D. Götschmann: Bayerischer Parlamentarismus im Vormärz

Titel
Bayerischer Parlamentarismus im Vormärz. Die Ständeversammlung des Königreiches Bayern 1819-1848


Autor(en)
Götschmann, Dirk
Reihe
Handbuch der Geschichte des deutschen Parlamentarismus
Erschienen
Düsseldorf 2002: Droste Verlag
Anzahl Seiten
981 S.
Preis
€ 98,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hartwin Spenkuch, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften

Fünfzehn Jahre nach dem Band Hartwig Brandts über den württembergischen Landtag bis 1870 legt der lange in Regensburg und jetzt in Würzburg lehrende Landesgeschichtler Dirk Götschmann den im wörtlichen Sinne gewichtigen siebten Beitrag in der seit 1977 erscheinenden Handbuch-Reihe der Bonner Parlamentarismus-Kommission vor. An den langen Zeiträumen zwischen den Erscheinungsdaten der einzelnen Bände wird schon ersichtlich, dass die Reihe ein überaus anspruchsvolles Unterfangen darstellt, das bisher (und wohl auch zukünftig) nur im Rahmen von Habilschriften einschlägig ausgewiesener Historiker zu bewältigen war (und sein wird). Auch Götschmann hat sich in Büchern über das bayerische Innenministerium (1993) und die Beschwerden aus der Bevölkerung an den bayerischen Landtag (1997) bereits mehrfach mit der Materie beschäftigt.

In der Anlage nimmt Götschmann eine Zweiteilung vor. Ein erster, systematisierender Hauptteil widmet sich den Grundlagen des bayerischen Parlamentarismus bis 1818 (65 S.), den beiden Kammern und den Parlamentariern inklusive der bis 1848 quasi-ständischen Wahlen (80 S.), dem institutionellen Rahmen (45 S.) sowie dem parlamentarischen Geschäftsbetrieb, insbesondere der Geschäftsordnung und dem Ausschusswesen (140 S.). Ein zweiter, chronologisch vorgehender Hauptteil behandelt die elf Landtage 1819–47 je separat (zusammen 450 S.), ergänzt um eine kurze Zwischenbilanz 1825, betrachtet sodann eingehend den Reformlandtag vom Frühjahr 1848 (95 S.) und schließt mit einer zwanzigseitigen Schlussbetrachtung.

Nie ist der vormärzliche bayerische Parlamentarismus anhand der Landtagsprotokolle und anderer gedruckter Quellen detaillierter geschildert worden. Hervorzuheben ist zudem insbesondere die breite, teils erstmalige Aktenauswertung, die sich bei – im Sinne einer Kulturgeschichte der Politik interessanten – Abschnitten über die Parlamentsstenographie und die Druckausgabe der Plenarberatungen ebenso zeigt wie bei der Darstellung der Entwicklung einzelner Gesetzentwürfe. Dem Werk Götschmanns kommt ferner zugute, dass das vormärzliche Bayern landesgeschichtlich als sehr gut erforscht gelten darf – vielfache Verweise etwa auf die Biografien über König Ludwig I. bzw. Innenminister Karl (v.) Abel von der Hand des verstorbenen Heinz Gollwitzer dokumentieren dies –, und dass die dichte Quellen-Überlieferung in Landtags- und Ministerialarchiv die eingehende Untersuchung erlaubt.

Die zahlreichen, gut begründeten Ergebnisse der Studie können im Rahmen einer Besprechung nicht alle referiert werden; in der Regel befinden sie sich wohl im Einklang mit der bisherigen Forschungsmeinung. So dokumentiert Götschmann eingehend den mühevoll erfochtenen Bedeutungsgewinn des Parlaments gegenüber einer ihre frühere Machtvollkommenheit verteidigenden Bürokratie, sieht zu Recht den Landtag als Institution zur Integration gerade der nach 1802/1815 neubayerischen Gebiete, erkennt im Antrags- und Beschwerderecht eines der wirksamsten Instrumente des vormärzlichen Parlamentarismus (dem das formelle Gesetzesinitiativrecht noch vorenthalten war), zeichnet den Widerstand der Kammern, übrigens sogar der standesherrlich-adeligen Ersten, gegen den klerikal-konservativen Antiparlamentarismus der Ära Abel nach und nennt Bayern nach dem Reformlandtag vom Frühling 1848 eine echte konstitutionelle Monarchie. Ohne dass Götschmann ein Wort über die Zeit nach dem Mai 1848 verliert, erwies sich die Stabilität der Verfassungsverhältnisse Bayerns ja nicht zuletzt darin, dass unter Ministerpräsident v. d. Pfordten deren Rückwärts-Revision – anders als in vergleichbaren deutschen Staaten – nicht ernsthaft unternommen wurde, und der Ministerwechsel 1859 maßgeblich auf Betreiben einer Landtagsmehrheit zurückging. 1

Die große Arbeitsleistung, umfassende Berücksichtigung der Literatur, verständliche Darstellung und insgesamt ausgewogene Beurteilung verdienen somit volles Lob. Einige wenige Kritikpunkte formaler und materieller Natur scheinen am Platze. Die – schon in Max Spindlers Handbuch der Bayerischen Geschichte 1974 verwandte – Gliederung nach Landtagen führt zu gewissen, aber vernachlässigbaren Redundanzen, vor allem jedoch dazu, dass der Leser die diachrone Entwicklung der gleichen Sachfrage bei den einzelnen Landtagen nicht im Zusammenhang präsentiert bekommt. Eine sachthematische Gliederung jedenfalls der großen gesetzgeberischen Materien nach dem Vorbild von Hartwig Brandts Studie zu Württemberg wäre günstiger gewesen.

Einige der zahlreichen, im Muster teilweise kaum unterscheidbaren Säulen-Diagramme mit einstelligen Fallzahlen bzw. geringen Veränderungen wären nach Rezensenten-Meinung wohl verzichtbar gewesen, zumal sich kaum relevante Befunde daran knüpfen. Die (in Publikationen der Parlamentarismus-Kommission erstmalige) Beigabe eines Corrigenda-Heftes ist vielleicht nicht rein zufällig einem Fehlerteufel zuzuschreiben, sondern das Indiz für ein Zuviel an gutem Willen zur (vermeintlichen) Anschaulichkeit. Trotz der zahlreichen Diagramme sind bestimmte sozialstatistische Daten, etwa der Anteil von Adeligen oder Bauern oder die Altersstruktur der Abgeordneten, allenfalls nach einigem Blättern herauszufinden.

Inhaltlich versagt sich Götschmann im Grunde eine übergreifende Perspektive, denn wiewohl seine Darstellung durchaus stimmig ist und Zusammenfassungen nicht fehlen, wünschte man sich an einigen Stellen mehr Mut zur Interpretation, zur Problematisierung großer Forschungsthesen anstelle von unentbehrlicher, aber eben nicht gerade glanzvoller Faktizität. Insbesondere hätte diesen Glanz der vergleichenden Landesgeschichte eine – selbst auf die Literatur begrenzte – komparative Betrachtung liefern können, beispielsweise mit Württemberg und den bezüglich ihres Parlamentarismus auch ziemlich gut erforschten Hessen (H. Seier, W. Speitkamp u. a.) oder Preussen (H. Obenaus, M. Botzenhart u. a.). Dann wären die begünstigenden und hindernden Faktoren für den Konstitutionalismus nicht nur der ersten Jahrhunderthälfte im regional-kausalen Zusammenhang deutlicher hervorgetreten und hätten sich wahrscheinlich verschiedene Typen von (süd)deutschen Verfassungsentwicklungen herausschälen lassen. Das bleibt nun einem zeitlich anschließenden Folgeband, der dringend zu wünschen ist, vorbehalten.

Zwei Details schließlich haben den Rezensenten nicht recht überzeugt. Einmal hätten im ersten Hauptteil die fraktionellen Gruppierungen des Landtags doch tentativ vorgestellt werden sollen. Der anfängliche Einwand (u. a. S. 17), dass Fraktions- und Parteibildungen vor 1848 kaum ansatzweise existierten, ist mit manchen späteren Textstellen (u. a. S. 807) nicht ganz kongruent, da dort mehrfach von Repräsentanten (demokratischer, liberaler oder klerikal-konservativer) Gruppen die Rede ist. Zweitens scheint (S. 789f.) König Max II. zu negativ beurteilt, wenn ihm ungenügende Vorbildung für das Monarchenamt, „übertriebene Hochschätzung der Wissenschaft“ und das zu lange Einholen zu vieler Meinungen vor fälligen Entscheidungen angelastet werden. Im Vergleich zu anderen Monarchen der Revolutionsperiode schneidet Bayerns Herrscher nicht schlecht ab, beispielsweise als frühzeitiger Anreger von Untersuchungen zur sozialen Frage. Ohne sein seit anderthalb Jahrzehnten von der Forschung aufgedecktes Hadern mit den konstitutionellen Beschränkungen seiner Macht zu bezweifeln, hielt sich Max II. regelmäßig an die Ratschläge seiner konstitutionellen Ratgeber, vermied harte Reaktionspolitik. Ein jüngst publizierter Lebensabriss Maxens betont in diesem Sinne sein „systemgerechtes“ Handeln, das in deutlichem Kontrast nicht nur zur verfassungswidrigen Politik eines Bismarck, sondern auch zum strammen Revisionismus eines Georg V. von Hannover oder Friedrich Wilhelm IV. von Preussen stand. 2 Bei systemischer Betrachtungsweise markieren das Scheitern der Ära Abel, die Abdankung Ludwigs I. 1848, das Nachgeben Max II. gegenüber der Landtagsmehrheit oder der politische Rückzug Ludwigs II. nach 1866 konsekutive Schritte auf dem Weg Bayerns zur 1912 mit der Berufung Hertlings gutenteils erreichten parlamentarischen Monarchie. Diese Entwicklungslinie braucht den Vergleich mit anderen deutschen Staaten nicht zu scheuen, wenngleich ihr mehrere strukturelle Vorteile Bayerns zugrunde lagen.

Entgegen den von Thomas Kühne in seiner Sammelrezension 3 der ersten sechs Handbuch-Beiträge vorgetragenen Wünschen nach erweiterten Perspektiven, insbesondere in Richtung Erfahrungsgeschichte, Kulturgeschichte und Geschlechtergeschichte, hält sich Götschmanns Band weitgehend an den – auch in den älteren Bänden der Handbuch-Reihe verwandten – engeren Parlamentarismus-Begriff. Immerhin gibt es mehrfach Passagen zu den bis 1848 rudimentären „Wahlkämpfen“, aber Stichworte wie Hambach oder, allgemeiner formuliert, die (zugegebenermaßen schwer operationalisierbare) Ebene der gesellschaftlichen Wahrnehmung des Parlamentarismus bei der Bevölkerung tauchen – jenseits der gut dokumentierten Eingaben an die Kammern – nicht auf.

Alle Besserwisserei des Rezensenten beiseite: Im gesetzten Rahmen sind die Leser mit dem soliden, enzyklopädisch angelegten Band Götschmanns, der auch eine ansprechende äußere Gestaltung und schöne Abbildungen aufweist, gut bedient.

Anmerkungen:
1 Vgl. Kreutz, Wilhelm, Zwischen Konfrontation und Kompromiß. Zur innenpolitischen Entwicklung Preussens und Bayerns in den Jahren 1858/59, in: Rau, Peter (Hg.), Widersprüche im Widersprechen. Fs. H. Meixner, Frankfurt am Main 1996, S. 230–241.
2 Vgl. Hanisch, Manfred, Für Fürst und Vaterland. Legitimitätsstiftung in Bayern zwischen Revolution 1848 und deutscher Einheit, München 1991; Sing, Achim, Die Memoiren König Maximilians II. von Bayern 1848–1864, München 1997; Merz, Johannes, Max II. Die soziale Frage, in: Schmid, A.; Weigand, K. (Hgg.), Die Herrscher Bayerns, München 2001, S. 330–342.
3 Vgl. Kühne, Thomas, Parlamentarismusgeschichte in Deutschland. Probleme, Erträge und Perspektiven einer Gesamtdarstellung, in: Geschichte und Gesellschaft 24 (1998), S. 323–338.

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