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Titel
Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens


Herausgeber
Klein, Christian
Erschienen
Stuttgart 2002: J.B. Metzler Verlag
Anzahl Seiten
282 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Zahlmann, Historisches Seminar, Westfälische-Wilhelms-Universität Münster

Die Beobachtung, dass sich Biografien zunehmender Beliebtheit erfreuen, ist mittlerweile fast zu einem feuilletonistischen Gemeinplatz geworden. So widmete etwa der “Spiegel“ in seinem Special-Heft zur Buchmesse 2002 einen Schwerpunkt dem „Boom der Lebensbeschreibungen“ (S. 4) und in den Literaturbeilagen der Zeitungen nehmen Rezensionen zu Biografien stets einen großen Raum ein. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Biografien ist dagegen ausgesprochen spärlich. Zwar setzt sich im deutschen Sprachraum allmählich eine verstärkte Akzeptanz der Biografik als wissenschaftlicher Arbeitsform durch, doch selbst ein allgemein anerkannter Historiker wie Joachim Fest, sieht sich nach wie vor dazu gezwungen, seine biografische Methode zu rechtfertigen (vgl. Die Zeit vom 20.03.2003). Gerade im Zuge von Veränderungen in der aktuellen Kunstszene, die die performativen Anteile von künstlerischer Produktivität unterstreichen, kommt der Persönlichkeit des Künstlers wieder eine verstärkte Bedeutung zu. Die Biografik erlangt vor diesem Hintergrund eine besondere Aktualität.

Entsprechend dieser Aufwertung der Biografik sind in jüngerer Zeit einige Publikationen erschienen, die die Biografie als Genre selbst zum Thema machen, wobei allerdings die Tendenz vorherrscht, sich eher speziellen Aspekten der Auseinandersetzung mit Lebensbeschreibungen zu widmen. So befasst sich der von Andreas Schüle herausgegebene Sammelband zum Thema „Biographie als religiöser und kultureller Text“ (Münster 2002) vor allem mit religiösen Aspekten der Biografik und die von Irmela von der Lühe und Anita Runge verantwortete Ausgabe von „Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung“ mit dem Titel „Biographisches Erzählen“ (Stuttgart 2001) diskutiert entsprechend des Fokus des Forums insbesondere Geschlechter- und Genderfragen des biografischen Arbeitens.

Große Hoffnungen setzte der biografisch interessierte Leser in den von Christian von Zimmermann edierten Band „Fakten und Fiktionen. Strategien fiktionalbiografischer Dichterdarstellungen im Roman, Drama, Film seit 1970“ (Tübingen 2000), ist doch der Aspekt der Fiktionalität einer der umstrittensten Aspekte hinsichtlich der Glaubwürdigkeit biografischer (und auch autobiografischer) Texte. Hier bietet von Zimmermann durchaus anregendes Material. Leider blendet er die faktischen Biografien vollständig aus und enttäuscht insgesamt die Erwartungen an eine pointierte Biografik-Diskussion, wobei besonders die Einleitung des Herausgebers verärgert, der die Gelegenheit ungenutzt verstreichen lässt, das Thema seines Bandes in einen größeren Kontext einzubetten und historische Entwicklungen nachzuzeichnen, statt über große Strecken die aufgenommenen Beiträge nachzuerzählen.

Es schien fast so, als würden sich die Geistes- und Sozialwissenschaften angesichts eines offensichtlichen Theorie-Desiderats, vor einer Diskussion, die für eine breitere Öffentlichkeit von Interesse scheint, in Experten-Runden zurückziehen. Mit Skepsis musste man daher dem von Christian Klein herausgegebenen Sammelband „Grundlagen der Biographik“ begegnen, schien doch bereits der im Titel formulierte Anspruch außerordentlich anmaßend. Klein unternimmt den Versuch, einen systematischen Überblick über „Theorie und Praxis des biographischen Schreibens“ (so der Untertitel) zu bieten. Dieser Versuch ist zweifellos entstanden aus der Erkenntnis der mangelnden wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Genre, die dazu führte, dass es bislang kaum grundsätzliche Arbeiten zum Thema gibt. Der vorzustellende Sammelband erhebt den Anspruch, diese Leerstelle zu füllen und eine Art Einführung in die Biografik zu bieten, d.h. relevante theoretische Tendenzen aus den verschiedenen biografisch arbeitenden Disziplinen zusammenzufassen, Berichte aus der Praxis des Biografen zu bieten, anhand von literaturwissenschaftlichen Fallbeispielen die Chancen einer modernen Biografik zu veranschaulichen sowie die rechtlichen Probleme des biografischen Arbeitens zu klären. Das Ergebnis dieses Versuchs kann als überaus gelungen bewertet werden.

Die Einleitung von Klein bietet ausgehend vom gegenwärtigen Boom der Biografien eine prägnante Einführung in das Genre. Wesentliche Positionen der Geschichte und theoretischen Entwicklung der Biografie werden nachgezeichnet, was auch für Nicht-Spezialisten durchaus verständlich ist. Dabei räumt Klein en passant mit einigen fundamentalen Fehleinschätzungen dem Genre gegenüber auf, das von jeher mit einer Position zwischen den Wissenschaften, zwischen Primär- und Sekundärliteratur zu kämpfen hatte. Klein legt seinen Finger auf den wunden Punkt eines modernen Wissenschaftsverständnisses, das sich nämlich allerorten dazu bekennt, den Auszug aus dem Elfenbeinturm zu unterstützen und interdisziplinär zu arbeiten, das jedoch unmittelbar im Anschluss zum Althergebrachten zurückkehrt. In diesem Sinne ist auch Kleins Einleitung zu lesen, die nicht als enzyklopädischer Überblick missverstanden werden sollte, sondern als Positionierung des Bandes in der aktuellen Biografie-Debatte. Die Sichtachsen, die Klein in das Unterholz der Biografik schlägt, sind breit, und der Weg, auf den er seine Leser mitnimmt, wird bisweilen sehr schnell beschritten. Doch es gelingt ihm hierdurch nicht nur, das Potenzial des Themas unmittelbar und begeisternd zu vermitteln, sondern sich auch von seiner wissenschaftlichen Konkurrenz klar abzugrenzen. Dem biografischen Arbeiten, so verdeutlichen die Beiträge des Bandes insgesamt, ist ­ vor dem Hintergrund der verschiedenen biografisch arbeitenden Disziplinen ­ ein interdisziplinärer Ansatz inhärent und die Beschäftigung mit Biografik führt unmittelbar in zentrale, aktuelle Problembereiche der Geistes- und Sozialwissenschaften.

Die Aufsätze des Bandes, verfasst sowohl von biografisch arbeitenden Wissenschaftlern als auch von theoriebewussten Literaten, widmen sich, größtenteils auf hohem Reflexionsniveau, verschiedenen Aspekten biografischen Schreibens und lassen sich in drei Gruppen aufteilen: Den ersten Schwerpunkt bilden Beiträge, die eine Übersicht über den gegenwärtigen Stand der Biografie-Theorie vermitteln wollen, beginnend mit den „Überlegungen zu einer Theorie der literaturwissenschaftlichen Biographik“ von Peter-André Alt. Weitergeführt und disziplinär aufgefächert wird die Frage nach der Theoriefähigkeit des biografischen Arbeitens im Beitrag von Sigrid Weigel, die, ausgehend von postmodernen Ansätzen, das postalische Prinzip biografischer Darstellungen erörtert. Im Anschluss an Derridas Konzept der „Carte Postale“ definiert Weigel, in nicht immer leicht lesbarer Diktion, die Biografie eines Autors als ein Netz aus „Korrespondenzen und Konstellationen“. Ulrich Rauff widmet sich in einem äußerst instruktiven Aufsatz dem oftmals gespannten Verhältnis von Biografik und Geschichtswissenschaft, wobei er vor allem Wert darauf legt, dass die Legende, die ein Mensch im Laufe seines Lebens aufbaut, mitreflektiert werden müsse. Christian Klein überprüft den Nutzen biografischer Ansätze aus der Soziologie für die Literaturwissenschaften.

Die originär soziologischen Konzepte hält Klein für undifferenziert, da sie nicht zwischen autobiografischen Primär- und biografischen Sekundärtexten unterschieden, betont jedoch die besondere Bedeutung des Bourdieu´schen Habitus-Ansatzes für eine Form der Biografik, die die Inszenierungstendenz eines Menschen hinterfragen will. Anregend ist die Verbindung, die Klein zwischen Biografik und kulturellem Gedächtnis zieht, weist er damit doch auf eine herausragende epistemologische Relevanz von Biografien hin. Thomas Anz eröffnet ausgehend vom großen Interesse an Krankheitsgeschichten Einblicke in das Verhältnis von Psychoanalyse und biografischem Schreiben. Aufschlussreich sind hierbei auch die Reflexionen, die Anz auf einer Meta-Ebene anstellt, wenn er nach der Funktion des biografischen Schreibens für den Biografen fragt und aufzeigt, inwieweit psychoanalytische Biografik relevant für die aktuellen Diskussionen um den Zusammenhang von Identität und Narration sein können. Es folgen einige Aufsätze, die sich weniger am Theoriestand einzelner Disziplinen abarbeiten, sondern vielmehr spezielle Fragen thematisieren, die im Rahmen des biografischen Arbeitens bedeutsam sind: Das stets prekäre Verhältnis von Genealogie und Biografik wird von Giorgi Maisuradze bestimmt; die Wirkung einer selbstreflexiv erfassten Geschlechterdifferenz in der literaturwissenschaftlichen Biografik arbeitet Anita Runge heraus. Dass durch mediale Innovationen die Informationen über menschliches Leben ­ und damit auch die Biografik ­ beeinflusst werden, betonen David Oels und Stephan Porombka in einem Beitrag zu den Problemen der Biografik im digitalen Zeitalter. Überraschenderweise gelangen sie letztlich zu dem Fazit, dass ungeachtet aller technologischen Fortschritte die Biografik im Cyber-Zeitalter nicht über den bereits in den 1970er Jahren von Biografen wie Dieter Kühn erreichten Stand hinaus gelangt: Schon damals hätten die Biografen ein Leben virtuell in verschiedenen Versionen durchgespielt und dem Leser eine Möglichkeit zur Mitgestaltung des Ergebnisses ermöglicht. Damit wäre bereits der zweite Schwerpunkt des Bandes angerissen, der sich einerseits in zwei Aufsätzen anhand der Analyse verschiedener Biografik-Beispiele der Relevanz der Biografie für die literaturwissenschaftliche Arbeit widmet. Gary Schmidt vergleicht die verschiedenen Biografien von Thomas Mann am Beispiel ihres Umgangs mit der Entstehung der Novelle „Der Tod in Venedig“. Werner Altmann geht der Frage nach, inwieweit die Tabuisierung von Lorcas Homosexualität auf die Rezeption von Leben und Werk einwirkte. Drei Berichte von den eigenen Erfahrungen beim Schreiben von Biografien erlauben andererseits Einblicke in die Chancen und Schwierigkeiten biografischen Arbeitens.

Hermann Kurzke, Dieter Kühn und Sander L. Gilman plädieren einmal mehr für die Aufhebung der fragwürdigen Grenze zwischen Literatur und Wissenschaft, die angesichts eines Genres wie der Biografie nachgerade kontraproduktiv wirkt. So könnte der wissenschaftliche Biograf vom literarischen Biograf viel lernen, vor allem wenn es um die Teleologie der biografischen Darstellung geht, die in der Wissenschaft noch allzu häufig bedient wird, wenngleich jeder Mensch aus eigener Erfahrung die fundamentale Auswirkung der Kontingenz auf den Lebensweg kennt. Den abschließenden Schwerpunkt des Bandes bilden zwei beeindruckende Aufsätze von Andreas von Arnauld, in denen erstmals eine Übersicht über die Rechtsfragen des biografischen Schreibens geliefert werden ­ für den Gebrauch in der Praxis handhabbar gemacht durch die Unterteilung in Probleme bei der Recherche bzw. Zu-Beachtendes im Rahmen der Publikation.

Das Buch von Christian Klein muss wirklich als frischer Wind im Blätterwald der Biografik bewertet werden. Es sei aufgrund der Fülle der angesprochenen Aspekte und Thesen jedem, der sich mit dem Genre Biografie beschäftigen will, nachhaltig zur Lektüre empfohlen ­ ob als Orientierung zum Einstieg oder zum Nachschlagen bei spezifischen Fragen. Bleibt zu hoffen, dass die hier versammelten Beiträge die wissenschaftliche Diskussion auf dem Feld der Biografik nachhaltig beleben.

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