R. Dutschke: Jeder hat sein Leben ganz zu leben

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Titel
Jeder hat sein Leben ganz zu leben. Die Tagebücher 1963-1979


Autor(en)
Dutschke, Rudi
Herausgeber
Dutschke, Gretchen
Erschienen
Anzahl Seiten
430 S.
Preis
€ 22,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Kraushaar, Hamburger Institut für Sozialforschung

Im Laufe des Jahres 1967 tauchten einige Namen zumeist außergewöhnlich junger SDS-Studenten in den Medien auf. Doch nur einer ist mit der damaligen Bewegung so sehr in eins gegangen, dass er fast zu ihrem Synonym wurde. Mit seinem Namen ist die Revolte der Studenten mehr als nur verbunden – er ist seine Zuspitzung, Verdichtung, ja Personifizierung. Insbesondere durch das Attentat vom Gründonnerstag 1968 ist Rudi Dutschke auch zu einem Objekt der Zeitgeschichte geworden. Der Scheitelpunkt seiner Biografie ist zugleich der Kulminationspunkt der wohl schärfsten Infragestellung gewesen, die die bundesdeutsche Nachkriegsdemokratie seinerzeit erlebt hat.

Es fehlt nicht an biografischen und auch nicht an autobiografischen Schriften, um Dutschkes Herkunft aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, seine Kindheit im brandenburgischen Luckenwalde, seine Jugendzeit in der DDR, seine Studentenzeit nach dem Mauerbau in West-Berlin und seine Rolle als charismatischer Wortführer der antiautoritären Revolte im Kontext der geteilten Stadt besser begreifen zu können. Als Erstes ist an dieser Stelle der 1981 posthum erschienene Band „Aufrecht gehen“ zu nennen.1 Der Text war 1977/78 zunächst für einen von Fritz J. Raddatz herausgegebenen Sammelband verfasst worden, konnte dort wegen seines Umfangs jedoch nur zu einem kleineren Teil publiziert werden.2 Maßgeblich sind zudem die drei Biografien von Ulrich Chaussy, Jürgen Miermeister und Gretchen Dutschke, die das bislang bekannte Bild wesentlich mitgeprägt haben.3

Besonders gespannt durfte man nun auf die Veröffentlichung von Dutschkes Tagebüchern sein, weil sie nicht nur Aufschluss über die wichtigsten Stationen seiner politischen Biografie zu geben versprachen, sondern auch stärkeren Einblick in die privaten Beziehungen und die psychische Dimension seiner exponierten öffentlichen Rolle. Doch zu hohe Erwartungen werden bereits bei einem ersten genaueren Hinsehen enttäuscht. Denn der für die Jahre von 1963 bis 1979 angegebene Zeitraum ist in seiner Kommentierung nicht nur extrem unausgewogen, sondern auch mit gravierenden Lücken behaftet. So fehlen etwa Notizen aus den Jahren 1972 und 1976 vollständig. Für das Jahr 1966 existieren lediglich zweieinhalb Seiten, und für die politisch entscheidende Phase vom 2. Juni 1967 bis zum 11. April 1968, dem Tag des Attentats, finden sich gerade einmal 30 Seiten. Hauptereignisse fehlen entweder ganz oder werden so kärglich behandelt, dass sie keine weiteren Aufschlüsse bieten. Vielerlei Nebensächlichkeiten nehmen dagegen breitesten Raum ein. Am überraschendsten ist vielleicht, dass sich über die Zeit der Schleyer-Entführung von 1977, den so genannten Deutschen Herbst, so gut wie keine Zeile finden lässt. Für die Gründe dieser Sprachlosigkeit gibt es im Übrigen keine Anhaltspunkte.

Den weitaus größten Raum nimmt Dutschkes dritte und letzte Lebensphase ein – die von Rekonvaleszenz, Exil und politischem Neuanfang geprägten Jahre nach dem Attentat. Die Lektüre dieser Notizen erweist sich mitunter als überaus quälend. Gleichwohl sind diese Abschnitte besonders erhellend. Sie lassen vor allem einen Dutschke hervortreten, der sich sehr viel stärker als zuvor mit seinem Privatleben, wie der Erziehung seiner Kinder, auseinandersetzt, der zunehmend Probleme mit seiner Ehe hat und in seinen Wirkungsfeldern durch die physiologischen Folgen seiner Hirnverletzungen stark eingeschränkt, zum Teil auch empfindlich gestört ist – zum einen durch die fortwährende Angst vor epileptischen Anfällen, die er nie richtig unter Kontrolle bekommt und die schließlich auch am Heiligabend 1979 zu seinem tragischen Tod führen; zum anderen durch die psychischen Probleme, die ihm fortwährend zu schaffen machen und sich besonders in einem ausgeprägten Verfolgungswahn manifestieren. Auch wenn in Rechnung zu stellen ist, dass Dutschke ganz handfeste Gründe hat, sich von östlichen wie von westlichen Geheimdiensten verfolgt zu fühlen,4 so ist das Ausmaß, das die von ihm geschilderten Bedrohungsszenarien angenommen haben, mit Realangst nicht mehr zu erklären. In diese paranoide Grundstimmung ist auch der 1974 kulminierende Konflikt mit seinem Freund, Weggefährten und Konkurrenten Bernd Rabehl eingebettet, der im Zusammenhang mit den von beiden parallel angefertigten Dissertationen in einen massiven Plagiatsvorwurf mündet.5 Aufschlussreich ist auch Dutschkes Auseinandersetzung mit der RAF. In seinen Aufzeichnungen stellt er ganz unmissverständlich klar, dass die terroristische Gruppierung für ihn „politisch ohne Relevanz und Perspektive“ ist (S. 231). Dass er dennoch bereit ist, inhaftierte RAF-Mitglieder zu besuchen, hängt mit seiner Überzeugung zusammen, dass deren Biografien „auch für unsere politische Lebensgeschichte von Bedeutung“ seien (S. 231).

Angesichts der Fragmentarik des Berichterstattungszeitraumes und der stilistischen Eigentümlichkeiten des Tagebuchschreibers, der immer wieder von kryptisch anmutenden Abkürzungen und Verweisen Gebrauch macht, war es von vornherein klar, dass die editorische Arbeit besonders aufwändig würde ausfallen müssen, um die Kontinuität eines üblichen Lesestromes auch nur annähernd zu erreichen. Doch genau hier haben sich gravierende Mängel eingeschlichen. Eine ganze Reihe von Fußnoten ist fehlerhaft, zuweilen auch grob irreführend. So heißt es etwa, dass es sich bei dem Teilnehmer einer Diskussionsveranstaltung im Auditorium maximum der Freien Universität Berlin mit dem Namen Tiedemann „vermutlich“ um die inzwischen verstorbene Terroristin Gabriele Kröcher-Tiedemann handle (S. 43). Tatsächlich aber ist hier von dem Philosophen und späteren langjährigen Direktor des Theodor-W.-Adorno-Archivs Rolf Tiedemann die Rede. Ein anderes Beispiel für eine krasse Fehlidentifizierung findet sich wenige Seiten weiter. Bei dem Professor, der angeblich den Namen „W. Heinis“ trägt und von dem Dutschke verräterischerweise behauptet, er habe ihn in aller Öffentlichkeit „destruiert“, handelt es sich nicht um den Westberliner Ordinarius Wilhelm Heinitz, sondern um den Freiburger Politologen Wilhelm Hennis (S. 57). Das spätere Gründungsmitglied des Bundes „Freiheit der Wissenschaft“ war damals gerade einem Ruf an die Universität Freiburg gefolgt – und die Diskussion fand an eben dieser Universität statt. Der Hinweis, dass mit dem im Zusammenhang eines Besuches bei dem Mailänder Verleger Giangiacomo Feltrinelli gefallenen Stichwort „Bolivienaufenthalt“ der gescheiterte Guerillaaufstand Che Guevaras gemeint sei (S. 62), ist vermutlich ebenfalls irreführend. Denn Feltrinelli war im Spätsommer 1967 selbst in Bolivien, wurde wegen seiner finanziellen Unterstützung der Guerilleros zur unerwünschten Person erklärt und dazu gezwungen, das Land umgehend zu verlassen.6 In nicht wenigen Fällen wie in dem des Rezensenten (S. 318, S. 320) hätte vermutlich ein Griff zum Telefon genügt, um ebenso riskante wie überflüssige Spekulationen über die Frage, wer hier eigentlich gemeint sein konnte, zu vermeiden.

Gewiss ist es eine respektable Leistung der Herausgeberin, die Tagebücher ihres verstorbenen Mannes ediert zu haben. Dazu bedurfte es durchaus eines starken Selbstbewusstseins und auch einer guten Portion Mutes. Schließlich geht es in den Aufzeichnungen nicht nur um die Innenansichten eines politischen Akteurs, sondern auch um private, ja intime Dinge, die insbesondere den jeweiligen Beziehungsstand des Ehepaares immer wieder aufs Neue ausleuchten. Streichungen sind durchweg angezeigt worden. Über Kriterien für die verschiedenen Eingriffe ist indes fast nichts zu erfahren. Dazu heißt es lediglich, sie seien „aus juristischen Gründen“ erfolgt (S. 407). In einem umfangreichen Nachwort beantwortet die Herausgeberin die aus ihrer Sicht wichtigsten politischen und weltanschaulichen Fragestellungen und begründet die Edition vor allem damit, dass Dutschke „auch heute noch etwas zu sagen“ habe (S. 374).

Die genannten Einwände ändern jedoch nichts daran, dass es sich bei dieser Publikation um eine für die Zeitgeschichte, insbesondere für die historische Erforschung der Studentenbewegung und der Außerparlamentarischen Opposition bedeutende Dokumentation handelt. In den ausführlicher und auch sorgfältiger verfassten Anfangsnotizen werden die philosophisch-weltanschaulichen Häutungen des offenbar in einer dynamischen Suchbewegung vorwärtseilenden späteren Rebellen so sichtbar wie nirgends sonst. Dabei sticht die Unmittelbarkeit, in der Dutschke seinen christlichen Glauben mit einem globalen revolutionären Projekt in eins setzt, besonders hervor. Am Ostersonntag 1963 etwa notiert er mit ungebremster Emphase: „Jesus ist auferstanden, Freude und Dankbarkeit sind die Begleiter dieses Tages; die Revolution, die entscheidende Revolution der Weltgeschichte ist geschehen, die Revolution der Welt durch die alles überwindende Liebe.“ (S. 17) Die hier freigelegte Wurzel für den außerordentlichen revolutionären Elan des späteren Studentenführers könnte als Hinweis auf ein Desiderat der Forschung dienen – den offenkundigen Zusammenhang zwischen Protestantismus und Radikalisierungsprozessen innerhalb der Neuen Linken.

Anmerkungen:
1 Dutschke, Rudi, Aufrecht gehen. Eine fragmentarische Autobiographie, West-Berlin 1981.
2 Raddatz, Fritz J. (Hg.), Warum ich Marxist bin, München 1978.
3 Chaussy, Ulrich, Die drei Leben des Rudi Dutschke. Eine Biographie, Darmstadt 1983; Miermeister, Jürgen, Rudi Dutschke, Reinbek 1986; Dutschke, Gretchen, Wir hatten ein barbarisches, schönes Leben. Rudi Dutschke. Eine Biographie, Köln 1996. Demnächst erscheint außerdem eine den einzelnen biografischen Abschnitten folgende Monografie, in der vor allem Dutschkes Rolle als Theoretiker untersucht wird: Karl, Michaela, Revolutionär ohne Revolution, Frankfurt am Main 2003.
4 Vgl. Kraushaar, Wolfgang, Im Visier der Stasi. Über die Observierung Rudi Dutschkes durch das MfS, in: Mittelweg 36,5 (1996) H. 6, S. 65-78.
5 Vgl. dazu auch Rabehls kürzlich unternommenen Versuch, Dutschke im Nachhinein seiner eigenen nationalrevolutionär gewandelten Optik unterzuordnen: Rabehl, Bernd, Rudi Dutschke. Revolutionär im geteilten Deutschland, Dresden 2002.
6 Vgl. die Darstellung eines sich zur selben Zeit in dem südamerikanischen Land aufhaltenden Aktivisten, der über den Prozess gegen den kurz zuvor gefangengenommenen Régis Debray berichten wollte: Ali, Tariq, Street Fighting Years. Autobiographie eines 68ers, Köln 1998, S. 176f.

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