P. Burke: Papier und Marktgeschrei

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Titel
Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft


Autor(en)
Burke, Peter
Erschienen
Anzahl Seiten
318 S.
Preis
€ 24,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Cord Arendes, Institut für Politikwissenschaft, Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald

Die ‚wissensbasierte Dienstleistungsgesellschaft‘ ist in der öffentlichen Diskussion in der Bundesrepublik in letzter Zeit zu einem geflügelten Wort geworden. Neben dem gern verfochtenen Postulat der Notwendigkeit ‚lebenslangen Lernens‘ steht dabei in besonderem Maße eine umfassende Öffnung des Wissens und der Wissenschaft gegenüber ökonomischen Verwertungsinteressen im Zentrum. Das Thema ‚Wissen‘ ist im Alltag ständig und überall präsent. Es stellt sich die Frage, ob nach ‚Erlebnis‘- und ‚Risikogesellschaft‘ nun von einer ‚Wissenschaftsgesellschaft‘ gesprochen werden sollte. 1 Die Antwort darauf muss indessen negativ ausfallen. Revolutionäre Umwälzungen in den Bereichen Wissen und Wissenschaft hat es bereits zu früheren Zeiten immer wieder gegeben. Die heute als besonders eng empfundene Verflechtung von Wissen bzw. Wissenschaft, Politik und Ökonomie stellt ebenfalls keine spezielle Entwicklung unserer Zeit dar, sondern kann auf eine sehr lange Kontinuitätslinie zurückblicken, wie der englische Kultur- und Sozialhistoriker Peter Burke in seinem Buch zur Entstehung der Wissensgesellschaft deutlich darlegt: „Die Kommerzialisierung von Information ist so alt wie der Kapitalismus selbst“ (S. 9).

In dieser Essaysammlung, die auf verschiedene frühere Aufsätze, Seminare und Vorlesungen zurückgeht, versucht Burke, sich dem Themenkomplex ‚Wissen‘ auf einer theoretischen Grundlage zu nähern. Sein Hauptziel dabei ist, „die Eigenheiten der Gegenwart genauer zu definieren, indem diese unter dem Blickwinkel der longue durée betrachtet wird“ (S. 10). Die Geburtsstunde der Wissensgesellschaft lokalisiert Burke in der Frühen Neuzeit, dem Zeitraum zwischen Renaissance und Aufklärung – im übrigen dem bevorzugten Arbeitsgebiet des Autors. Als Markierungspunkte dienen dabei die Erfindung des Buchdrucks und das Erscheinen der Encyclopédie, kurz: die Zeit von „Gutenberg bis Diderot“ (S. 20). Die neun Kapitel des Buches widmen sich jeweils ausgewählten Aspekten der frühneuzeitlichen Wissensgesellschaft sowie der Entstehung und dem Wandel ihrer Schlüsselbegriffe.

In Rahmen der Einleitung skizziert Peter Burke zuerst einige Überlegungen zum Thema Soziologie und Geschichte des Wissens. Die Wissenssoziologie erlebte nach ihrer Etablierung als eigene wissenschaftliche Disziplin am Anfang des 20. Jahrhunderts seit den sechziger Jahren eine umfassende Renaissance. Vom kulturwissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet beschäftigt sie sich heute vor allem mit der Konstitution und Produktion von Wissen, den daran beteiligten Individuen, ihrer Sprache und ihren Praktiken, der Erweiterung um potentielle und praktische Wissensträger, der Ebene der Mikrosoziologie sowie den Bereichen Gender und Geografie. Im zweiten Kapitel geht es Burke um die „Entdecker, Produzenten und Verbreiter“ (S. 29) des Wissens, die gemeinhin als Intellektuelle bezeichnet werden und denen Mannheim die Aufgabe zuschrieb, „der Gesellschaft eine Deutung der Welt zu liefern“ (S. 29). Die Erfindung des Buchdrucks eröffnete diesen Gelehrten völlig neue Aufstiegsmöglichkeiten, besonders in kirchlichen und staatlichen Institutionen. Ihre unterschiedlichen beruflichen Stellungen, zum Beispiel als päpstliche Sekretäre, politische Berater oder Universitätsprofessoren, ermöglichten den Gelehrten jeweils eigene Gruppenidentitäten zu entwickeln.

Im dritten Kapitel folgt eine Beschreibung der Organisationsformen des Wissens. Am Beispiel der Institution Universität lässt sich der in der Frühen Neuzeit einsetzende Wandel folgendermaßen beschreiben: Die traditionelle Nähe von Universität und Kirche wurde aufgehoben und die Förderung der Gelehrten ging in den Aufgabenbereich weltlicher Herrscher über. Neben unzähligen neuen Universitäten entstanden botanische Gärten und Forschungslabore sowie in der Folgezeit wissenschaftliche Gesellschaften und Akademien. Besonderes Augenmerk muss Burke zufolge auf die Differenzierung dieser neuen Institutionalisierungsformen gelegt werden: Neben Initiativen im Rahmen der Universität gab es auch Gründungen „von unten“ – durch Gruppen gleich gesinnter Wissenschaftler – oder „von oben“ wie zum Beispiel der von einigen Regierungen in Auftrag gegebene Bau von Observatorien (S. 55).

Mit zunehmender Bindung der Gelehrten an ‚ihren‘ Landesherren setzte eine umfassende Territorialisierung des Wissens ein. Das vierte Kapitel beschäftigt sich deshalb mit der „Bedeutung der Standorte in der Geschichte des Wissens“ (S. 69). Auf der Mikroebene geht es hierbei um die langsame Veränderung der so genannten „Sitze des Wissens“ (S. 71). Die zunehmende Konzentration des Wissens im öffentlichen Raum machte Städte wie das zeitgenössische Rom, London oder Paris zu „Hauptstädte(n) des Wissens“ (S. 80). Auf der Makroebene wurde die Geschichte des Wissens in der Frühen Neuzeit lange Zeit als „Verbreitung von Kenntnissen, insbesondere wissenschaftlicher Art, von Europa in andere Teile der Erde“ (S. 73) verstanden. Burke dreht diesen Interaktionszusammenhang von Zentrum und Peripherie um: Unter dem Begriff der ‚Zentralisierung‘ stellt er den „Import von Wissen“ (S. 77), also die Bewegung von der Peripherie zu den europäischen Zentren, in den Vordergrund seiner Überlegungen.

Wie Burke im fünften Kapitel zeigt, bildete der Staat in vielerlei Hinsicht schon immer die oberste Informationssammelstelle. An die Lokalisierung des Wissens schließen deshalb Fragen der Systematisierung, Aufbereitung und Verbreitung direkt an. Anhand verschiedener Klassifikationsformen des Wissens wie Curricula, Bibliotheken oder Enzyklopädien und ihres Wandels möchte Burke zeigen, wie neues Wissen traditionellen Strukturen angepasst wurde, aber auch, wie es die alten Strukturen langfristig veränderte: zum Beispiel im Rahmen der Neuordnung von Bibliotheken (S. 125f.) oder der Methodisierung von Museen (S. 128f.). Standen für lange Zeit die Bestrebungen der Kontinuität und Reproduktion von Wissen im Mittelpunkt, so fand im Verlauf der Frühen Neuzeit eine umfassende Reorganisation statt. Die Neuordnung erfolgte unter den Leitlinien der Differenzierung und Spezialisierung.

Die bedeutende Rolle, welche Politik, Kirche und Ökonomie bezüglich der Produktion von Wissen und seiner Verbreitung spielten, wird von Burke im sechsten und siebten Kapitel unter den Stichworten ‚Kontrolle‘ und ‚Markt‘ abgehandelt. Dabei richtet er den Blick besonders auf unterschiedliche Formen der Sammlung und Speicherung von Informationen durch kirchliche und staatliche Obrigkeiten (u.a. Archive) und auf Fragen der Zensur. Gezielte Produktion und „Verkauf von Informationen“ (S. 175) sind nicht nur prägende Merkmale der heutigen Zeit. Sie leisten seit je her einen bedeutsamen Beitrag zum Wirtschaftssystem. Eine wichtige Rolle spielten in diesem Zusammenhang die Erfindung des Buchdrucks, das Aufkommen des Druckereigewerbes und die erstmalige gesetzliche Definition eines Urheberrechtes in England im Jahre 1709.

In den beiden abschließenden Kapiteln widmet sich Peter Burke den Konsumenten von Wissen, den Lesern (literarischer Ansatz). In diesem Zusammenhang geht es um das Entstehen neuer Formen des Erwerbs (Subskriptionslisten), der Rezeption (Nachschlagewerke) und der Verwendung von Wissen. Im abschließenden Kapitel fragt er nach der generellen Zuverlässigkeit von Wissen (philosophischer Ansatz). Für das Europa der Frühen Neuzeit sieht Burke „das Aufkommen verschiedener Arten von Skepsis gegenüber Wissensansprüchen“ (S. 231) als charakteristisch an. Die kursorischen Überlegungen kreisen dabei um die Gegensatzpaare wahr und unwahr bzw. authentisch und verfälscht.

Insgesamt gelingt es Peter Burke in den einzelnen Kapiteln auf überzeugende Weise einen Spannungsbogen zwischen Fragen der Kontinuität und der Diskontinuität bei der Entstehung bzw. Weiterentwicklung der Wissensgesellschaft in der Frühen Neuzeit zu ziehen. Hervorzuheben ist dabei, dass er neben den wissenschaftlichen auch traditionelleren Formen des Wissens (mündliche Tradierung, Bilder, Landkarten) seine Aufmerksamkeit schenkt und auf diese Weise nachdrücklich die „Pluralität des Wissens“ (S. 22) verdeutlicht. Das Buch bietet somit seinen Lesern einen guten und gleichfalls informativen Überblick. Diese positive Bewertung verdankt sich auch der Vielzahl literarischer Hinweise, die zu einer weitergehenden Lektüre einladen und zugleich unzählige Anregungen für weitere Einzelstudien zum Thema liefern. Die vom Autor Peter Burke gewählte Form der Essaysammlung birgt allerdings einen entscheidenden Nachteil in sich. Die einzelnen Kapitel bieten zwar ein Kaleidoskop an Informationen und Ideen, eine systematische Analyse bleibt aber leider aus.

Dies ist um so bedauerlicher, da das Buch zu weiteren Fragen geradezu herausfordert: Welche Erkenntnisse über die ‚Eigenheiten der Gegenwart‘, die sich zuallererst durch immer raschere und weitreichende Veränderungen kennzeichnen lässt, bringt uns der Blick auf die ‚longue durée‘ der Wissensgesellschaft? Ist beispielsweise ein Vergleich moderner elektronischer Speichermedien mit der Encyclopédie Diderots überhaupt sinnvoll? Die Auswirkungen des historischen Übergangs von Mündlichkeit zur Schriftlichkeit, die mit einer Entkopplung von Interaktion und Kommunikation einhergingen, fanden in der Frühen Neuzeit mit der Durchsetzung des Buchdrucks ihren Höhepunkt. Der Übergang von der Schrift zu technischen bzw. elektronischen Medien bedeutet aber zusätzlich eine (zumeist) vollständige Entkopplung von Kommunikation und Information. Das zukünftige Ausmaß der Auswirkungen dieser Entwicklung auf die Gesellschaft lässt sich heute bestenfalls erahnen und ist ohne historische Vorbilder. So kommt beispielsweise dem Problemkomplex, der sich mit dem Begriff ‚Herrschaftswissen‘ kennzeichnen lässt, im Zeitalter der elektronischen Medien (wieder) eine wachsende Bedeutung zu. Die Gefahren eines Ausschlusses von den Töpfen des gesellschaftlichen Wissens wiegen heute ungleich schwerer, weil im Unterschied zu früheren Epochen ein allgemeiner Zugang zu den Quellen des Wissens für alle gesellschaftlichen Aufgaben stillschweigend vorausgesetzt wird. Es ist deshalb davon auszugehen, dass sich das Problem der Zugangsmöglichkeiten und -beschränkungen in der näheren Zukunft zu einer sozialen Frage neuen Stils auswachsen wird. Für diese konkreten Probleme bietet der ansonsten lesenswerte Blick auf die ‚longue durée‘ der Wissensgesellschaft leider keine Erklärungsansätze.

Anmerkung:
1 Die noch weiter reichende Frage, ob es gar einer speziellen Wissenschaft für die Wissenschaftsgesellschaft bedarf, ist somit nur eine logische Konsequenz aus der vorhergehenden Diskussion. Ihr geht beispielsweise der Bielefelder Soziologe Peter Weingart in seinem neuesten Projekt nach. Vgl. hierzu FAZ vom 11.05.2003, S. 59 (Sonntagsausgabe).

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