U. Herbert (Hrsg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland

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Titel
Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945-1980


Herausgeber
Herbert, Ulrich
Reihe
Moderne Zeit. Neue Forschungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts 1
Erschienen
Göttingen 2002: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
587 S.
Preis
€ 40,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Franz-Werner Kersting, Westfälisches Institut für Regionalgeschichte Münster und Universität Siegen

Der Sammelband stellt die Zwischenergebnisse einer 1997 gebildeten Freiburger Forschungsgruppe um Ulrich Herbert zur ‚inneren’ Geschichte der Bundesrepublik vor. An der Seite des Herausgebers (Jg. 1951) kommen durchweg jüngere Historikerinnen und Historiker zu Wort. Ihr gemeinsames Anliegen wird von Herbert im Rahmen einer langen einleitenden „Skizze“ über „Liberalisierung als Lernprozess. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte“ als Versuch der analytischen „Auflösung“ eines „geradezu atemverschlagend[en]... Widerspruchs“ bezeichnet: Gemeint ist die frappierende „Differenz zwischen einer orientierungslosen, durch das NS-Regime tief geprägten und durch Bombenkrieg, Vertreibung und Kriegsniederlage traumatisierten Gesellschaft nach 1945 einerseits und der – bei allen spezifisch deutschen sowie den für westliche Gesellschaften insgesamt gültigen Defiziten – doch bereits stabilen, prodemokratisch orientierten und sich weiter liberalisierenden Gesellschaft der Bundesrepublik seit den 70er Jahren andererseits“ (S. 7f.). „Atemverschlagend“ sei dieser Prozess der „Fundamentalliberalisierung“ (Jürgen Habermas) von Staat, Politik, Gesellschaft und Kultur allein schon deshalb, weil er sich innerhalb einer Zeitspanne von weniger als 25 Jahren, praktisch also innerhalb nur einer Generation, vollzogen habe - mit der „Zeit zwischen etwa 1959 und 1973/74 als Kernphase“ ( S. 14).

Die Einzelbeiträge des Bandes weisen ungeachtet ihrer je eigenen thematischen Schwerpunktsetzung deutliche Gemeinsamkeiten auf, die einen intensiven Projektverbund und -diskurs signalisieren: Alle Aufsätze sind sehr systematisch angelegt (Einstieg, Leitfragen, Einzelbefunde, Zwischenbilanzen, Resümee), flüssig geschrieben und basieren teils auf neu erschlossenen (Archivalien, Bundestagsprotokolle, Presseartikel etc.), teils auf neu ‚gelesenen’ Quellen (aus Nachkriegswissenschaft und -publizistik). Gemeinsam ist den Autorinnen und Autoren aber auch ein hohe methodisch-analytische Sensibilität für die zeitgenössische Offenheit der untersuchten Wandlungsprozesse: Sie verliefen nicht einfach linear „vom Dunkel ins Licht“ (Sybille Buske, S. 345), sondern in der Regel äußerst ambivalent und konfliktreich, in einer Mischung aus fragwürdigen alten und noch unerprobten neuen Handlungsmustern, aus (persönlichen) Verwerfungen und mutigen Reforminitiativen.

Ihre Aufsätze gruppieren sich um vier große Themenfelder, die zugleich die Arbeitsschwerpunkte des Freiburger BRD-Projekts bilden und auch den inhaltlichen Aufbau des vorliegenden Bandes bestimmen. Im ersten Abschnitt geht es unter der Überschrift „Abwehr und Legitimation“ um Formen der intellektuellen und gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung mit der „deutschen Katastrophe“ (Friedrich Meinecke). Gemeinsam zeigen hier Jan Friedmann, Jörg Später („Britische und deutsche Kollektivschuld-Debatte“), Nicolas Berg („Lesarten des Judenmords“) und Jan Eckel („Intellektuelle Transformationen im Spiegel der Widerstandsdeutungen“), wie auf den „Furor der Zurückweisung“ (Friedmann, Später, S. 90) tatsächlicher oder vermuteter Schuldvorwürfe und „jeglichen Nachdenkens über die Kontinuitäten deutscher Geschichte“ (Berg, S. 125), die anfängliche perspektivische Verengung und Verzerrung des westdeutschen (Selbst-)Bilds von NS-Zeit und Judenmord, die ablehnende (geschichtswissenschaftliche) Rezeption früher ausländischer Standardwerke zum Thema (Reitlinger, Hilberg, Shirer) sowie die entschuldende „Moralisierung und Ethisierung der Widerstandsgeschichte“ (Eckel, S. 159) schließlich ein langer öffentlicher Prozess der allmählichen selbstkritischen Aneignung der NS-Vergangenheit folgte.

Im zweiten Abschnitt („Kontinuität und Integration“) analysiert und dokumentiert Patrick Wagner die „Resozialisierung der NS-Kriminalisten“ und Bernhard Brunner die „Lebenswege der deutschen Sipo-Chefs in Frankreich“ (Kurt Lischka, Hans Luther u.a.) nach 1945. Hier geht es sowohl um die „Mechanismen der schrittweisen Einhegung und Selbsteinhegung NS-belasteter Führungskader“ (Wagner, S. 180) und die eklatanten Versäumnisse bei ihrer Strafverfolgung als auch um die (auf den ersten Blick irritierende) partielle Gleichzeitigkeit von personeller Kontinuität und mentalem Einstellungswandel und den vergangenheitspolitischen Klimawandel ab Ende der 50er Jahre, der den früheren NS-Funktionseliten das „Abducken in die Normalität“ (Brunner, S. 230) dann mehr und mehr erschwerte.

„Politische Umorientierungsprozesse“ bilden den Focus des dritten Kapitels: „Auf der Suche nach der demokratischen Gesellschaft“ (Moritz Scheibe) und „Die Journalisten und der Aufbruch zur kritischen Öffentlichkeit“ (Christina von Hodenberg) lauten hier die Themen. Moritz Scheibe beleuchtet den intensiven und facettenreichen Eliten-Diskurs zwischen den späten 50er und frühen 70er Jahre um die grundsätzliche „Frage nach der modernen und demokratischen Gesellschaftsverfassung jenseits der politischen Institutionen“ (S. 262). In diesem „Demokratiediskurs“ (S. 264) fanden die Stimmen für mehr Öffentlichkeit, Partizipation und Konfliktaustragung nicht zuletzt deshalb verstärkt Gehör, weil sie mit dem Beginn eines gleichgerichteten Mentalitäts- und Lebensstilwandels im öffentlichen und privaten Raum zusammenfielen.

Doch kam es schließlich im Zeichen der „Hochwassermarke“ (Wilhelm Damberg) von ‚1968’ auch zu einer politischen „Aufladung, Dynamisierung und Radikalisierung des Demokratiediskurses“ (S. 264). Sie förderte neue Lagerbildungen unter liberalen und konservativen Intellektuellen und legte dabei auch den faktisch illiberalen Kern vermeintlicher „Demokratie“-Befürworter frei (z.B. Schelsky). Christina von Hodenberg kommt im Lichte ihrer Befunde ebenfalls zu dem Ergebnis, dass sich eine „politische Öffentlichkeit, die Kritik, Konflikt und Kontrolle einschloss, [...] in der Bundesrepublik erst um die Wende zu den 60er Jahren entwickeln“ konnte (S. 309). Jetzt erhielt der regierungskonforme „Konsensjournalismus“ der Ära Adenauer erste Risse durch eine verstärkte (zeitgenössisch so bezeichnete) „Zeitkritik“ einzelner liberaler Fernsehmagazine (bes. „Panorama“) und Presseorgane („Spiegel“ u.a.) Doch beleuchtet von Hodenberg erstmals auch die zum Teil heftigen NS- und lebensgeschichtlich bedingten „Auseinandersetzungen zwischen post-1945 und prä-1945 Medieneliten“ (S. 292), die allerdings einen auch unter Journalisten breit vorhandenen „Integrationswillen“ gegenüber belasteten Kollegen keineswegs ausschlossen.

Die abschließende vierte Sektion „Abweichung, Norm, Einstellungswandel“ ist zugleich die umfangreichste des Bandes. Hier wird in allen Beiträgen die Zäsur von 1945 mehr oder weniger weit „nach vorn“ überschritten, fast immer bis zur Jahrhundertwende, teils sogar bis weit ins 19. Jahrhundert hinein. Ein wesentlicher Grund ist der übergreifende Befund der Autorinnen und Autoren, dass im Übergang von den 1940er zu den 50er Jahren althergebrachte bürgerliche und „christlich-abendländische“ Wert-, Moral- und Ordnungsvorstellungen eine spürbare Renaissance erlebten – bedingt sowohl durch die ausgeprägte Destabilisierung und Verunsicherung der „Zusammenbruchgesellschaft“ als auch durch tiefsitzende kulturkritische und anti-westliche Ängste vor den rasanten Entwicklungen der „Moderne“. Schließlich war die Zäsurüberschreitung aber auch notwendig, um nach dem Fortwirken und allmählichen Abschleifen spezifisch nationalsozialistischer Disziplinierungs- und Ausgrenzungsmuster fragen zu können. Der gemeinsame Nenner aller Beiträge dieses vierten Abschnitts ist im Grunde die Frage nach Ausformung und Wandel der „normativen Konstitution“ (Torsten Gass-Bolm, S. 437) der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Erforscht wird sie vor allem im Spiegel jener Expertendiskurse (insbes. Juristen, Kriminologen, Psychiater, Pädagogen, Soziologen), Rechtsparagraphen, Gesetze und Institutionen, die gemeinsam – wenn man so will - das ‚normative Korsett’ der Gesellschaft schnürten, überwachten oder auch allmählich lockerten!

In diesem Sinne beschäftigt sich Sybille Buske mit der „Debatte über ‚Unehelichkeit’“. Sie zeichnet jenen Paradigmenwechsel seit den 60er Jahren nach, durch den „Illegitimität nicht mehr als individuelle Verfehlung und Schuld“ gebrandmarkt, sondern vielmehr „die prekäre soziale Lage nichtehelicher Kinder und ihrer Mütter als Produkt rechtlicher Benachteiligung und sozialer Diffamierung interpretiert“ (S. 341) und schließlich gesetzlich erleichtert und besser abgesichert wurde („Nichtehelichengesetz“ von 1970); wobei erstmals in der Geschichte der Unehelichkeit auch Formen der „Selbstorganisation und Lobbybildung“ der betroffenen alleinerziehenden Mütter wirksam wurden.

Imanuel Baumann analysiert die „Interpretation und Sanktionierung von Jugendkriminalität“. Er zeigt, dass nach 1945 mit dem „Rekurs auf die Konstruktion des [vermeintlichen] Psychopathen, auf die Kategorie der ‚Willensschwäche’ und die ‚Vererbbarkeit’ sozialer Verhaltensweisen [...] Traditionen virulent waren, die lange vor 1933 einsetzten“ (S. 349). Erst in den 60er Jahren zeichnete sich ein grundlegender Wandel ab – hin zu einem mehr soziologischen Verständnis von Jugendkriminalität als ‚abweichendes Verhalten’ mit Anspruch auf „Therapie“ statt „vorbeugender Verwahrung“ (S. 376f.).

Mit Baumanns Befunden in vielem vergleichbar ist der Beitrag von Julia Ubbelohde über den „Umgang mit jugendlichen Normverstössen“. Denn sie zeigt für den Diskurs um Jugendschutz, Jugendfürsorge und Jugendarbeit, wie auf diesen Feldern ‚sozialpathologische’ Leitbegriffe wie „Verwahrlosung“ und „Asozialität“ und „[totale] Institutionen des Eingriffs und des Zwangs“ (S. 432) schließlich ebenfalls zunehmend in die Kritik gerieten, wobei die „öffentliche Skandalisierung der Heimerziehung“ (S. 434) im Umfeld von ’68 besondere Wirkung zeigte. Die „Hilfe für das Individuum“ sollte auch hier künftig Vorrang haben vor dem „Schutz der Gesellschaft“ (S. 417).

Doch geht Ubbelohdes Aufsatz zunächst die Studie von Michael Kandora über „Homosexualität und Sittengesetz“ voran. Er beschreibt die lange Geschichte (1871-1994!) des § 175 StGB, der homosexuelles Verhalten als „widernatürliche Unzucht“ und schweren Verstoß gegen das „Sittengesetz“ unter Strafe stellte: „In ihm kam die Einstellung der deutschen Gesellschaft gegenüber Unsittlichkeit, Unzucht und sexueller ‚Normalität’ besonders deutlich zum Ausdruck.“ (S. 381). Vor dem Hintergrund eines tiefgreifenden Wandels im sexual-moralischen Normengefüge (nicht nur) der westdeutschen Gesellschaft der 60er Jahre läutete die Große Strafrechtsreform von 1969/73 das endgültige Ende der so langen Diskriminierung und Kriminalisierung von Homosexualität ein. Zwar wurde der § 175 StGB noch nicht endgültig abgeschafft, hatte aber fortan nur noch die Form einer Jugendschutzvorschrift, während die freiwillige Homosexualität unter Erwachsenen jetzt erstmals straffrei blieb.

Der Band schließt mit Aufsätzen über „Das Ende der Schulzucht“ (Torsten Gass-Bolm) und das Problem von „Zwangseinweisungen in die Psychiatrie“ (Cornelia Brink). Gass-Bolm arbeitet insbesondere an gymnasialen Freiburger Fallbeispielen den „Wandel von Strafmaßbegründung und -anlässen in der Schulpraxis“ (S. 436) und damit auch Veränderungen im Schulrecht und im Lehrer-Schüler-Verhältnis heraus (mit dem Nachweis wichtiger schulrechtlicher Reformimpulse bereits in den 50er Jahren). Brink analysiert im Kontext weit ausgreifender grundsätzlicher professions-, gesellschafts- und kulturgeschichtlicher Überlegungen zur besonderen Stellung der Psychiatrie, ihrer Akteure, Einrichtungen (Stichwort „totale Institutionen“) und Patienten,‚Opfer’, die Nachkriegsdebatte der Experten um ein neues ‚Freiheitsentziehungsverfahrensgesetz’ sowie die Unterbringungsgesetze und Einweisungspraxis der Länder bis hin zum allgemeinen Reformaufbruch im Zeichen der „Psychiatrie-Enquete“ von 1971/75.

Stärker als die anderen Autorinnen und Autoren macht Cornelia Brink dabei gleichzeitig auf fortbestehende Desiderate der Forschung aufmerksam: Der Focus der ausgewählten Quellen liegt ganz überwiegend bei den Experten aus Psychiatrie, Justiz, Verwaltung und Politik selbst. Die Quellen „übergehen [damit aber] den Gesichtspunkt derer, auf die die Politik der psychischen Gesundheit ‚angewendet’ wird“ (S. 469). Dieser wichtige ‚selbstkritische’ Hinweis lenkt den Blick zugleich auf die alltags- und lebensgeschichtlichen Desiderate der (Freiburger) Bundesrepublikforschung: Im Falle der Psychiatrie ist dies eben, wie Brink zeigt (vgl. S. 497, 507), die konkrete Geschichte von Patienten und Patientinnen, ihrer Angehörigen und ihres näheren lebensweltlichen Umfeldes, aber auch die Geschichte der ‚Opfer’ der Psychiatrie- und Anstaltsreform seit den 70er Jahren - wie der vielen chronisch psychisch Kranken, die jetzt in kleine improvisierte oder heruntergekommene Heime ‚abgeschoben’ wurden.

Doch wären solche Fragen und Ebenen eben auch für die anderen der in Abschnitt IV behandelten gesellschaftlichen Gruppen und Diskurse noch eingehender zu verfolgen: Wie tief ging der konstatierte zivilgesellschaftliche Wandel hin zu mehr Liberalisierung wirklich? Wo stieß er im Alltag an Grenzen oder brachte selbst neue Problemlagen hervor? Welche regionalen, kulturellen und lebensweltlichen Ungleichzeitigkeiten lassen sich ausmachen? Sind schließlich nicht auch deutliche Relativierungen der langfristigen ‚Erfolgsbilanz’ zu erwarten gerade mit Blick auf solche Randgruppen der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, die der Band unberücksichtigt lässt (wie z.B. Migranten, Obdachlose, Opfer nationalsozialistischer Verfolgung oder politische Minderheiten jenseits des etablierten Parteiensystems)? Und was macht den – im vorliegenden Band zweifellos unterbelichteten – historischen Ort der ‚68-Bewegung’ im Gesamttrend der ‚inneren’ Demokratisierung der Bundesrepublik aus?

Eine weitere Historisierung des Paradigmas der „Liberalisierung“ ist also ‚angesagt’. Gerade hierfür hat die Publikation wichtige Grundlagen und Impulse geliefert.

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