Titel
Simon-Dubnow-Institut Jahrbuch I.


Herausgeber
Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur; Universität Leipzig
Erschienen
Anzahl Seiten
543 S.
Preis
€ 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heidemarie Petersen, Geisteswissenschaftliches Zentrum, Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas, Universität Leipzig

Zu den mittlerweile zahlreichen mit jüdischen Themen befassten Periodika hat sich ein neuer Titel gesellt: Das „Jahrbuch/Yearbook“ des in Leipzig ansässigen Simon-Dubnow-Institutes für jüdische Geschichte und Kultur. Sowohl der Titel als auch die Aufmachung des voluminösen, vornehm in blaues Leinen gebundenen Bandes erinnern, wohl nicht zufällig, an das „Yearbook“ des New Yorker Leo-Baeck-Institutes, das seit beinah fünfzig Jahren erscheint und zu den renommiertesten Publikationen des Genres der Judaica gehört. Dies ist offensichtlich die Messlatte, die man in Leipzig vor Augen hat.

In einem Editorial benennt Dan Diner, der Direktor des Simon-Dubnow-Institutes, die Zielsetzung seiner Forschungseinrichtung und ihres neuen Jahrbuches: Es gehe darum, die herkömmlichen Grenzen zwischen allgemeiner und jüdischer Geschichte aufzuheben und letztere aus dem Status „einer Spezialgeschichte unter vielen“ (S. 9) herauszuführen. Im angestrebten Zusammenhang einer integrierten europäischen Geschichte komme gerade der jüdischen Geschichte eine zentrale Funktion zu: Wegen des „vornehmlich transnationalen, transterritorialen“ Charakters jüdischer Lebenswelten sei der Erforscher ihrer Geschichte „ihrer angemessenen wie ebenso notwendigen Kontextualisierung wegen gehalten, den Umwelten der Juden ebensoviel Aufmerksamkeit zu schenken, wie diesen selbst“ (S. 9). Dieses, wie Diner meint, „epistemische Privileg“ (S. 10) der jüdischen Geschichte berufe sie dazu, wesentliche Entwicklungen der allgemeinen Geschichte paradigmatisch vorzuführen.

Abgesehen von dem Anspruch, jüdische Geschichte zum Prüfstein einer europäischen Geschichte zu erheben, ist der hier formulierte integrative Ansatz zumindest in der deutschsprachigen Wissenschaftslandschaft nicht gänzlich neu. Im Unterschied zum angloamerikanischen Bereich, wo jüdische Geschichte überwiegend als genau die ethnozentrische „Spezialgeschichte“ betrieben wird, die sie nach Dan Diner gar nicht sein dürfte, gibt es hier in Einzelbereichen schon seit längerem Bemühungen, sie aus ihrem spezialistischen Forschungsghetto zu befreien: Mediävisten wie Klaus Lohrmann in Österreich oder Alfred Haverkamp in Deutschland betreiben seit etwa fünfzehn Jahren die Zusammenführung jüdischer und allgemeiner Geschichte; Vergleichbares wird an der Universität Basel unter Leitung des Historikers Heiko Haumann auf dem Gebiet der Osteuropaforschung geleistet.

Die Beispiele belegen, dass solche Bemühungen nicht unbedingt von Seiten der jüdischen Geschichte ausgehen müssen, um erfolgreich zu sein. Ohnehin birgt es ein Paradox in sich, diese Art von Forschungsprogramm auf die Fahnen eines Institutes zu schreiben, das sich ausschließlich mit jüdischer Geschichte und Kultur befasst. Denn würde es konsequent umgesetzt und die jüdische Perspektive würde zu einem integralen Bestandteil der allgemeinen Kulturwissenschaften, dann verlören Einrichtungen wie das Simon-Dubnow-Institut auf längere Sicht ihre Existenzberechtigung.

Doch nun vom Programm zur Praxis des „Jahrbuches“: Seine insgesamt zweiundzwanzig Beiträge in deutscher und englischer Sprache sind in zwei „Schwerpunkte“, einen „Allgemeinen Teil“ sowie die Rubriken „Aus der Forschung“, „Diskussion“, „Dubnowiana“ und „Literaturbericht“ gegliedert. Sie widmen sich überwiegend dem 19. und 20. Jahrhundert, wobei die geografische Spanne von Chicago bis Czernowitz reicht. Die Mehrzahl der Texte beruht auf Beiträgen zu Konferenzen des Simon-Dubnow-Instituts der vergangenen Jahre. Besonders die „Schwerpunkte“ sind eigentlich Tagungsbände: Sie präsentieren Referate der Konferenzen „Polnische Judenheit der Zwischenkriegszeit, 1918-1939“, „Aspekte jüdischer Politik im vorrevolutionären Europa“ sowie „Jüdische Solidarität zwischen Ethnizität und nationaler Loyalität. Jüdische Wohltätigkeitsorganisationen im 19. und frühen zwanzigsten Jahrhundert“, die 1999 bzw. 2000 stattgefunden haben. Zur „Diskussion“ steht ein Kommentar von Jehuda Jakubowski-Jeshay zur Jedwabne-Debatte, unter „Dubnowiana“ findet sich ein quellenkundlicher Text von Anke Hilbrenner und Nicolas Berg zum Tode Simon Dubnows im Rigaer Ghetto 1941. Die Logik der übrigen Rubriken erschließt sich nicht ohne weiteres: So hätte beispielsweise der Aufsatz von Andreas Gotzmann „Gemeinde als Gemeinschaft? Politische Konzepte der deutschen Juden im Absolutismus“, vortrefflich in den „Schwerpunkt II: Formen jüdischer Selbstorganisation“ gepasst, firmiert aber - als einziger - Beitrag der Rubrik „Aus der Forschung“. Diese mutet auch deswegen kurios an, weil man von einem wissenschaftlichen Periodikum üblicherweise erwartet, Ergebnisse „aus der Forschung“ präsentiert zu bekommen, ohne das dies gesondert ausgewiesen werden müsste.

Auf der anderen Seite wird ein Text von Mariana Hausleitner über „Intervention und Gleichstellung – Rumäniens Juden und die Großmächte 1866-1923“, der einen wichtigen Beitrag zur weithin unerforschten Geschichte der Juden in Rumänien leistet, durch die Rubrizierung als „Literaturbericht“ weit unter seinem Wert verkauft.

Unbenommen solcher letztlich formalen Mängel beeindruckt das „Jahrbuch“ durch die nahezu durchgängig hohe Qualität seiner Beiträge. Der von Dan Diner eingangs des Bandes formulierte innovative Anspruch wird indes nur punktuell eingelöst: die meisten Autoren bieten, wenn auch auf hohem Niveau, durchaus traditionelle, spezialgeschichtliche Judaica, die sich kaum um die annoncierte Öffnung jüdischer Geschichte auf ihre Kontexte kümmern. Nur wenige Beiträge gelangen über die Grenzen des Genres hinaus: Dazu zählen der bereits erwähnte Aufsatz von Mariana Hausleitner über Rumänien, die Texte von Frank Hadler „’Erträglicher Antisemitismus’? Jüdische Fragen und Tschechoslowakische Antworten 1918/19“ und Gerald Stourzh über „Max Diamant and the Struggle for Jewish Rights in Imperial Austria“ (beide im „Allgemeinen Teil“) oder auch Mark Levenes Beitrag „Resurrecting Poland – The Fulcrum of International Politics“. Ihnen allen ist gemeinsam, dass ihre Autoren nicht aus einer judaistischen, sondern aus einer allgemeingeschichtlichen Perspektive auf ihr Thema zugreifen (dies stellt ein weiteres Mal das Postulat des Herausgebers vom „epistemischen Privileg“ der jüdischen Geschichte in Frage).

Es ist offenkundig, dass im „Jahrbuch“ die Blütenlese aus mehreren Jahren Konferenztätigkeit des Simon-Dubnow-Institutes zusammengetragen worden ist. Man darf gespannt sein, ob es dem Herausgeber künftig gelingen wird, Jahr für Jahr eine solche Fülle an hochrangigen und seinen programmatischen Ansprüchen genügenden Texten einzuwerben.

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