R. Siegbert: Steuerpolitik und Gesellschaft

Titel
Steuerpolitik und Gesellschaft. Vergleichende Untersuchungen zu Preussen und Baden 1815-1848


Autor(en)
Siegert, Rosemarie
Reihe
Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 63
Erschienen
Anzahl Seiten
458 S.
Preis
€ 99,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mark Spoerer, Fg. Wirtschafts- u. Sozialgeschichte, Universität Hohenheim

Im Zuge der Modernisierungsdiskussion war die Steuerpolitik des 19. Jahrhunderts ein relativ beliebtes Untersuchungsobjekt in dem Jahrzehnt um 1980. In den letzten Jahren ist es jedoch ziemlich still geworden um die Finanzgeschichte. Die Anregungen, die insbesondere die (nun auch nicht mehr so) "Neue Politische Ökonomie" in die Finanzwissenschaft eingebracht hat, sind von der Finanzgeschichte (nicht nur in Deutschland) nicht aufgegriffen worden. Allerdings hat die sich als kritisch verstehende Finanzgeschichte der 1970er und 1980er Jahre ohnehin nie den Staat als wohlwollenden Diktator sehen wollen, wie es die konventionelle Finanzwissenschaft damals häufig noch tat, sondern sich realistischerweise stark mit den Interessenlagen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen auseinandergesetzt.

Im Guten wie im Schlechten steht die Arbeit von Rosemarie Siegert in dieser finanzhistorischen Tradition. Im Guten, weil sie die vormärzliche Steuerpolitik Badens und Preußens stets vor dem Hintergrund der jeweiligen (fiskal-) politischen Interessen der einzelnen Akteursgruppen ausleuchtet. In der Einleitung reißt sie kurz die Steuersysteme Frankreichs (Objekt- bzw. Ertragsteuersystem) und Englands (Subjekt- bzw. Personalsteuersystem) an, also der Vorreiter, an denen sich die süddeutschen Staaten bzw. Preußen ausrichteten, sowie die herrschenden Steuerlehren. Im zweiten Kapitel werden sowohl für Baden als auch für Preußen der verfassungspolitische Hintergrund und der Aufbau der Verwaltung, insbesondere der Steuerbehörden geschildert. Nach diesen einleitenden Ausführungen folgt eine Beschreibung der grundlegenden Steuerreformen Badens zwischen 1808 und 1815 sowie Preußens zwischen 1810 und 1822. Im vierten und mit Abstand längsten Kapitel geht Siegert auf die einzelnen Steuerarten ein: die preußische Grundsteuer, Klassensteuer, Mahl- und Schlachtsteuer sowie Gewerbesteuer; die badische Grundsteuer, Häusersteuer, Gewerbesteuer und Klassensteuer; anschließend auf die weiteren indirekten Steuern in Preußen und Baden. Sehr verdienstvoll sind der Abschnitt über die Steuerpraxis und das darauf folgende fünfte Kapitel über kommunale Einnahmen und Ausgaben. Dies ist der Autorin hoch anzurechnen, weil viele Autoren die Kommunalsteuern mit dem Hinweis darauf vernachlässigen, dass sie erst gegen Ende des Jahrhunderts im Zuge der sich beschleunigenden Urbanisierung wichtig geworden wären. Diese Auffassung verwechselt das Fehlen selbst grundlegendster Daten für die Kommunalbesteuerung mit ihrer Bedeutung. Die war, wie Siegert zeigt, durchaus hoch, und zwar nicht nur ökonomisch, das heißt in Hinsicht auf die Belastung des Steuerzahlers, sondern auch politisch. Art und Höhe der Kommunalsteuern hingen nämlich vor allem in Baden ganz erheblich von den Staatssteuern ab, zu denen sie als Zuschläge erhoben wurden. In Preußen verhinderte dies eine frühere Abschaffung der höchst umstrittenen Mahl- und Schlachtsteuer, zumal sich die Groß- und Mittelstädte an diese bequeme Einnahmequelle gewöhnt hatten und bei der Einführung alternativer Steuern mit höherem Verwaltungsaufwand und stärkerem Steuerwiderstand hätten rechnen müssen. Und, was wohl entscheidend war, es hätte eine Verlagerung der Steuerlast von den unteren zu den oberen Schichten zur Folge gehabt. Im sechsten Kapitel geht Siegert auf den Nexus zwischen Steuerleistung und Wahlrecht (bzw. Stimmgewicht) ein. Hier wird deutlich, dass die Besteuerung im Vormärz nicht nur eine fiskalisch-technische, sondern zugleich eine höchst politische Komponente aufwies, die ein zusätzliches Hindernis für Reformen darstellte. Im siebten Kapitel schließlich geht es um die Impulse der Revolutionen von 1848, die freilich mittel- und langfristig weder in Baden noch in Preußen viel bewirken konnten. Nicht die politischen Ereignisse der Jahrhundertmitte bewirkten eine nachhaltige Umgestaltung des Steuersystems, sondern der bald darauf einsetzende wirtschaftliche Strukturwandel. An die Zusammenfassung hat Siegert noch ein Glossar angefügt, in dem die wesentlichen steuerlichen Termini aus dem Vormärz erklärt werden sollen.

An diesem Glossar, so verdienstvoll es eigentlich angesichts der komplexen Materie ist, lässt sich das große Manko der Darstellung festmachen: eine Darstellung, die sich über 400 Seiten mit Steuern beschäftigt, sollte wenigstens ansatzweise auf den elementarsten finanzwissenschaftlichen Grundlagen stehen. Das Glossar zeigt, dass dies nicht immer der Fall ist (vgl. die Erklärungen für Degression, Opfertheorie, Progression). Es geht nicht an, zur Erklärung wichtiger Begriffe jeweils einen beliebigen Zeitgenossen zu bemühen, eben weil die Besetzung dieser Begriffe Teil der zeitgenössischen Diskussion war. Dabei ist es keineswegs so, dass etwa den Zeitgenossen diese Termini und ihre wesentlichen Zusammenhänge nicht bekannt gewesen wären. Zwei Aspekte seien hier herausgegriffen, die in Siegerts Darstellung durchweg oberflächlich behandelt werden. Erstens ist dies die Frage der Steuerinzidenz, die schon damals stark umstritten war. Wie jeder Autofahrer weiß, liegt die tatsächliche Last der Mineralöl- und jeder anderen "indirekten" Steuer nicht oder kaum beim Tankstellenpächter, der die Steuer an das Finanzamt zahlt, sondern ganz wesentlich bei ihm, dem Kunden, weil die Steuerlast auf ihn "überwälzt" wird. Nun war die Frage, wie viel der formal die Steuer abführende Produzent an seine Kunden oder Lieferanten überwälzen konnte schon damals umstritten und wie heute keineswegs auf indirekte Steuern beschränkt. 1 Grundsteuer, Gebäudesteuer und Gewerbesteuer stellten ebenfalls eine Last für Produzenten dar, über deren Weiterwälzung auch bei den Experten keine einheitliche Meinung existiert(e). Diese Unsicherheit - und dieser Punkt fehlt bei Siegert wie überhaupt jeder explizite Hinweis auf die ganze Inzidenzproblematik - brachte erhebliche Unschärfe in die zeitgenössische Diskussion über die zu erwartenden Auswirkungen einer Reform auf die Steuerlastverteilung. Sie arbeitete daher den Verfechtern des status quo zu.

Der zweite und grundsätzlichere Kritikpunkt betrifft den häufigen und meist doch recht unreflektierten Gebrauch des Attributs 'gerecht' in Bezug auf die Besteuerung. In der Finanzwissenschaft werden horizontale und vertikale Gerechtigkeit unterschieden. Dass horizontale Gerechtigkeit – gleiche Steuerschuld bei gleichem Steuertatbestand – wünschenswert ist, dürfte auch heute kaum jemand bestreiten. Doch was sind gleiche steuerliche Merkmale? Die zeitgenössischen Steuerexperten unterschieden zwischen ‚fundiertem‘, d.h. auf realem, physisch greifbaren Besitz basierenden Einkommen und ‚unfundiertem‘, dessen Quelle lediglich monetäre Form hatte (z.B. Anleihen). Heute mag dies antiquiert erscheinen, doch die Zeitgenossen hatten offenbar die Konnotation unterschiedlich hohen Risikos und wollten daher unfundiertes Einkommen etwas weniger belasten. Ist also schon das Konzept der horizontalen Gerechtigkeit bei näherem Hinsehen nicht immer einfach, so trifft dies in unvergleichlich höherem Ausmaß für vertikale Steuergerechtigkeit zu. Es gab und gibt nun einmal keine allgemein akzeptierte Norm für das Ausmaß der steuerlichen Umverteilung. Bei Siegert erscheint alles unreflektiert als ‚gerecht‘, was zu einer Umverteilung von ‚unten‘ nach ‚oben‘ bewirkt. Angesichts des Elends in den 1830er und vor allem den 1840er Jahren wird ihr da wohl jeder aus der Retrospektive zustimmen können. Aber eine konkrete Ausgestaltung des Umverteilungsziels betrifft eben nicht nur die Ärmsten und Reichsten, sondern auch die mittleren Einkommens- bzw. Gesellschaftsschichten. Und deren Steuerexperten zerbrachen sich daher sehr wohl den Kopf über die Inzidenz von Steuern, was in einer Fülle von entsprechenden Publikationen seinen Niederschlag fand. Siegert umgeht diese komplexe, bis heute nicht gelöste Materie und stellt stattdessen die progressive Einkommensteuer als das verteilungspolitische Paradigma dar, an dem sie die zeitgenössische Politik misst. Nun muss man sehen, dass sowohl Baden wie auch insbesondere weite Teile Preußens im Vormärz scheinbar hoffnungslos rückständig waren. Selbst England konnte die Einkommensteuer erst 1842 anhaltend einführen. Aufgrund ihrer gründlichen und detaillierten Ausleuchtung der zeitgenössischen Veranlagungspraxis benennt Siegert selbst die Gründe, weshalb eine Einkommensteuer in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Baden, Preußen oder sonst wo in Deutschland kaum Aussicht auf Erfolg gehabt hätte (und ja deswegen bereits 1811/12 in Preußen gescheitert war): die fehlende Rechenhaftigkeit der meisten Wirtschaftssubjekte. Eine flächendeckende allgemeine Einkommensteuer hätte neben der politisch heiß umstrittenen Frage der Kontrolle erst einmal vorausgesetzt, dass bis herunter zu einzeln arbeitenden Handwerksmeistern und kleinen Kaufleuten so etwas wie Buchführung existiert hätte. Dies war jedoch meist nicht der Fall. Die Frage der ‚Steuergerechtigkeit‘ vor der Folie der Einkommensteuer zu sehen erscheint daher nicht ganz fair, zumal gerade Baden ein gutes Beispiel dafür ist, dass ein durchdachtes Ertragsteuersystem in einem bestimmten Stadium der wirtschaftlichen Entwicklung durchaus adäquat sein konnte.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Siegert eine vorzügliche Deskription der badischen und preußischen Steuerpolitik und Steuerpraxis vorgelegt hat, die einen hervorragenden Einstieg in das Thema ermöglicht. Baden und Preußen sind ein glücklich gewähltes Gegensatzpaar, das wegen seiner Unterschiede die Handlungsspielräume der zeitgenössischen Akteure gut erkennen lässt. Siegert hat dies übrigens unter weitgehendem Verzicht auf ungedruckte Quellen zu Wege gebracht und sich für Baden weitaus stärker auf die Protokolle der Kammerverhandlungen gestützt. Kritisch anzumerken ist allerdings die mangelnde Tiefenschärfe. Es gibt keine über das Narrative hinausgehende Fragestellung, keine echte These und keinen Bezug zur finanzwissenschaftlichen Theorie, noch nicht einmal in der Begrifflichkeit.

Anmerkung:
1 Vgl. etwa Scheer, Christian, Steuer, Steuerverteilung und Steuerinzidenz in der deutschen Finanzwissenschaft der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der Einfluss der britischen Nationalökonomie, in: Scherf, Harald (Hg.), Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie, Bd. 6 (Schriften des Vereins für Socialpolitik, N.F., Bd. 115.6), Berlin 1988, S. 105-169.

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