umfassenden Literaturverzeichnis eine Chronologie der Mahnmal-Debatte sowie ein Personenregister.

In der Analyse der Kontroverse (Kapitel III) werden geschichtspolitisch interessierte Leser, die den Mahnmalsstreit selbst verfolgt haben, viel Bekanntes erfahren, aber auch eine Reihe neuer Einblicke gewinnen. So stellt Kirsch die „Pfadabhängigkeit“ des Gedenkens heraus, das „ebenso auf vorangegangenes Gedenken wie auf die erinnerte Vergangenheit selbst“ reagiert (S. 87/88): Die Idee für ein zentrales „Holocaust-Mahnmal“ sei ohne den „Historikerstreit“ und den „Skandal“ um die Rede des damaligen Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger, aber auch ohne die Planungen für ein Deutsches Historisches Museum in Berlin gar nicht möglich gewesen. Als die entscheidende Zäsur im Verlauf der Kontroverse identifiziert Kirsch das Jahr 1992. Denn der Bürgerinitiative um die Journalistin Lea Rosh, von welcher der Anstoß für ein Mahnmal ausging, hatte ab diesem Zeitpunkt erreicht, dass sich die Regierung Helmut Kohl „ihr Ziel zu eigen machte“. Das private Engagement ging nun „zumindest teilweise in die Sphäre der Staatsrepräsentation über und erhielt dadurch einen anderen Stellenwert“ (S. 90).

Insgesamt, so lautet das erstes Fazit, spielte die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit beim Streit um das „Holocaust-Mahnmal“ nur eine nachgeordnete Rolle. Seine eigentliche Bedeutung besteht somit in einer „Neudefinition ‚nationaler Identität’ im vereinten Deutschland“ (S. 125) – und genau daran macht Kirsch das Charakteristische der „Berliner Republik“ fest: „Bekenntnisse zur Nation und Bekenntnisse zur historischen Schuld“ werden im vereinigten Deutschland „nicht mehr als Widerspruch empfunden“ (S. 317).

Der zweite Schwerpunkt des Buches liegt auf den künstlerischen Entwürfen. Kirsch betont zu Recht, dass eine aussagekräftige Analyse von Denkmalskonflikten auf der historisch-politischen wie auf der ästhetischen Ebene zugleich ansetzen muss und es gerade darauf ankommt, das Verhältnis dieser beiden Ebenen zu untersuchen (S. 42). Nach einem Überblick über alle eingereichten Entwürfe untersucht er anhand eines fünf Punkte umfassenden Kategorienkatalogs, der die Zwecke, die ein zentrales „Holocaust-Mahnmal“ erfüllen könnte oder sollte, beinhaltet, vier Vorschläge im Einzelnen: die Entwürfe der „Sieger“ des ersten und zweiten Wettbewerbs, die sogenannte „Grabplatte“ der Künstlergruppe um Christine Jackob-Marcks und das „Stelenfeld“ von Peter Eisenman (zu Beginn mit Richard Serra), sowie die Konzepte von Horst Hoheisel (Zerstörung des Brandenburger Tors) und Renata Stih/Frieder Schnock („Bus Stop“). Seine Kritik an der letztlich vom Bundestag ausgewählten Lösung von Eisenman, die zu sehr auf das Sakrale abhebe und den Holocaust als „außerweltliche Erfahrung“ mystifiziere (S. 312), erscheint danach ebenso nachvollziehbar wie sein positives Urteil über den „Bus Stop“-Entwurf, der am ehesten geeignet sei, verschiedene Funktionen des Erinnerns gleichwertig miteinander zu verbinden.

Erstmals wird hier nun auch die Problematik der Trauer anhand des empirischen Materials thematisiert, indem die „expliziten und impliziten Vorstellungen von Trauer“ herausgearbeitet werden, auf denen die künstlerischen Entwürfe beruhen. Nach Kirschs einleitendem Plädoyer für eine stärkere Berücksichtigung der „affektiven Faktoren des historischen Erinnerns“ (S. 4) hätte man allerdings – gerade auch für die publizistische Debatte – eine genauere Untersuchung der Bedeutung emotionaler Aspekte erwarten können. So bestechend Kirschs Analyse des Erinnerungswandels seit 1989/90 zudem erscheint, und so sehr auch die anhand der Denkmalsentwürfe diskutierten Dimensionen des Vergangenheitsbezugs einleuchten – letztlich stellt sich doch die Frage, was das alles mit dem Leitbild der historischen Trauer zu tun hat. Wie und wo historische Trauer konkret „stattfinden“ könnte und wer eigentlich ihre Träger sein sollten, geht aus Kirschs Ausführungen nicht hervor.

Tatsächlich wird die Bedeutung des Trauer-Konzeptes erst dann verständlich, wenn man Kirschs grundlegende Kritik am gegenwärtigen Umgang mit NS-Vergangenheit in Betracht zieht: Die Hauptgefahr für die Erinnerung an den Nationalsozialismus drohe weniger von gesellschaftlichen Vergessensgründen oder politischen Relativierungen als vielmehr von plakativen Schuldbekenntnissen, die dem Holocaust „mythische Qualität verleihen“ (S. 43.). Genau dem könne historische Trauer entgegenwirken. Mit dieser in der Einleitung getroffenen Feststellung nimmt Kirsch sein Schlussfazit bereits vorweg, wo er feststellt, dass sich der gegenwärtige und zukünftige Umgang mit der NS-Vergangenheit nicht mehr zwischen Polen von Erinnern und Vergessen, sondern vielmehr zwischen „Mythisierung und Historisierung der NS-Vergangenheit“ bewege (S. 318). Hier könne historische Trauer, verstanden als eine ausgewogene Balance zwischen rituellem Gedenken und historischem Wissenserwerb (S. 320), einen angemessenen Mittelweg darstellen.

Solche Überlegungen verdienen es sicherlich, weiterverfolgt zu werden. In der vorliegenden Arbeit geschieht das allerdings nicht in dem Maße, wie man es nach der Lektüre der Einleitung hätte annehmen können. Das freilich ändert nichts daran, dass Jan-Holger Kirsch eine äußerst erhellende und lesenswerte Analyse sowohl der publizistischen Kontroverse um das „Holocaust-Mahnmal“ als auch der beiden künstlerischen Wettbewerbe vorgelegt hat. Er hat damit einen klaren Standpunkt sowohl zur Erinnerungspraxis der „Berliner Republik“ als auch hinsichtlich der Frage nach einer angemessenen zukünftigen Erinnerung an den Nationalsozialismus eingenommen, und das allein verdient Respekt.

Anmerkungen:
1 Stavginski, Hans-Georg, Das Holocaust-Denkmal. Der Streit um das „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ in Berlin (1988-1999), Paderborn 2002.
2 Siehe http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=67; http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=2209; http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/ZG-2003-1-070.

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