A.v. Plato: Die Vereinigung Deutschlands

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Titel
Die Vereinigung Deutschlands - ein weltpolitisches Machtspiel. Bush, Kohl, Gorbatschow und die geheimen Moskauer Protokolle


Autor(en)
Plato, Alexander von
Erschienen
Anzahl Seiten
485 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Fred Oldenburg, Universität Köln

Der österreichisch-amerikanische Psychologe Watzlawick hat in Studien zur Kommunikationsforschung darauf hingewiesen, dass Menschen immer wieder vor der Gefahr stehen, bei der Inbesitznahme von Wirklichkeit die Fakten verdrehen zu wollen, damit sie ihrer eigenen Weltsicht entsprechen, statt die Sicht auf die Welt „den unleugbaren Gegebenheiten anzupassen“. 1 Alexander von Plato, Jahrgang 1942, will sich von Faches wegen damit nicht zufrieden geben. Schließlich ist er einer der Mitbegründer der seit 1988 bestehenden Zeitschrift für Biografieforschung und Oral History „BIOS“. Von Plato wurde 1993 zum Gründungsdirektor des Instituts für Geschichte und Biografie an der Fernuniversität Hagen berufen.

In seinem neuesten Buch bezeichnet er sich selbst als Detektiv, der in der Zeitgeschichte den Tätern auf die Schliche kommen will. Er sucht den beteiligten Charakteren und ihrem Handeln im Prozess der deutschen Einheit, ihren Widersprüchen und beschönigenden Retrospektiven nachzuspüren, aber noch mehr die „wirkliche Realität“ mit der beschriebenen, in Akten und dickleibigen Memoiren fixierten, abzugleichen.

Das Buch ist aus der Analyse von über 60 Interviews entstanden, die von Plato zusammen mit Christoph Blumenberg, dem Regisseur des ZDF-„Deutschlandspiels“, aus Anlass des 10. Jahrestages der Wiedervereinigung zur Vorbereitung für dieses zweiteilige Doku-Drama durchführte. Er versucht nunmehr anhand dieser Befragungen von Entscheidungsträgern und deren Umfeld, aus ihm zur Verfügung stehenden Materialsammlungen sowie aus Äußerungen in Memoiren und wissenschaftlichen Darstellungen, die Wahrheit über Motive, Aktionen, unterlassene Hilfeleistungen, aber noch mehr erstaunlicher Positionsänderungen zu destillieren. Schon bei seiner ersten Interviewrunde fiel ihm das Bemühen vieler Befragter auf, an neuen Legenden zu stricken, sich selbst oder ihre Gruppierung oft auf Kosten des erlebten Geschehens positiv darzustellen. Insofern ist das Buch auch ein Beitrag zur Ideologie- und Quellenkritik.

Den Schwerpunkt bildet dabei der sowjetische Entscheidungsprozess, wo eine historische Unterschleife der nächsten zeitgeschichtlichen Renovierung folgt. Aber auch der deutschen Mythenbildung, die eine nachträgliche Gutschrift der eigenen Verdienste aus Gründen des nationalen Konsenses, wenn nicht gar zugunsten einer für Machterwerb oder Machterhalt verwertbaren Heldenlegende ist, misstraut von Plato. Dabei kam ihm zugute, dass ihn einer der Berater des ehemaligen Generalsekretärs der KPdSU und letzten Präsidenten Gorbatschow, Anatolij Tschernjajew, die Einsicht sämtlicher in der Gorbatschow-Stiftung vorhandener Akten zum Thema „Wiedervereinigung“ ermöglichte, wobei es ihm nach eigenen Angaben erlaubt war, sogar die meisten Mitschriften „in der ersten handschriftlichen Notizform“ einzusehen.

Darüber hinaus hat er Protokolle der Gespräche „durcharbeiten“ können, die Gorbatschow mit anderen Politikern im Aus- und Inland geführt hatte. Hierbei handelt es sich allerdings nur um jene, die sich in der Gorbatschow-Stiftung befanden zumeist von Tschernajew als dem Protokollführer angefertigt oder von diesem im Falle der Aufnahme durch einen anderen Protokollanten gegengezeichnet worden waren. Die zur Verfügung gestellten Politbüromitschriften entstanden aus nachträglichen Zusammenfassungen durch Tschernjajew, dem verstorbenen innenpolitischen Berater Schachnasarow oder ZK-Sekretär Medwedjew. Ob sie quellenkritischer Überprüfung standhalten, steht auf einem anderen Blatt. Kurz vor Veröffentlichung des Buches hatte Tschernjajew noch mitgeteilt, nunmehr seien auch die Papiere der Stiftung Gorbatschows für 30 Jahre gesperrt. Doch bleibt von Plato in der Lage, die deutschen Gesprächsmitschriften (Note-taker auf der Seite des ehemaligen Bundeskanzlers zumeist H. Teltschik) mit denen der sowjetischen zu vergleichen, wobei auffällt, wie unterschiedlich die Akzente gesetzt wurden. In einer zweiten Interviewrunde mit deutschen und sowjetischen Gesprächsteilnehmern, vorwiegend den genannten Protokollanten, fasst von Plato nach, klärt uns über die auffälligsten Unstimmigkeiten und deren Ursachen auf.

In neun Kapiteln konfrontiert Alexander von Plato seine Gesprächspartner mit ihren früheren Stellungnahmen, unterschriebenen Grundsatzpapieren, prüft und sucht zu klären. Dadurch belegt er, dass der Wiedervereinigungsprozess niemals ohne die realistische Politik der USA unter George W. Bush senior und James Baker jr. hätte eingeleitet werden können. Gorbatschows Wirken sieht er weniger im Lichte seiner Verdienste um die deutsche Einheit oder in dem erstaunlichen Nachgeben ob der Nato-Erweiterung als vielmehr „in seinem herkulischen Versuch, die Sowjetunion aus dem bürokratisch-totalitären System herauszuführen und den osteuropäischen Staaten ihre Eigenständigkeit nach 50jähriger sowjetischer Hegemonie und Unterdrückung wieder zu geben ohne jedes militärisches Eingreifen“ (S. 422).

Dabei werden an verschiedenen Stellen Differenzen mit westlichen Darstellungen deutlich. Um nur ein Beispiel zu nennen: In amerikanischen Analysen wird beispielsweise das sensationelle Einlenken des sowjetischen Präsidenten Ende Mai 1991 auf den Verweis von George Bush auf die KSZE-Schlussakte zurückgeführt. In den sowjetischen Protokollen, die der Autor in der Gorbatschow-Stiftung auffand, ist von solch einem Bezug nicht die Rede. Im sowjetischen Protokoll wird vielmehr auf die Möglichkeit der Freiheit der Wahl jeden Staates, seinen Weg und seine Bündniszugehörigkeit zu wählen und damit auf Gorbatschows in Straßburg und Bonn vorgetragene und unterschriebene Position von 1989 verwiesen. Gorbatschow habe sich also nicht in einer „KSZE-Falle“, sondern in einer selbst gestellten Demokratiefalle („freie Wahl“ auch des Bündnisses und des sozialen Systems) befunden.

Ein weiteres Beispiel für unterschiedliche Wahrnehmung in höheren KPdSU-Gremien liefert der Autor hinsichtlich der im Januar 1990 getroffenen Moskauer Grundsatzentscheidung für die Freigabe der inneren deutschen Vereinigung. Seine Darstellung weicht erheblich von der des ehemaligen Botschafters in Bonn und damaligen ZK-Abteilungsleiters für internationale Verbindungen, Valentin Falin, in seinem Buch „Politische Erinnerungen“ ab. Sogar der Tag der Zusammenkunft muss nunmehr revidiert werden.

Neu ist auch, dass Alexander Jakowlew Präsident Gorbatschow Anfang des Jahres 1991 zu einem Staatsstreich gegen die Partei überreden wollte. Der abgelehnte Vorschlag des engen Gorbatschow-Anhängers im Beratergremien des Staatspräsidenten, aber auch im ZK-Sekretariat der KPdSU, weist uns noch einmal auf die Wechselfälle, auf die Gefährdungen des Prozesses der deutschen Einheit hin. Auch de Maizieres Hinweise darauf, dass Gentscher versucht habe, die DDR-Regierung auf europäischer Bühne zum Testen seiner Überlegungen vorzuschicken, sind pikant. Doch das sind nur einige der vielen Highlights, die uns von Plato zu berichten weiß. Dabei schont er keineswegs seine deutschen und westeuropäischen sowie US-amerikanischen Gesprächspartner.

Zusammenfassend und mit Blick auf aktuelle, in der BRD gehegte Mythen urteilt von Plato: In einem Zerrbild habe jede Parteiung ihren Platz und ihre Würde behalten. Die CDU könne für sich in Anspruch nehmen, die hiesige Führungsrolle ausgefüllt zu haben. Großzügig könne sich sogar die SPD, „die in diesem Prozess mit Ausnahme einiger Persönlichkeiten wie Willy Brandt und Hans-Jochen Vogel nur eine geringe Rolle spielte“, Verdienste zurechnen. Selbst jene Bündnisgrünen, die aus der DDR kamen, beanspruchen seit langem ein Verdienst dafür, die Einheit Deutschlands betrieben zu haben, obwohl doch nicht vergessen sein sollte, dass es ihr Ziel war, eine neue real-demokratische DDR neben der verachteten kapitalistischen Bundesrepublik Deutschland zu etablieren.

Die Intention des Buches ist es, neuen retrospektiven Fehleinschätzungen vorzubeugen. So weist von Plato im Schlusskapitel darauf hin, dass bei der Ausschmückung des „nationalen Wiedervereinigungsmythos in Deutschland“ eine gerechte Würdigung der amerikanischen Deutschland-Strategie kaum zu erwarten war. Man wird hinzufügen dürfen, dass das in Zeiten des wachsenden Anti-Amerikanismus, der freilich durch die verlogenen US-Begründungen für das Irak-Abenteuer noch zusätzlich genährt wird, für lange Zeit nicht zu erwarten sein wird. Und doch bleibt es richtig, auf entscheidende Anstöße Ronald Reagans und seines Nachfolgers wie auch des US-Botschafters in Bonn, Vernon Walters und der engsten Berater des Präsidenten Bush im NSC zu verweisen.

Als von Plato seine Untersuchung begann, war er der Meinung, Interviews ergäben wenig oder gar nichts an wissenschaftlicher Faktizität. Tatsächlich erweisen sich jedoch die Gegenüberstellungen von den in den Akten und Protokollen abgeschliffenen Formulierungen mit den Akteuren als durchaus bedeutsam für jeden, der sich mit dem Prozess der Wiedervereinigung Deutschlands und Europas beschäftigen will. Von Platos Buch enthält zusätzlich zum Abkürzungsverzeichnis eine kurze Zeittafel sowie eine ausführliche Bibliografie. Das Buch ist nicht nur jedem, der sich mit dem historischen Geschehen der Wiedervereinigung Deutschlands professionell oder als Multiplikator beschäftigt, dringend ans Herz zulegen. Es ist auch für den Kommunikations- und Sprachforscher von anregender Bedeutung, zudem von Plato zeigt, dass politische Wissenschaft des skeptischen, historisch gebildeten Analytikers, der die Herrschenden sowohl beim Wort nimmt als zusätzlich nach Maßgabe ihrer Taten beurteilt, auch in Zukunft dringend bedarf.

Watzlawick hatte uns provoziert, als er feststellte „[…], dass der Glaube, es gebe nur eine Wirklichkeit, eine gefährliche Selbsttäuschung der modernen Wissenschaft ist, dass es viel mehr zahllose Wirklichkeitsauffassungen geben kann, die alle das Ergebnis von vereinbarter Kommunikation und Konvention sind.“ 2 Insofern mögen die Bemühungen Alexander von Platos, die Realität des deutschen Vereinigungsprozesses anhand von wiederholten, zum Teil gegeneinander gestellten Interviews dialogisch-dialektisch zu sichten, zu beschreiben und zu analysieren zwar nur ein Ergebnis von Kommunikation sein. Aber sie enthalten doch stets einen unverzichtbaren Widerschein objektiver Realität.

Anmerkungen:
1 Vgl. Watzlawik, P., Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Wahn – Täuschung – Verstehen. München 2003, S. 7.
2 Ebd. S. 7.

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