Cover
Titel
Vertrauen. Historische Annäherungen


Herausgeber
Frevert, Ute
Erschienen
Göttingen 2003: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
430 S.
Preis
€ 22,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Manfred Schluchter, Institut für deutsche Philologie, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Vertrauen als soziales Kapital – das ist das übergreifende Thema der 13 Beiträge aus einem Bielfelder Forschungsprojekt. Die Wahl der Gegenstandsbereiche, an denen Vertrauen als Element und Funktion sozialer Interaktion, öffentlicher oder privater, untersucht wird, ist disparat. Sie folgt keinem notwendigen Zusammenhang. Das gibt dem Band einen additiven Charakter. Andererseits rücken durch die relative Selbstständigkeit der Stoffbereiche Sektoren der Wirklichkeit vor Augen, die sonst eher im Verborgenen bleiben. Wer wüsste z.B. schon, unter welchen Bedingungen sich die Kommunikation der Gelehrten in der Frühen Neuzeit abspielte (F. Mauelshagen, S. 119-151); welche Rolle karitative Organisationen als Institution für den Aufbau von Vertrauensbeziehungen, speziell bei der großen Zahl der Zuwanderer, in der Metropole Berlin um 1900 spielte (B. Hitzer, S. 185-212); oder wie – sich veränderndes – Vertrauen in Experten die bundesdeutsche Diskussion um Atomkraft zwischen 1955 und 1980 beeinflusste (A.Weisker, S. 394-421).

An diesen Beispielen schon wird die Bandbreite, aber auch die Heterogenität des Untersuchten deutlich. Insgesamt sind die Themen so gewählt, dass sie Einblicke in „verschiedene Vertrauenskontexte – Politik, Ökonomie, Zivilgesellschaft, Militär, Familie und Freundschaft“ (U. Frevert, S. 61) vermitteln. Ihre chronologische Anordnung – „vom Mittelalter bis in unsere Gegenwart“ (ebd.) – dokumentiert den Anspruch, den der Band erhebt: Geschichte (im Sinne gesellschaftlicher Beziehungsgefüge und Entwicklungen) unter einem speziellen, aber durchaus als zentral verstandenen Aspekt beschreibbar zu machen.

Alle Beiträge „beziehen sich auf einen gemeinsamen Fundus sozialwissenschaftlicher Überlegungen zur Struktur und Funktion von Vertrauen, wie er seit den Arbeiten Emile Durkheims und Georg Simmels zusammengetragen worden ist.“ (U. Frevert, S.61) Weitere Bezugsgrößen sind Luhmann, Giddens, Putnam. 1 Gleichwohl muss sich die Herausgeberin, Ute Frevert, in ihrem an den Anfang gestellten Beitrag spürbar bemühen, dem Leser die Themenwahl der Beiträge und deren Präsentation als Buch plausibel zu machen. Dabei begnügt sie sich aber nicht mit einer üblichen Einleitung, sondern setzt in einer weit ausholenden „historische[n] Spurensuche“ (S. 7) Akzente, die gerade den geschichtshaltigen Charakter des Unternehmens bekräftigen sollen. (U. Frevert, S. 7-66) Als gesellschaftlich-politische Grundsignatur der Neuzeit kann gelten, dass Herrschaft säkular begründet und über eine spezifische Form von Vertrauen, die als Konstituens eine spezifische Form des Misstrauens setzt, organisiert wird. Das Institution der allgemeinen, gleichen, freien Wahl in repräsentativ verfassten demokratischen Gesellschaften ist seine gesellschaftsprägende Manifestation. Die entsprechende Entwicklung begann vornehmlich im England des 17. Jahrhunderts, wurde von Locke theoretisch reflektiert („government by trust“; S. 22) und war von da an Bestandteil des westlichen Gesellschafts- und Verfassungsdiskurses. „Historisch kam [die] Bereitschaft [eines Fürsten], Macht zu teilen [...], einem primären Vertrauensakt gleich“ (S. 25). Aber erst „mit dem Ende des Ancien Régime begann der Vertrauensbegriff, eine aktivere politische Rolle zu spielen.“ (S. 24)

Kategoriale Differenzierungen

Als analytische Kategorie wird politisches Vertrauen „vertikales Vertrauen“. Ihm steht das Vertrauen der Bürger untereinander als „horizontales Vertrauen“ zur Seite. Weitere kategoriale Differenzierungen sind das „Nahvertrauen“, das sich auf zwischenmenschliche Beziehungen (Familie, Freundschaft, Kameradschaft) bezieht und ein Vertrauen in Experten und Institutionen, das das Verhältnis des Einzelnen zu öffentlichen, aber nicht notwendigerweise staatlichen oder politischen Instanzen erfasst. Mit der Präsentation und Erläuterung dieser kategorialen Differenzierungen fundiert U. Freverts Beitrag die übrigen Texte und schafft einen Bezugsrahmen, der deren Heterogenität begründbar macht. 2

Ob diese kategorialen Differenzierungen einschließlich der weiteren acht bis zehn, die der Index 3 bereithält, hinreichend – und hinreichend begründet – sind, mag offen bleiben. Jedenfalls hat der Band keinen systematisch-theoretischen Teil. Zumindest die immer wieder anklingende Dichotomie Vertrauen/Misstrauen verdiente wohl eine komplexe, auch sprachphilosophische, Reflexion.4 Die sprachgeschichtliche Spurensuche, die U. Frevert vornimmt und die Verdienstvollerweise die semantischen Wandlungen und den alltagssprachlichen Gebrauch von „Vertrauen“ im Bewusstsein hält, kann dies natürlich nicht leisten.

Wenn Vertrauen, in seiner vertikalen und horizontalen Erscheinungsform, die Basis für eine „Bürger- oder Zivilgesellschaft“ (S. 38) ist, da diese immer schon den „Verzicht auf Gewalt“ (ebd.) voraussetzt, kann eine Untersuchung zum Waffenrecht, die auf den ersten Blick als ephemer erscheinen mag, bemerkenswerte Einsichten in die tatsächliche Zivilität (den tatsächlichen Vertrauenszustand) einer Gesellschaft ergeben (D. Ellerbrock, S. 306-335). Auch ist eine analytische Beschäftigung mit der Rolle von Vertrauen für das Ideal der Kameradschaft beim Militär und mit der ständig gegebenen Möglichkeit, dieses Basiselement zur Bildung von Täter- und Verschworenengruppen umzufunktionieren, nicht nur von wissenschaftlicher Relevanz (Th. Kühne, S. 245-278). Ob pädagogische Ideale und Praxis im 19. Jahrhundert (G.-F. Budde), das Gesicht als Medium und Bürgschaft des Vertrauens (C. Schmölders, S.213-244), politische Arbeit mit Vertrauensressourcen (J.C. Behrends, S. 336-364) oder staatliche Führungskrise wegen Vertrauensverlustes (A. Schmidt, S. 279-305): die in dem Band versammelten Fallstudien präsentieren ein Kaleidoskop sozialer Figurationen, die auf ihre Verallgemeinerungsfähigkeit im Sinne historisch-gesellschaftlicher Signaturen hin befragt werden können.

Fazit

Der Band folgt der von Ute Frevert anderswo formulierten Forderung, Vertrauen als historische Kategorie in ihrer zeitlichen, räumlichen und gesellschaftlichen Bestimmtheit sichtbar zu machen.5 Kein Lehr- oder Handbuch, eher Bericht über ein Projekt, Dokumentation im Sinne von work in progress. Anregende Lektüren vor allem für werdende Politologen, Historiker, Sozial- und Kulturwissenschaftler. Auch für ein breiteres Publikum, das sich von monografischer Diskursstrenge weniger angezogen fühlt und das darauf neugierig ist, ein für gewöhnlich eher der Privatheit und der Intimität zugeordnetes Phänomen als Agens in vielgestaltigen sozialen, politischen, gesellschaftlichen Prozessen zu sehen.

Anmerkungen:
1 Ein abschließendes Literaturverzeichnis fehlt. Wohl aber enthalten die zahlreichen Anmerkungen eine Fülle von Literaturverweisen, auch interdisziplinärer Art.
2 Die zweifache Funktion spiegelt sich in seinem Umfang: Der Beitrag ist doppelt so lang wie die übrigen Beiträge.
3 Der Band wird durch einen ausführlichen Index (S. 422-427) erschlossen; er enthält neben dem Haupteintrag mit seiner Untergliederung noch viele Komposita mit „Vertrauen“.
4 Dies gilt umso mehr, sofern D. Welteckes These zutrifft: „Erst die Neuzeit hat den Begriff theoretisiert und entfaltet.“ Einen Vertrauensbegriff, der dem neuzeitlichen ähnlich wäre, lehnt sie für das Mittelalter ab. (D. Weltecke, S. 67-89; Zitat S. 74)
5 Vgl. Frevert, Ute, Vertrauen als historische Kategorie, in: Schmalz-Bruns, Rainer; Zintl, Reinhard (Hgg.), Politisches Vertrauen, Baden-Baden 2002, S.45; Zitat Th. Kühne, S.257.

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