S. Prokop:Intellektuelle im Krisenjahr 1953

Titel
Intellektuelle im Krisenjahr 1953. Enquete über die Lage der Intelligenz der DDR. Analyse und Dokumentation


Autor(en)
Prokop, Siegfried
Erschienen
Anzahl Seiten
348 S.
Preis
€ 18,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg Rösler, Berlin

Handelte es sich bei den Ereignissen um den 17. Juni 1953 in der DDR um einen Arbeiteraufstand oder einen Volksaufstand? War der 17. Juni Ausdruck einer im bisherigen Rahmen nicht mehr lösbaren Krise der Beziehungen zwischen den „Arbeitern an der Werkbank“ und den „Arbeitern an den Hebeln der Macht“ oder handelte es sich um eine umfassende Gesellschaftskrise, die alle Klassen und Schichten der DDR erfasst hatte?

Diese Fragen werden von den Historikern unterschiedlich beantwortet. Je nach dem wie Stellung bezogen wird, ergeben sich unterschiedliche Positionsbestimmungen für die Rolle der Intelligenz, für jene nach Angaben des Autors 260.000 Bürger der DDR also, die 1953 als Ärzte, Techniker, Schriftsteller, Journalisten, bildende Künstler usw. tätig waren. Die Intelligenz „damals noch keine Massenschicht“ (S. 87) war je nach der Einschätzung der Krise als Ergebnis verfehlter Wirtschaftspolitik oder gesellschaftlicher Strukturen entweder eine Randerscheinung der damaligen Ereignisse oder selbst ein wesentliches Element des Krisengeschehens.

Unterschiedlich werden nicht nur die Rolle, sondern auch die Haltung und die Aktivitäten der Intelligenz in den Tagen um den 17. Juni eingeschätzt. Einige Historiker betonen, dass auch Angehörige der technischen Intelligenz an den Streiks teilnahmen, mitdemonstrierten. Belegt ist aber auch, dass sich die Forderungen der streikenden Arbeiter gegen die technische Intelligenz richteten, deren Gehälter – gemessen an den Löhnen der Arbeiter – als zu hoch angesehen, und deren Abführungen von Gehaltsteilen für die Rente von den Arbeitern als zu niedrig eingeschätzt wurden.

Zur Haltung der Intelligenz in der Junikrise hat sich Walter Ulbricht im Nachhinein und aus seiner Sicht positiv geäußert. Die Intellektuellen hätten sich loyal verhalten. Gern vorgezeigt wurde der Dichter Kurt Barthel, der, selbst wegen „Formalismus“ vor dem Juni 1953 in die Kritik geraten, nach dem Aufstand die Bauarbeiter der Stalinallee kritisierte. Nach Stefan Heyms Erinnerungen waren die Intellektuellen gegenüber der SED-Führung eher kritisch eingestellt, aber doch um Schadensbegrenzung bemüht. In einer in diesem Jahr veröffentlichten vergleichenden Untersuchung zur Junikrise bescheinigen Elke Scherstjanoi und Ralph Sowart den DDR- Intellektuellen, sie hätte sich „sehr gemäßigt oppositionell“ verhalten.

Nun hat Siegfried Prokop ein Buch über die Intellektuellen bzw. die Intelligenz in der DDR im Jahre 1953 geschrieben. Wie nach der Wahl des Gegenstandes seiner Untersuchung nicht anders zu erwarten, plädiert er dafür, die Ereignisse um den 17. Juni 1953 als Ausdruck einer Gesellschaftskrise zu werten. Auch teilt er die Auffassung vom überwiegend zurückhaltenden Engagement der Intellektuellen der DDR in der 1953er Krise nicht, spricht diesbezüglich von „Legendenbildung“.

Prokop kommt resümierend zu einem anderen Ergebnis: Die Intellektuellen „haben keineswegs bloß getan, was die SED-Führung ihnen vorschrieb. Sie mischten sich mit Analysen, Konferenzen und Änderungsvorschläge aktiv in die DDR-Gesellschaft ein und forderten die Politik zur Stellungnahme heraus“ (S. 147). Der Autor stellt diese Aktivitäten denen der Arbeiter gegenüber, vermerkt, dass die Belegschaftsvertreter der Streikenden vergleichweise konzeptionslos gewesen und auch nach dem 17. Juni geblieben wären. „Was den theoretischen Gehalt und die gesellschaftliche Bedeutung und ihren emanzipatorischen Charakter betrifft, gingen sie (die Intellektuellen- J.R.) über die Forderungen der Arbeiter (Rücknahme der Normenerhöhungen, Preissenkungen, Freie Wahlen usw.) deutlich hinaus. [...] Der viel gerühmte theoretische Sinn der deutschen Arbeiterbewegung kam im Juni 1953 nicht zum Tragen.“ (S. 148)

Der Leser kann sich diesem Urteil des Autors anschließen oder seine Berechtigung in Frage stellen. Eines wird jedenfalls deutlich: Die Probleme der Klasse und die der Schicht wurden von beiden nicht als soweit gemeinsame empfunden, dass Arbeiter und Intelligenz auf die Idee gekommen wären, sich in ihrer Unzufriedenheit gegen die „Dogmatiker“ bzw. „hohen Herren“ zusammen zu tun.

Das Verdienst der Autors liegt m.E. nicht in seinem Versuch einer Positionsbestimmung der Intelligenz im Jahre 1953 im Vergleich zur Arbeiterklasse, sondern auf anderem Gebiet: Es gelingt Prokop, die materielle und geistige Situation der Intellektuellen im Krisenjahr 1953 plastisch zu machen, ihre Ängste, Befürchtungen und auch Hoffnungen dem Leser zu vermitteln. Dazu hat er die relevanten Protokolle des Zentralkomitees der SED und der ZK-Abteilungen für Kultur, Gesundheitswesen, Wissenschaften und Volksbildung und vor allem die Akten des Kulturbundes durchgearbeitet und Aufschlussreiches zutage gefördert. Dazu hat er die Nachlässe von Grotewohl, Ulbricht und Harig ebenso durchgesehen wie die einschlägigen Materialien des Staatssekretariats für das Hochschulwesen und des Staatssicherheitsdienstes.

Der Autor weiß durchaus die begünstigende Besonderheit des „Milieus“, das er beschreibt, zu nutzen. Er zitiert gern und gekonnt aus Erinnerungen der DDR-Intellektuellen von Ansehen und Gewicht und ist besonders bei Victor Klemperer fündig geworden. Bei seinen Archivrecherchen ist Prokop auf die im ersten Quartal 1953 vom Kulturbund verfertigte „Enquete über die Lage der Intelligenz“ gestoßen und hat deren Aussagekraft erkannt. Er hat sie im Teil II seines Buches (S. 150- 335) veröffentlicht, zusammen mit Protokollen der Zentralen Intelligenz-Konferenz von Ende Mai 1953.

Mit den Materialien der Enquete verfügen die sich mit der Geschichte der DDR befassenden Historiker, das offenbart sich dem Leser bei der Durchsicht der veröffentlichten Dokumente, über ein Bild von den materiellen und geistigen Problemen, von den Befindlichkeiten dieser Viertelmillion DDR-Intellektuellen, wie es der historischen Forschung von den zweieinhalb Millionen Industriearbeitern fehlt und nachträglich nur schwer zu rekonstruieren ist.

Zu danken ist dafür zuerst einmal dem Kulturbund, dessen Präsidialrat zehn Fragen von Substanz und Brisanz formulierte und sie seinen Bezirksinstitutionen zur Beantwortung vorgab. Dazu gehören Fragen wie „Welche besonderen materiellen Wünsche gibt es bei der Intelligenz? Welche anderen Ursachen der Unzufriedenheit existieren bei der Intelligenz? Gibt es Erscheinungen der Republikflucht bei den Intellektuellen? Welche besonderen Maßnahmen könnte unsere Regierung noch treffen und welche Arbeitsmethoden sollte der Kulturbund noch anwenden, um die Wünsche und Bedürfnisse der Intelligenz noch besser zu erfüllen?“ (S. 159) Zu danken ist auch den Bezirksbehörden, die überwiegend freimütig antworteten. Der Dank des Rezensenten gebührt nicht zuletzt dem Autor, der dem Historiker dieses aufschlussreiche Material erschlossen und zur bequemen Handhabung in einer umfassenden Dokumentation zur Verfügung gestellt hat.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension