H. Dähn u.a. (Hgg.): Staat und Kirchen in der DDR

Cover
Titel
Staat und Kirchen in der DDR. Zum Stand der zeithistorischen und sozialwissenschaftlichen Forschung


Herausgeber
Dähn, Horst; Heise, Joachim
Reihe
Kontexte. Neue Beiträge zur Historischen und Systematischen Theologie 34
Erschienen
Frankfurt am Main 2003: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
272 S.
Preis
€ 40,40
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ellen Ueberschär, Theologische Fakultät, Fachbereich Kirchengeschichte, Philipps-Universität Marburg

Beim vorliegenden Sammelband handelt es sich um so etwas wie eine Festschrift aus Anlass des 60. Geburtstages des Institutsgründers Horst Dähn. Das unabhängige kleine ‚Institut für vergleichende Staat-Kirche-Forschung’ betätigt sich seit etwa zehn Jahren vorwiegend auf dem Feld der DDR-Kirchengeschichte. Der Band versammelt eine Reihe von Aufsätzen, die den Versuch unternehmen, einen Forschungsstand zum Themenkomplex ‚Staat und Kirchen in der DDR’ zu eruieren. Diesem Unterfangen widmen sich mit unterschiedlichen Ansätzen die weitaus meisten Beiträge.

Der umfangreichste stammt aus der Feder von Anke Silomon, einer Mitarbeiterin der von der Evangelischen Kirche in Deutschland getragenen Arbeitsgemeinschaft für kirchliche Zeitgeschichte. Silomon liefert einen umfangreichen Literaturbericht, den sie nach formalen Kriterien gliedert. Eine der wenigen historiographischen Aussagen, die sie trifft, bezieht sich auf die Periodisierung der DDR-Kirchengeschichte, die laut Silomon „zumeist“ angewendet wird – in dieser Form allerdings bereits vor dem Ende der DDR deutlich war. Im Blick auf die deutschlandpolitische Rolle der Kirche vertritt Silomon die in der Arbeitsgemeinschaft der EKD favorisierte Darstellung, nach der die Evangelische Kirche als deutsch-deutsche Klammer fungierte, diese nach Mauerbau und Kirchentrennung allerdings in eine Brückenfunktion umdeutete.

In den Verlauf des Literaturberichtes bettet Silomon die Aktivitäten der Arbeitsgemeinschaft der EKD ein, wodurch deutlich wird, dass diese der Fixierung der bisherigen Forschung auf das Staat-Kirche-Verhältnis, die von den meisten Autoren des Bandes entweder beklagt oder konstatiert wird, zumindest nicht entgegengesteuert hat. Mit dem emeritierten Kirchenhistoriker Rudolf Mau und dem Sozialwissenschaftler Detlef Pollack kommen zwei Autoren zu Wort, die einschlägige Untersuchungen zum Forschungsfeld bereitgestellt haben. Rudolf Mau bietet einen knappen, instruktiven Überblick über die Entwicklung der kirchengeschichtlichen Forschung in den letzten 10 Jahren.

Unvermeidlich schien ihm offenbar die nochmalige ausführliche Auseinandersetzung mit den allgemein als methodisch und sachlich unzulänglich eingeschätzten Bänden von Gerhard Besier. Eine grundsätzliche Fragestellung, die nach Meinung von Mau das Urteil über Christen und Kirchenfunktionäre bestimmen sollte, müsste sich nach der "in ihren eigenen Voraussetzungen begründeten Orientierung" richten, nicht nach einer "wie auch immer formulierte(n) political correctness" (S. 146). Dieser Rat an die Zeithistoriker muss als problematisch angesehen werden, weil er in der Praxis die Selbstrechtfertigung der ihre eigene Geschichte aufarbeitenden Akteure legitimiert und historisches Fragen an theologische, vorwiegend konfessionelle, Deutungsmuster bindet.

Pollack, der 1994 mit einem sozialwissenschaftlichen Ansatz die bis heute einzige zusammenhängende Darstellung der DDR-Kirchengeschichte vorlegte, charakterisiert das im selben Jahr erschienene Buch von Mau als "Anti-Besier en miniature" (S. 72). Auch Pollack setzt sich mit dem umstrittenen Forscher auseinander. Er trifft den entscheidenden Punkt, wenn er darlegt, dass Besier die "Perspektive Gottes" (S. 72) in Anspruch nehmen will und dafür auf die Analyse gesellschaftlicher und sozialer Rahmenbedingungen kirchlichen Handelns verzichtet. Diese Erkenntnis ist allerdings nicht neu. Bereits 1996 warf der Tübinger Neuzeithistoriker Anselm Döring-Manteuffel – in Abwandlung eines berühmten Buchtitels Fritz Fischers – Besier den "Griff nach der Deutung" vor.

Im Übrigen resümiert Pollack zwei Schwerpunkte der bisherigen Forschung: Neben dem Staat-Kirche-Verhältnis hätte die sozialwissenschaftlich orientierte Richtung sich für die Entkirchlichungs- und Säkularisierungsprozesse in der DDR interessiert. Das letztere Themenfeld ist überschaubar, weswegen auch Pollack sich intensiv dem ersten widmet. Nicht besonders einsichtig ist der Vorwurf mangelnder "Kontextsensibilität" an Sebastian Engelbrecht, der im Jahr 2000 eine noch von Kurt Nowak angeregte und betreute Dissertation zum kirchenleitenden Handeln der sächsischen Landeskirche in den 1970er Jahren vorgelegt hat. Pollack bezichtigt Engelbrecht, zuwenig von "Entscheidungsdilemmata" zu sprechen und dafür zuviel von "Halbherzigkeit" und "fehlendem Mut" (S. 74).

Auf den ersten Blick scheint Pollack sich hier mit jenen Versuchen solidarisch zu zeigen, die kirchenleitendes Handeln für sakrosankt halten. Das aber ist, wie seine eigenen Untersuchungen verdeutlichen, nicht sein Anliegen. Vielmehr verfällt Pollack hier einer deterministischen Kontexthypersensibilität, die den Verhältnissen alles, den Einzelnen nichts zutraut. Aus der Erforschung des Dritten Reiches ist aber bekannt, dass das "Entscheidungsdilemma" eine Grundstruktur der Existenz in der Diktatur ist und demzufolge gerade viel an der Entscheidungsfähigkeit und -willigkeit der Einzelnen hängt. Aufschlüsse darüber sollten sich eigentlich aus der umfangreichen Untersuchung seines eigenen Doktoranden gewinnen lassen, der "auf der Grundlage von biographischen Interviews" der Frage nachging, welchen Einfluss biografisch erworbene Handlungs- und Einstellungsmuster auf den Umgang führender Repräsentanten der Evangelischen Kirchen in der DDR mit den politischen Erwartungen des politischen Systems hatten (S. 75). Trotz verständlich langer Lobrede auf die Untersuchung von Findeis ist, laut Pollack, dessen generationentheoretischer Ansatz "nur bedingt für die Formulierung von generalisierten Aussagen geeignet" (S. 76).

Eine im Sinne des Institutsnamens tatsächlich vergleichende Perspektive ergibt sich mit dem Aufsatz von Gerhard Lange, einem katholischen Theologen und Zeithistoriker. Beklagen die evangelischen Zeithistoriker ein Zuviel an kirchengeschichtlicher Heilsperspektive, so trifft auf die katholische Zeitgeschichtsschreibung genau das Gegenteil zu – die weitgehende Abwesenheit einer theologischen Perspektive. Das hat seine Gründe primär in der personellen Struktur der zeithistorischen Forschung auf katholischer Seite. Vorwiegend Allgemeinhistoriker widmen sich dem Untersuchungsbereich Kirche, und Lange klagt: "Kirchliches Handeln wird dann von einem Politikbegriff her betrachtet", der dem Phänomen Kirche – "ihrem Sein und ihrer Sendung" – nicht gerecht wird (S. 153). Der Vergleich mit leidvollen Erfahrungen aus dem evangelischen Bereich provoziert die Rückfrage, ob ihr eine Theologisierung der katholischen Zeitgeschichtsforschung tatsächlich zu Gute käme.

Lange bringt eine Chronik der Aufarbeitungsgeschichte, die er mit den Umstrukturierungen in der katholischen Kirche in den 1990er Jahren verknüpft. Interessant ist daran, dass er die kirchliche Vorgehensweise zur Bewältigung der MfS-Problematik ausführlich einbezieht. Die Forschungsberichte aus dem evangelischen Bereich ließen die landeskirchlich unterschiedlichen Verfahrensweisen zumeist unberücksichtigt, weil sie auf die öffentlichkeitswirksamen Publikationen von Besier zum Thema fixiert waren.

Zwei Beiträge sui generis bilden die Aufsätze von Joachim Heise und Reinhard Henkys. Letzterer, der sich selbst nicht gern als Nestor der DDR-Kirchenberichterstattung bezeichnen lässt, es aber tatsächlich ist, berichtet so präzise wie spannend vom Aufbau seiner journalistischen Arbeit in der DDR und resümiert: "Im Rückblick wissen wir, dass westliche Medienkontrolle bedrängten DDR-Bürgern eher Schutz als Schaden gebracht hat." (S. 50) Joachim Heise, der Mitinitiator des Instituts, unternimmt den zaghaften Versuch, kirchengeschichtliche Forschung in Institutionen nachzuzeichnen, die mit dem Ende der DDR unmittelbar versanken, bzw. vollständig abgewickelt wurden. Heise war Mitarbeiter an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften, der Denkfabrik, die sich die Partei zur Munitionierung ihrer "wissenschaftlichen" Weltanschauung geschaffen hatte.

Notwendig muss Heise sich in Widersprüche verwickeln, wenn er einerseits darlegt, dass historische Forschung zur Geschichte der Kirchenpolitik der SED "immer den Nachweis zu erbringen (hatte), dass die Partei – trotz Fehlern und Schwächen Einzelner – immer recht hatte" und andererseits behauptet, er hätte sich bei seiner Arbeit "selbstverständlich der in der Geschichtswissenschaft üblichen Methoden und Instrumentarien" bedient (S. 60). Wie der rechthaberische Anspruch der Partei mit der Suche nach der historischen Wahrheit zu vereinbaren ist, bleibt das Geheimnis von Heise.

Aus den offenbar überwiegend von der SED ignorierten Arbeiten, die Heise und seine Kollegen über die Kirchenpolitik anfertigten, und den wenigen Gesprächen mit ZK-Funktionären, den eigentlichen Auftraggebern, konstruiert Heise ein Modell der "Politikberatung" (S. 60), das jedoch – wie so vieles im realen Sozialismus – nicht funktionierte. Eine gewisse Merkwürdigkeit stellt der Beitrag des Jubilars Dähn zur westdeutschen historischen und sozialwissenschaftlichen Bearbeitung der DDR-Kirchen vor 1989 dar. Zwar ist es interessant, sich noch einmal vor Augen zu führen, dass in den 1960er und 1970er Jahren eine rechtswissenschaftliche Sicht auf das Staat-Kirche-Verhältnis vorherrschte, dann allerdings im Literaturbericht aktuellen Stils fort zu fahren, ohne biografisch-motivationale und – wie Pollack fordert – kontextsensible Kriterien anzulegen, lässt die Frage nach dem Erkenntniswert der Unternehmung aufkommen.

Der Band enthält weitere Beiträge von Ralf Rytlewsiki zum Vergleich als historischem Instrumentarium, von Hermann Weber zur DDR-Forschung allgemein, von Friedrich Winter, der profunde die Quellen zur Berlin-Brandenburgischen Kirchengeschichte dokumentiert, von Bruce W. Hall, einem amerikanischen Doktoranden über sein Forschungsprojekt zu kleineren Religionsgemeinschaften, von Robert F. Goeckel, der kenntnisreich die lebhafte amerikanische Debatte zum Thema auffächert, von Jürgen J. Seidel, der über seine eigenen Verdienste hinaus die Schweizer Sicht, insbesondere die problematische Haltung Karl Barths, beschreibt und von Hans Dieter Döpmann zur Vergangenheitsbewältigung in den Ländern Ost- und Südosteuropas, der sich auf Russland und Bulgarien konzentriert.

Der gesamte Band lässt erkennen, dass die gleichzeitig beklagte Fixierung auf das Staat-Kirche-Verhältnis anhaltend vorherrscht. Diese Perspektive wird offensichtlich von vielen Akteuren gestützt, die ihre eigene Geschichte bearbeiten. Von der Empfehlung Pollacks allerdings, es seien "in erster Linie nicht weitere Einzelstudien zu spezifischen Problemfeldern oder einzelnen kirchenpolitischen Ereignissen vonnöten" (S. 89), sollten sich zukünftige Doktoranden nicht abschrecken lassen. Ein Vergleich – ganz im Sinne des Instituts – mit der Erforschung der NS-Herrschaft zeigt, dass Einzelstudien wegweisende Fährten legen können.

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