S. Popp u.a. (Hgg.): Curriculum Weltgeschichte

Titel
Curriculum Weltgeschichte. Interdisziplinäre Zugänge zu einem global orientierten Geschichtsunterricht


Herausgeber
Popp, Susanna; Johanna Forster
Erschienen
Schwalbach 2003: Wochenschau-Verlag
Anzahl Seiten
312 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg Wettlaufer, Historisches Seminar, Residenzenkommission der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen

Der von Susanne Popp und Johanna Forster herausgegebene Band „Curriculum Weltgeschichte“, der u.a. die Beiträge eines internationalen und interdisziplinären Kolloquiums im Jahre 2001 in Weingarten versammelt, beschäftigt sich mit einem aktuellen Thema, das insbesondere die Didaktiker immer stärker interessiert – die Integration von Weltgeschichte bzw. „global history“1 in den Geschichtsunterricht an Schulen und Universitäten. Der Zugang zu diesem Thema wurde von den Herausgeberinnen interdisziplinär gewählt. Es geht hier nicht nur um Vorschläge zur Umsetzung der „global history“ amerikanischen oder italienischen Vorbilds in deutsche Lehrpläne, sondern zugleich um einen Brückenschlag zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Die „globally conceptualized world history“ fungiert hierbei sozusagen als Bindeglied zwischen diesen beiden, in der wissenschaftlichen Praxis immer noch sehr distanziert zueinander stehenden Domänen, indem sie das Verbindende zwischen allen Kulturen, Ethnien und Menschen betont, nämlich ihre gemeinsame Vergangenheit und Zukunft auf dem Planeten Erde. Sie bietet somit neue Möglichkeiten der interdisziplinären Zusammenarbeit und der Integration Natur- und Geisteswissenschaftlicher Wissensbestände bzw. „Meistererzählungen“, und zwar vor allem der Biologie, aber auch der Anthropologie, der Chemie und der Physik.2 Ich möchte im Folgenden insbesondere auf diese neue, interdisziplinären Perspektive der „global history“ eingehen und auf die ebenfalls behandelten didaktischen Konzepte bzw. Curricula nur kurz streifen, da mir die hier vorgestellte Synthese in besonderer Weise vielversprechend für eine verstärkte Zusammenarbeit der Wissenschaften geeignet erscheint.

Der Sammelband ist in vier Teile gegliedert, in denen sich jeweils vier Autoren mit geschichtswissenschaftlichen und -didaktischen sowie humanwissenschaftlichen (sprich evolutionsbiologischen, ethnologischen sowie geschlechterspezifischen) Perspektiven bzw. den internationalen Lehrplänen und schließlich ausgewählten Zugängen zur Weltgeschichte (aus der Perspektive der Mediävistik, der Umweltgeschichte und der Europäischen Gemeinschaft) beschäftigen. Den vier Teilen vorangestellt ist ein Vorwort der beiden Herausgeberinnen.

Der einführende Beitrag des amerikanischen Historikers William McNeill macht mit den Perspektiven, die eine interdisziplinäre Weltgeschichte für Historiker heute bereithält, vertraut. Die Evolutionstheorie ist zur Zeit der einzige Entwurf einer wissenschaftlichen „Metatheorie“, die in der Lage ist, die Variation und Abstammung des Lebens auf der Erde schlüssig zu erklären. Die Menschheit und damit die menschliche Geschichte, auch und gerade unter Einbezug der Ur- und Frühgeschichte, ist Teil des lebendigen Ganzen und ihre Geschichte somit auch grundsätzlich einer Erklärung im Rahmen dieser Theorie zugänglich.

Wie eine solche interdisziplinäre, der evolutionären Sicht der Naturwissenschaften verpflichtete Historiographie konkret aussehen könnte, ist für McNeill wie auch für viele andere noch offen.3 Sie müsste, soviel scheint klar, nicht allein auf die Aussage von Quellen gestützt, sondern auch die Erkenntnisse der Naturwissenschaften berücksichtigen und in ihrer Perspektive ebenso kosmologisch wie anthropologisch sein. Einen eigenen Entwurf, der den Fokus auf die Rolle der Kommunikation legt, stellt McNeill anschließend in einer beindruckenden Dichte mit einer auf 10 Seiten komprimierten „Weltgeschichte in Grundzügen“ vor.

Der Aufsatz von Matthias Middell beschreibt die aktuelle Suche nach einer neuen „Meistererzählung“, also einem dominanten und den historischen Diskurs strukturierenden Erzählmuster der Weltgeschichte. Er fragt „Wie gelangt die Globalisierung in den Geschichtsunterricht?“ und umreißt damit einen weiteren Schwerpunkt des Bandes. Mögliche Strategien zur Integration biete die Berücksichtigung neuerer Forschungen über kulturelle Begegnungen sowie die konsequente Historisierung des eigenen Geschichtsbildes im Unterricht, wobei letzteres der zugegebenermaßen schwierigere Weg sei.

Einen Stab für die Synthese in Forschung und Unterricht bricht Immanuel Geiss in seinem Beitrag zu Weltgeschichte und Globalisierung. Zunächst diskutiert er einige Gründe, die bislang die Integration von Weltgeschichte in den Prozess von Forschung und Lehre behindert haben und stellt dann eigene Versuche zur Gliederung, Periodisierung und Kategorisierung von Weltgeschichte dar. Auch wenn die Begrifflichkeit hier manchmal antiquiert klingt (vgl. S. 58 u. 66, Anm. 11), so ist Geiss doch vor allem darin zuzustimmen, dass auch und gerade in der Geschichtswissenschaft „historische Mechanismen“ für Lernende als Hilfsmittel zum verbesserten Erfassen und Behalten der chaotischen Detailfülle der historischen Überlieferung unumgänglich sind.

Von klassischen Konzepten der Weltgeschichte distanziert sich der Beitrag von Susanne Popp, der geschichtsdidaktische Überlegungen zum historischen Lernen im Zeitalter der Globalisierung bietet. Der Anspruch wird im folgenden vor allem ex negativo formuliert: keine um eine globale Perspektive erweiterte Nationalgeschichte, also keine Euro- oder Ethnozentrismen, keine enzyklopädische Fülle additiver historischer Wissensbestände zu sämtlichen Weltregionen, aber auch keine Welt- und Universalgeschichte a la Spengler, Toynbee, et al. und schließlich auch keine welthistorische Meistererzählung, sondern vielmehr ein gleichberechtigtes Miteinander vieler Weltgeschichten, wie sie sich aus den Perspektiven der einzelnen Regionen ergebe.

Im Kontext der humanwissenschaftlichen und bildungstheoretischen Perspektiven diskutiert Johanna Forster die sozialen Identifikationsprozesse von Jugendlichen angesichts der allgegenwärtigen Globalisierung der Lebens- und Bezugsebenen. Sie plädiert daher für einen mehrperspektivischen Geschichtsunterricht im Rahmen eines „Curriculum Weltgeschichte“, der in der Lage sein sollte, das vernetzte Denken zu fördern und den Lernenden erlaubt, sich „global“ zu identifizieren, d.h. ihr eigenes Bezugsfeld im Zusammenhang mit den translokalen und transnationalen Perspektiven zu harmonisieren (S. 117).

Direkt in die Schnittmenge zwischen Geisteswissenschaften und Evolutionsbiologie führt der Beitrag von Franz M. Wuketits über „Die Grenzen der Moral. Moralischer Universalismus im Lichte der Evolutionären Ethik.“ Konsequent entwickelt Wuketits seine Überlegungen zu einer biologisch fundierten Ethik aus der Darwinschen Evolutionstheorie. Die Verbindung zum „Curriculum Weltgeschichte“ besteht in der Notwendigkeit der Vermittlung von Wertkonzepten auch im Rahmen des Geschichtsunterricht und insbesondere im Kontext eines globalen Konzepts in der Geschichtsdidaktik. Die evolutionäre Ethik zielt darauf ab, Verhaltens- und Handlungsstrukturen, kooperatives Verhalten und Altruismus eingeschlossen, als Anpassungen an unsere evolutionäre Vergangenheit, vor allem an die Umwelt des späten Pleistozäns und des postglazialen Neolithikums zu erklären (S. 128). Dabei kennt die „Natur“, also das Reproduktionssystem des Organischen und die Gesamtheit der Lebewesen, selber keine „Moral“, setzt ihr aber sozusagen durch ihre Regeln von Selbsterhaltung und Fitneßimperativ „natürliche“ Grenzen. Dies führt konkret zu einem moralischen Relativismus, der in globaler Perspektive die Augen für fremde Wertesysteme öffnet und die notwendige Toleranz schafft.

Gabriele Herzog Schröder beleuchtet anschließend „gender“ aus ethnologischer Perspektive, um einem „Curriculum Weltgeschichte“ gewissermaßen prophylaktisch diese Kategorie ins Stammbuch zu schreiben. Gerade der ethnologische Zugang eröffnet Perspektiven für eine global orientierte historische Bildung, da hier Kompetenzen für das Verstehen und die Interpretation von illiteraten und damit per klassischer Definition „geschichtslosen“ Kulturen bereitstehen, die es für das „Curriculum Weltgeschichte“ zu nutzen gilt.

Ebenfalls der ethnografischen bzw. ethnopädagogischen Perspektive ist der Beitrag von Erich Renner über indigene Pädagogik als Motor kultureller Selbstbestimmung am Beispiel der Navajo-Reformschule Rough Rock verpflichtet. Ähnlich wie auch Wuketits legt Renner Wert auf eine Rekonstruktion historisch-kultureller Vielfalt im Gegensatz zur bislang üblichen westeuropäischen Perspektive.

Der dritte Teil des Sammelbandes beschäftigt sich mit internationalen Lehrplanperspektiven. Gemäß der oben angesprochenen Fokussierung auf die Frage der Interdisziplinarität, werde ich diesen sowie den vierten Teil, der sich mit ausgewählten Zugängen zur Weltgeschichte beschäftigt, hier nur kurz vorstellen. Hanna Schissler handelt über „Weltgeschichte als Zeitgeschichte. Orientierungsbedürfnisse der Gegenwart am Beispiel der USA und Deutschlands“. Sie kann dabei eindrucksvoll zeigen, wie sich in der Weltgeschichte immer auch zeithistorische Orientierungsbedürfnisse dokumentieren. Luigi Cajani stellt sodann das italienische Curriculum für Weltgeschichte vor und berichtet über Modelle, Erfahrungen und Kontroversen. Aus der Praxis des japanischen Schulunterrichts erfahren wir sodann von Hiroto Oka genaueres zu Konzeptionen und Intentionen des „Weltgeschichtsunterrichts“ in diesem Land. Peter Ziegler präsentiert anschließend „Weltgeschichte“ im fächerübergreifenden Unterricht an den Zürcher Volksschulen.

Abschließend werden vier ausgewählte Zugänge zum Thema geboten, die unterschiedliche Epochen oder Faktoren im Kontext des Curriculums Weltgeschichte untersuchen. Zunächst untersucht Karl Pellens den Einfluss globaler Faktoren und Elemente auf die historisch-politische Identitätsbildung von Schülerinnen und Schülern – ein Thema, das eng an die Überlegungen von Johanna Forster in diesem Band anschließt. Frank Meier bricht einen Stab für die Aktualität des europäischen Mittelalters in einem global orientierten Geschichtsunterricht und regt insbesondere die Behandlung des Themas „Reisen im Mittelalter“ in diesem Zusammenhang an. Die Umweltgeschichte wird anschließend von Bernd-Stefan Grewe an ihren notwendig prominenten Platz in einem Lehrplan für „global history“ gehoben. Zum Schluss lotet Detlev Clemens Chancen und Grenzen weltgeschichtlicher Konzepte in der Perspektive der Bildungskooperation auf europäischer Ebene aus. Dies ist sicher der Rahmen, in dem in Zukunft verstärkt neue Curricula entwickelt und auch konsensfähig sein müssen.

„Global History“ oder das „Curriculum Weltgeschichte“ ist sowohl Aufgabe als auch Methode für eine neue Orientierungschance der Geschichtswissenschaft hin zu einem globalen und interdisziplinären Weltbild, dass sowohl die individuelle und gesellschaftliche Konstruktion von Wissenschaft und Lehre berücksichtigt als auch die Erkenntnisse der Naturwissenschaften integriert. Es ist der besondere Verdienst der Herausgeberinnen dieses Sammelbandes, nicht nur die aktuellen Tendenzen, Entwicklungen und Probleme in der internationalen Lehrplanentwicklung aufgezeigt, sondern darüber hinaus die Notwendigkeit eines interdisziplinären Ansatzes für eine überzeugende und stimmige Konzeption von „global history“ vorgestellt zu haben.

Anmerkungen:
1 Siehe zur Begrifflichkeit der neuen „global history“ auch die zweite Diskussionseinheit im Heft 1 der Zeitschrift „Erwägen Wissen Ethik“ Jg. 14 (2003), S. 75–135, sowie die Internetseite des NGH (New Global History) Netzwerks [http://web.mit.edu/newglobalhistory/index.html].
2 Vgl. auch Spier, Fred, Big History. Was die Geschichte im Innersten zusammenhält, Darmstadt 1998, sowie Smith, Malcolm (Hg.), „Human Biology and History“, London 2002 (Society for the Study of Human Biology Series: 42).
3 Siehe auch Wettlaufer, Jörg, Von der Gruppe zum Individuum. Probleme und Perspektiven einer „evolutionärer Geschichtswissenschaft“, in: Selzer, S.; Ewert, U.C. (Hgg.) „Menschenbilder – Menschenbildner“. Individuum und Gruppe im Blick des Historikers. Werner Paravicini zum 60. Geburtstag, hg. von S. und U.-C. Ewert, Berlin 2002, S. 25-52. [Achtung! Sinnentstellender Druckfehler S. 45/46. Es fehlen zwei Zeilen am Ende der Seite. Die korrekte Version kann als Preprint unter http://www.fibri.de/texte/Individuum&Gruppe.pdf.pdf abgerufen werden.]

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension