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Titel
Nach dem Fortschritt. Vorletzte Anmerkungen zum Sozialismus. Aus dem Amerikanischen von Suzanne Gangloff und Angela Schumitz


Autor(en)
Birnbaum, Norman
Erschienen
Anzahl Seiten
496 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Paul Nolte, School of Humanities and Social Sciences, International University Bremen

Die großen Utopien sind verflogen, Ernüchterung und Skepsis machen sich breit – nicht nur im Blick auf die Zukunft, sondern auch im Rückblick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts, das lange Zeit ein Jahrhundert des Fortschritts sein wollte. Die Geschichte des Sozialismus, der Arbeiterbewegung und der „traditionellen“ Linken – also derjenigen Kräfte, welche die klassische Fortschrittsidee, als Erben des Liberalismus, in jener Zeit zuallererst verkörperten – spiegelt diese Ernüchterung besonders deutlich wider. Norman Birnbaum zieht eine Bilanz des Sozialismus in Ost und West, in Amerika und Europa, über knapp hundert Jahre und legt damit zugleich eine Bilanz seines eigenen wissenschaftlichen und politischen Wirkens vor. Denn Birnbaum, inzwischen hoch in den Siebzigern, ist selber seit jeher ein produktiver Wanderer zwischen den Welten, zwischen der amerikanischen und der europäischen, zumal der deutschen, Sozialwissenschaft ebenso wie zwischen Wissenschaft und Politik. In Europa würde man diesen Intellektuellen dem klassisch sozialdemokratischen Spektrum zurechnen, in den USA gehört er zu jener Minderheit einer radikalen Linken, die auch das Bekenntnis zum Marxismus nicht scheut.

So handelt es sich hier auch nicht um eine wissenschaftliche Studie im eigentlichen Sinne, sondern um das, was man ein „historisch-politisches Buch“ nennt, ein Buch, das historische Erfahrungen verarbeitet und analysiert, aber sie doch einer sehr subjektiven Tönung unterzieht. Der Ernsthaftigkeit im Gestus Birnbaums tut dieses Genre jedoch keinen Abbruch. Als echter Linker ist Birnbaum vor jeglicher Ironie und ästhetizistischen Oberflächlichkeit gefeit; nur etwas Melancholie mischt sich hinein. In elf chronologisch angeordneten Kapiteln lässt er die Geschichte des Sozialismus, der sozialen Bewegungen und des sozialdemokratisch beeinflussten Wohlfahrtsstaates seit dem Ersten Weltkrieg und der Russischen Revolution Revue passieren. Der sowjetische Realsozialismus interessiert ihn nicht sonderlich; der Schwerpunkt liegt auf Westeuropa (Deutschland, England und Frankreich, Italien und Spanien) sowie den USA seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Jahre um 1945 bilden in der Tat so etwas wie ein Scharnier in der Argumentation Birnbaums, wenn er den Zusammenhang zwischen spezifischen Solidaritätserfahrungen im Krieg und den Sozialreformen der Nachkriegszeit in ihren verschiedenen nationalen Ausprägungen beschreibt. Die nächste Zäsur ist die Krise der 1970er-Jahre, die das Ende der „Goldenen Jahre“ markiert. Überhaupt erinnert Birnbaums Entwurf des 20. Jahrhunderts in mancher Hinsicht an Eric Hobsbawms „Age of Extremes“ – die andere Bilanz eines großen angelsächsischen Linksintellektuellen –, ohne dass er jedoch dessen Niveau, dessen Dichte, dessen analytische Schärfe erreichen könnte oder wollte. Die englischsprachige Originalfassung des Buches, das jetzt in ausgezeichneter deutscher Übersetzung vorliegt, ist übrigens 1999 abgeschlossen worden und 2001 erschienen; der „11. September“ als Zäsur spielt deshalb ebensowenig eine Rolle wie die Herausforderung des Westens und seiner Fortschrittsidee durch den islamischen Fundamentalismus.

Diese äußere Herausforderung benötigt Birnbaum aber auch gar nicht als intellektuellen Antrieb, denn er trägt die Zerrissenheit in der eigenen Brust. „Nach dem Fortschritt“, das sind in mancher Hinsicht zwei Bücher, zwei Norman Birnbaums, die ihr Verhältnis zueinander nicht geklärt haben. Auf der einen Seite entdeckt man den orthodoxen, den polemischen, den bis zur Verzerrung parteilichen Birnbaum – auf der anderen Seite den skeptischen, den romantischen, den religiösen Birnbaum. In dieser Spaltung spiegelt sich zugleich das Spannungsverhältnis zwischen Europa und Amerika, zwischen der europäischen und der amerikanischen Linken, welches das Buch, aber eben auch die Seele Norman Birnbaums, durchzieht. Das korrespondiert mit der Zweideutigkeit des englischen Titels „After Progress“, die im Deutschen weithin verloren geht: dem Ziel des Fortschritts hinterher und immer noch nachjagend einerseits, vom Fortschritt Abschied nehmend, den Fortschritt zurücklassend andererseits.

Der „erste“ Birnbaum präsentiert sich als Vertreter eines klassischen Sozialismus der eisernen Faust. Da ist von der „Redlichkeit“ der revolutionären Ziele der bolschewistischen Revolution die Rede, die nur, leider, in zunehmenden Gegensatz zur „Grausamkeit der Mittel“ geraten sei, derer sie sich bedient habe (S. 73). Typisch ist auch Birnbaums Interesse an der ökonomischen Basis von Gesellschaften, an ihren Produktionsverhältnissen und den dadurch geschaffenen Strukturen von Ungleichheit; ein kulturalistischer Marxismus ist seine Sache nicht. In bemerkenswerter Simplizität gibt „das Kapital“ immer wieder das Feindbild ab; das Buch ist nach einem einfachen Links-Rechts-Schema gestrickt, das zugleich ein moralisches Gut-Böse-Schema ist. Für eine Mitte in gleich welchem Sinne ist da kein Platz, und alle neueren sozialdemokratischen Versuche, eine „Neue Mitte“ zu definieren und zu gewinnen, werden schroff abgebürstet (S. 289). Verschwörungstheorien finden sich in allen Varianten – von angeblichen heimlichen Abmachungen Gerhard Schröders mit „der Wirtschaftselite“ (S. 297) bis zu einem von den Medien geschaffenen falschen Bewusstsein der englischen Arbeiter, das sie von ihrer natürlichen Affinität zu Labour weggelockt habe (S. 369).

In dieses Bild passt auch das teils oberflächliche, teils schiefe Bild, das Birnbaum (besonders im vierten und siebten Kapitel) von der deutschen Politik der Nachkriegszeit und besonders der letzten zwei Jahrzehnte zeichnet. Ob sich die Jahre des Nationalsozialismus durch ein „höheres Maß an Innovation in der Sozialpolitik“ auszeichneten als die ersten 15 Jahre der Bundesrepublik (S. 130), kann man auch nach den Debatten über das Verhältnis von „Nationalsozialismus und Modernisierung“ bestreiten, aber an der Restauration darf eben kein gutes Haar bleiben. Helmut Kohl mag man viel vorwerfen, aber ihn in Verbindung mit der „Heraufbeschwörung eines gnadenlosen Sozialdarwinismus“ zu bringen (S. 267), zeugt schlicht von Unkenntnis. Was die jüngste Politik der Sozialdemokratie angeht, ist Schröder nicht wohlgelitten, Oskar Lafontaine dagegen wird gelobt und als „Opfer einer besonders ausgefeilten Kampagne“ (S. 292) des Großkapitals bemitleidet – von Verschwörungstheorie war ja schon die Rede. Ähnliches könnte man für Birnbaums Bild der englischen Politik und der Wandlungen der Labour Party zwischen Clement Attlee und Tony Blair zeigen. Im Blick auf Europa ist Birnbaum ein Sozialist klassischen Kalibers, der von Skepsis und Selbstkritik, von Suche nach neuer Orientierung „nach dem Fortschritt“ wenig angekränkelt erscheint.

Dagegen ist Birnbaum für Amerika Republikaner – natürlich nicht im parteipolitischen, sondern im sozialtheoretischen Sinne des Wortes. Zwar beklagt er kurz das Fehlen bzw. Scheitern eines „echten“ Sozialismus in den Vereinigten Staaten, doch in den Reformen Roosevelts im „New Deal“ der 1930er-Jahre erkennt er „das amerikanische Äquivalent einer Sozialdemokratie“ (S. 103). Mehr noch, die USA hätten in dieser Zeit, als in Europa Demokratie und Sozialismus in eine tiefe Krise gerieten, überhaupt die Fortschrittsidee repräsentiert und mit ihren Truppen im Zweiten Weltkrieg auch wieder nach Europa zurückgebracht. Zu dieser amerikanischen Form des Fortschritts gehören klassische Sozialreformen und der Ausbau des Wohlfahrtsstaates (dessen enorme Leistungen, etwa in der Alters- und der Gesundheitsversorgung, Birnbaum im Gegensatz zu vielen europäischen Beobachtern nicht verkennt); zu ihm gehört aber auch das Ideal einer zugleich autonomen und solidarischen Bürgergesellschaft, die sich von den Kräften des Marktes emanzipiert, ohne deswegen den milieutypischen Stallgeruch des europäischen Sozialismus anzunehmen.

Von diesem romantisch-republikanischen Ethos schließt sich der Kreis zum „Sozialismus“ insofern, als Birnbaum (besonders im Einleitungskapitel) den Sozialismus als eine neuzeitliche Emanzipationsbewegung in große Nähe zur Religion rückt. Er definiert den Sozialismus geradezu – was ja nicht neu ist – als ein „säkulares Derivat des jüdisch-christlichen Chiliasmus“ (S. 23). Darin kann man, auch wenn dieser Gedanke nicht konsequent bis in die Zeit Clintons, Blairs und Schröders weiterverfolgt wird, ein Leitmotiv des ganzen Buches sehen – ebenso wie in dem damit eng verknüpften Begriff der „Solidarität“. Der Sozialismus ist für Birnbaum der Versuch, „primäre Solidaritätsgefühle [...] auf die gesamte Gesellschaftsstruktur auszudehnen“, und die Krise der westlichen Wohlfahrtsstaaten in der Gegenwart lässt sich als Bedrohung ihrer „Institutionen der Solidarität“ verstehen (S. 244).

Trotz solcher Brückenschläge stehen sich die zwei Entwürfe Birnbaums oft schroff gegenüber. Über das Verhältnis der traditionellen sozialistischen Linken zu den Neuen Sozialen Bewegungen, zur Post-Fortschritts- und Kulturalismus-Linken scheint er sich selbst nicht im Klaren zu sein. Einerseits schließt er die letztere aus dem Spektrum des Sozialismus aus und beklagt ihre mangelnde Organisationsfähigkeit, weswegen sie „dem Kapital“ nicht ernsthaft entgegentreten könne (S. 241). Andererseits würdigt er den religiösen Charakter der neuen Protestbewegungen und den „Zustrom moralischer Energie“, den sie dem Projekt des Sozialismus zuführe (S. 249). Einerseits lobt Birnbaum in der Nachfolge John Deweys eine Bürgergesellschaft aus dem Geiste der moralischen Pädagogik, andererseits bezeichnet er die neueren Konzepte der Zivilgesellschaft als eine „grausame Fiktion“ (S. 397). In diese Ambivalenzen mischt sich auch eine Unsicherheit Birnbaums über die Rolle der Intellektuellen im politischen Kampf für den Fortschritt – und damit über seine eigene Rolle. Die Intellektuellen-Schelte ist jedenfalls ein Topos, der sich durch das ganze Buch hindurchzieht.

Was also nach dem Fortschritt kommt, oder worin die Zukunft der Fortschrittsidee liegen könnte, darauf gibt Birnbaum am Ende keine eindeutige Antwort. Im innersten Kern, so scheint es, ist er doch eher „Amerikaner“ als „Europäer“ und plädiert für eine Fortsetzung der „pädagogische(n) Tradition des Sozialismus“ (S. 247) – den Begriff darf man dabei durchaus sehr weit verstehen. „Eine Wiedergeburt des alten Republikanismus, der Idee einer Nation autonomer Bürger, würde Amerika weit bringen“ (S. 443): Mit diesem Satz endet Birnbaums tour d’horizon durch den gebrochenen Fortschritt des 20. Jahrhunderts. Und Europa?

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