M. Horvath u.a. (Hgg.): Jenseits des Schlussstrichs

Titel
Jenseits des Schlussstrichs. Gedenkdienst im Diskurs über Österreichs nationalsozialistische Vergangenheit


Herausgeber
Legerer, Anton; Horváth, Martin; Roth, Stefan; Pfeifer, Judith
Erschienen
Wien 2002: Löcker
Anzahl Seiten
336 S.
Preis
€ 25,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Berthold Molden, Wien

Wir erinnern uns des publizistischen Rundumschlages, den der ehemalige Rektor der Wiener Hochschule für Angewandte Kunst, Rudolf Burger, gegen alle möglichen Formen kollektiven Gedenkens des Nationalsozialismus und seiner Opfer führte. Burgers These ist einfach, weil sie vereinfacht: Da er als einzig über die Generationen zu übertragendes psychisches Moment ein „Schuldtrauma“ der Täter nennt, das er bei Freud nicht verorten kann, ist ihm jedweder affektiver Bezug Nachgeborener auf Weltkrieg und Holocaust bloß „politische Erpressungsstrategie mit moralischen Mitteln“.

Andere setzten sich in weniger polemischer Weise mit dem potentiellen Erbe des Nationalsozialismus auseinander. Gut zwanzig Jahre nach dem Ende des Dritten Reiches haben A. und M. Mitscherlich den Ausdruck von der „Unfähigkeit zu trauern“ für die deutsche Nachkriegsgesellschaft geprägt und damit das Dilemma all jener beschrieben, die in der nationalsozialistisch geprägten Gesellschaft ihre Identität geformt und ihr Ich-Ideal mit ihrem Führer besetzt hatten. Selbst als nach 1945 auch jene Gesichter des Regimes allgemein bekannt wurden, die zuvor nicht in ihrem ganzen Grauen deutlich gewesen waren, blieben Einfühlung und innere Anteilnahme für das eigene Verhalten im Dritten Reich weitgehend aus. Mitscherlichs sprachen von Selbstschutz, mit dem ein totaler Selbstwertverlust und eine kollektive Melancholie vermieden wurden.

Das Resultat war ein Schweigen, dessen Last, will man Psychologen wie Dan Bar-On – der Kinder von Tätern und Opfern erstmals in therapeutischen Gruppensitzungen zusammenbrachte – glauben, nicht mit der sogenannten ersten Generation verschwand. Der Geschichtstheoretiker Jörn Rüsen hat vor einigen Jahren eine Idealtypologie der NS- und ihrer zwei Nachfolgegenerationen vorgeschlagen, die die These der ausgebliebenen Trauer benutzt, um eine deutsche Identitätsgeschichte zu skizzieren. Demnach integrierte zwar die zweite, also die Generation der „Täterkinder“ das Dritte Reich kritisch in die deutsche Geschichte, traf aber dabei auf das Problem, dass auf eine negative Identität zu bauen kaum möglich ist. So wäre es nun die Rolle der Enkel, sich mit den Tätern zu identifizieren. Wie? Durch Trauer, Trauer über die Aufgabe von Humanität, die ihre Großeltern im Nationalsozialismus begangen hatten. So würde der kollektive Identitätsbildungsprozess vorangetrieben, ein noch immer offener Abschnitt seines Genesens gewissermaßen geschlossen, ohne damit freilich das Erinnern zu beenden.

Die Avantgarde einer solchen dritten Generation in Österreich, organisiert im Verein „Gedenkdienst“, hat nun unter dem Titel „Jenseits des Schlussstrichs“ ein Resümee ihrer 10jährigen Arbeit gezogen. Der Verein Gedenkdienst ist in Österreich vor allem für das Zivildienst-Projekt bekannt, dem er sein Entstehen verdankt: Über 120 Zivildienstpflichtige haben seit 1992 einen Ersatzdienst an einer von derzeit 19 internationalen Einsatzorten absolviert: Im Museum Auschwitz, Yad Vashem, dem Leo Baeck Institute in New York, dem Amsterdamer Anne Frank Haus und verschiedenen anderen Einrichtungen, die sich dem Gedenken des Holocaust oder der Hilfe für Überlebende widmen. Die im Anschluss an die Waldheim-Affäre und Franz Vranitzkys Grundsatzrede vor dem Nationalrat 1991 vollzogene Wende in der Haltung des offiziellen Österreich zu seiner Vergangenheit schuf die Möglichkeit, dass junge Menschen sich quasi als Botschafter dieses Österreich engagieren können. Über den Europäischen Freiwilligendienst steht nun auch Frauen eine Basisfinanzierung für solche Einsätze offen.

Das Buch, das bereits vergangenen Mai auf einer zeitgeschichtlichen Tagung präsentiert wurde und nun Ende Jänner den Bruno Kreisky-Anerkennungspreis für politische Bücher erhielt, gibt einen Überblick über die Geschichte dieses Engagements. Beiträge von Mitarbeitern des Vereins machen deutlich, wie schwierig es sein kann, mit einem politisch-historisch so expliziten Projekt nicht parteipolitisch etikettiert zu werden, und dass öffentliche Lippenbekenntnisse und diplomatische Vereinnahmung noch keine verlässliche Finanzierung bedeuten müssen. Einige Einsatzberichte geben außerdem einen Eindruck von den Arbeitsbedingungen etwa im Archiv des Museums Auschwitz oder im Leo Baeck Institute. Besonders für junge Kulturwissenschaftlerinnen und –wissenschaftler dürfte es inspirierend sein zu verfolgen, wie aus der Initiative einiger Zivildiener ein so ambitiöses Oral History-Unterfangen wie das Austrian Heritage Project entstand, das – in der Folge unterstützt vom Kulturinstitut in New York, der Nationalbank und dem Nationalfonds für Opfer des Nationalsozialismus – die Geschichte von mittlerweile über 2000 österreichischen NS-Flüchtlingen im Raum New York in Interviews dokumentiert.

Doch der Band geht über die Dokumentation des Zivil- und Freiwilligenprojektes weit hinaus. Er will eine Antwort auf die eingangs ausgeführte Frage geben, wie sich diese „dritte Generation“ nach 1945 positionieren kann und soll, wenn sie nicht Teile der kollektiven Identität verleugnen und Forderungen nach einer seelischen Rechtssicherheit nachgeben will. Horváth, Legerer, Pfeifer und Roth ist es gelungen, einen illustren Kreis von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu gewinnen, deren Beiträge dieses Thema über Österreich hinausgehend kontextualisieren. Der bereits erwähnte Dan Bar-On liefert eine Einführung in die sozialpsychologische Einschätzung des Mitläufer-Phänomens. Norbert Frei, Historiker an der Bochumer Ruhr-Universität, wirft in einem kurzen Essay die Frage nach dem Generationenkampf um Erinnerung auf, eine These, der die österreichische Zeithistorikerin Margit Reiter in ihrem Beitrag widerspricht: sie untersucht die Generationen in Anlehnung an Pierre Noras Diktion in ihrer Eigenschaft als Gedächtnisorte. Heidemarie Uhl geht der Generationenfrage über den Perspektivenwechsel in der Zeitgeschichte nach dem linguistic turn nach.

So interessant viele dieser Denkansätze sind, kann ihnen doch die Kritik nicht erspart bleiben, dass einige mehr Platz gebraucht hätten, um ihre Argumentation zu entwickeln. Hier bleiben sie mitunter auf einer essayistischen Ebene des Andenkens und lassen gerade ein (populär-) wissenschaftliches Publikum unbefriedigt zurück. Brigitte Bailer-Galanda etwa verspricht in ihrem Titel die Auseinandersetzung mit der spannenden Frage „Restitution. Warum sollen Generationen zahlen, die nichts verursacht haben?“, kommt aber auf ihren fünf Seiten nicht dazu, auch eine Antwort darauf zu geben. Vielleicht hätte es dem Buch gut getan, auf einige Texte zu verzichten und andere ausführlicher zu gestalten.

Jeweils mehrere Beiträge widmen sich auch der pädagogischen Vermittlung des Holocaust, und der Befragung von Überlebenden. In letzterem Zusammenhang findet sich einer der stärksten Beiträge des Bandes: die Reflexionen von Dorit Whiteman, die 1938 in die USA emigrieren musste und heute als Psychologin in New York lebt. Whiteman schildert ihren jahrzehntelangen Hass auf Österreich und seine Menschen – eine Haltung, mit der sie „zufrieden“ war – und wie dieser Hass einem ausgewogeneren Gefühl Raum machte, in dem auch die Zuneigung zu ihrem Herkunftsland wieder möglich wurde. Die Ursache dafür war nicht das Vergehen von Zeit, noch das wiederholte Bereisen Österreichs, wo sie immer wieder Bestätigungen ihrer Abneigung vorfand. Es waren Begegnungen mit einzelnen Menschen – mit Ella Lingens, Michael Mitterauer, mit den Gedenkdienern in New York –, die sie letztlich versöhnten.

Wenn Margit Reiter die Generationen als Gedächtnisorte analysiert, so rührt sie damit auch an den Umstand, dass die „dritte Generation“, anders als ihre Eltern und Großeltern noch kaum eine Stimme im öffentlichen Diskurs-Konzert hat. „Uns hat keiner gefragt“ heißt denn auch ein Buch, das die jungen Deutschen und ihre Position in der generationsübergreifenden NS-Schuld-Diskussion zum Thema hat. „Jenseits des Schlussstrichs“ ist auf gewisse Art eine Umkehrung von Pierre Noras Unterfangen. Wenn Nora die Gedächtnisorte, populäre Kristallisationspunkte kollektiven Gedächtnisses, in seinem umfangreichen Projekt wieder der Wissenschaft einverleibt und so die Deutungshegemonie seiner Branche ein wenig wieder hergestellt hat, so erhebt hier gleichsam ein diskursiv bisher subalternes Subjekt seine eigene Stimme. Die „dritte Generation“ wurde bislang besprochen, nun spricht sie selbst. Es ist dies ein Schritt der Selbstermächtigung, jenem der sechziger Jahre vergleichbar, wenn auch anders in Form und Inhalt.

Man könnte nun „Jenseits des Schlussstrichs“ den Vorwurf machen, sich nicht entscheiden zu können, ob es den Weg des wissenschaftlichen Sammelbandes oder den einer aufwendigen Projektdokumentation gehen will. Beide Herangehensweisen vermischen sich, und zwei der Artikel sind nahe am Genre des Erlebnisberichts. Und doch macht eben dieses Nebeneinander theoretischer und deskriptiver Ansätze den besonderen Wert und Charme des Buches aus, weil darin das Wesen einer Gruppe deutlich wird, die sich nicht nur auf wissenschaftlichem Niveau, sondern auch mit persönlichem Engagement – und doch ohne naiven Radikalismus – um eine verantwortliche Verortung der österreichischen Zeitgeschichte in unserer Gesellschaft bemüht. In diesem Sinne ist es lesenswert gerade für jene, die eine solche Haltung mit „Gedenktaferl-Putzen“ zu verwechseln neigen.

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