J. Laudage (Hg.): Von Fakten und Fiktionen

Cover
Titel
Von Fakten und Fiktionen. Mittelalterliche Geschichtsdarstellungen und ihre kritische Aufarbeitung


Herausgeber
Laudage, Johannes
Reihe
Europäische Geschichtsdarstellungen 1
Erschienen
Köln 2003: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
388 S.
Preis
€ 44,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Clauss, Institut für Geschichte, Universität Regensburg

Vor etwas über einem Jahr wurde an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf eine Tagung zum Thema „Mittelalterliche Geschichtsdarstellung und ihre kritische Aufarbeitung“ abgehalten. Mit dem Tagungsband „Von Fakten und Fiktionen“ legt Johannes Laudage – Organisator der Tagung und Herausgeber des hier besprochenen Bandes – die Tagungsbeiträge nun einer breiten Öffentlichkeit vor und eröffnet gleichzeitig eine neue Reihe namens „Europäische Geschichtsdarstellungen“. Die Drucklegung der Vorträge erfolgte nicht nur erfreulich schnell, auch die inhaltliche Bandbreite und Qualität der einzelnen Beiträge machen diesen Sammelband über weite Strecken zu einer gewinnbringenden und erfreulichen Lektüre. Wie bei einem Thema dieser Breite und angesichts der Länge der Tagung nicht anders zu erwarten, ist der innere Zusammenhang der einzelnen Aufsätze untereinander mitunter nur schwer auszumachen; einige Beiträge fügen sich besser in das Rahmenthema als andere. Alle Aufsätze befassen sich dabei in der ein oder anderen Form mit der Frage, wie sich der Umgang der Geschichtswissenschaft mit – meist historiographischen – Quellen in der Zeit nach Hayden White bzw. dem ‚linguistic turn’ gestaltet; was können mittelalterliche Geschichtsquellen, was können Historikerinnen und Historiker im Umgang mit diesen Quellen leisten?

Der Band enthält folgende Beiträge: Otto Gerhard Oexle befasst sich mit „Fakten und Fiktionen. Zu einigen Grundsatzfragen der historischen Erkenntnis“ (S. 1-42) und untersucht, was die Geschichtswissenschaft vor dem Hintergrund der Herausforderungen, die mit den Schlagwörtern Metahistory und Postmoderne umrissen werden, leisten kann. Wichtigstes Mittel, um hierbei zu Ergebnissen zu kommen, ist für Oexle die Historisierung des Themas; besondere Aufmerksamkeit wird dabei der Zeit zwischen 1880 und 1932 geschenkt. Dieser Blick in die Geschichte der Geschichtswissenschaft führt zu der zugleich ent- und ermutigenden Einsicht, dass sich nichts, auch nicht die historische Erkenntnis selbst, seiner Historizität entziehen kann. Dazu gehört nach Oexle nicht nur, dass alle wissenschaftlichen Ergebnisse stetig veralten, sondern – Hoffnung bringende Kehrseite derselben Medaille – auch die „ewige Jugendlichkeit“ (S. 42) der geschichtswissenschaftlichen Fächer.

Verena Epp vergleicht in ihrem Beitrag „Von Spurensuchern und Zeichendeutern. Zum Selbstverständnis mittelalterlicher Geschichtsschreiber“ (S. 43-62) die mittelalterliche Historiographie mit der postmodernen Auffassung von Geschichte und Geschichtstheorie. Hierbei erstaunt zunächst, dass sich Schlagwörter der modernen Debatte – wie Fakten und Fiktionen, Erinnerung und Wahrheit – bereits bei Augustinus oder Isidor von Sevilla etwa als historia, argumentum und fabula finden. Trotz dieser Gemeinsamkeiten werden die Unterschiede zwischen Hayden White’s Geschichtsbild und dem Selbstverständnis mittelalterlicher Historiographen schnell deutlich, wenn man sich die zentrale Bedeutung des Wirkens Gottes für die mittelalterliche Geschichtsschreibung vor Augen führt.

Jenseits von theoretischen Überlegungen zu Fakten und Fiktionen widmet sich Rudolf Schieffers Beitrag der „Dimension der Überlieferung bei der Erforschung narrativer Quellen des Mittelalters“ (S. 63-78). Über den Zusammenhang zwischen Überlieferungsdichte und –form und dem Verweis auf die geringen Überlieferungschancen solcher Werke, die sich am Rande der „hauptsächlichen Textgattungen“ (S. 74) bewegen, kommt der Aufsatz zu der Erkenntnis, dass die Überlieferung zwangsweise eine Verengung des Blickwinkels darstellt, der sich die Geschichtswissenschaft bewusst bleiben sollte.

Gerd Althoff verortet den „Inszenierungscharakter öffentlicher Kommunikation im Mittelalter“ (S. 79-94) zwischen den beiden Extremen der Fakten und Fiktionen und weist einmal mehr darauf hin, dass die Frage nach der Faktizität geschilderter Ereignisse für das Verständnis der symbolischen Kommunikation nachrangig ist.

Matthias Becher widmet sich in einer detail- und kenntnisreichen Analyse einer verschleierten Krise um die Nachfolge Karl Martells 741 und den Anfängen der karolingischen Hofgeschichtsschreibung (S. 95-134); durch gründliche Quellenanalyse und Quellenvergleich kommt er dabei zu dem Schluss, dass nicht Karlmann und Pippin, sondern Swanahilds Sohn Grifo von Karl für die Nachfolge zumindest in einen bedeutenden Teil des Reiches vorgesehen war. Die unterschiedlichen Darstellungen der Quellen deutet Becher als Versuche der pro-karolingischen Autoren, die vermeintlich einvernehmliche Kontinuität innerhalb der Herrscherfamilie zu betonen.

Josef Semmler widmet sich anhand der Ereignisse um 751 Fragen nach der „Zeitgeschichtsschreibung und Hofhistoriographie unter den frühen Karolingern“ (S. 135-164). Er kommt zu dem Schluss, dass es für eine Salbung Pippins in diesem Jahr keine vertrauenswürdigen Quellen gibt und die fränkische Königssalbung erst von Papst Stephan II. eingeführt worden ist.

Klaus Herbers weist in seinen Überlegungen zu „frühmittelalterlichen Personenbeschreibungen im Liber pontificalis und in römischen hagiographischen Texten“ (S. 165-192) nach, dass sich auch in diesen Texten Vorstellungen über Individualität und individuelles Handeln finden.

In Ergänzung zu den auf der Tagung gehaltenen Vorträgen hat Johannes Laudage dem Band einen Aufsatz mit dem Titel „Widukind von Corvey und die deutsche Geschichtswissenschaft“ (S. 193-224) hinzugefügt. Er betont die herausragende Stellung der Sachsengeschichte Widukinds in der modernen Historiographie, um dann auf vier spezielle Fragen zu diesem Thema einzugehen, wobei gemäß der Zielsetzung des Aufsatzes teils bereits bekannte Forschungen zusammengetragen, teils neue Ergebnisse aufgezeigt werden. Ersteres gilt für das Verhältnis von rex, dux und gens, in diesem Zusammenhang erscheint die Sachsengeschichte eher als „Seismograph für die politische Stimmung ihrer Abfassungszeit“ denn als „verlässlicher Führer durch die sächsische Ethnogenese“ (S. 203). Über die Frage nach dem Erkenntniswert der Sachsengeschichte für strukturgeschichtliche Probleme und nach dem Quellenwert Widukinds allgemein, kommt Johannes Laudage dann durch Vergleich und inhaltliche Analyse der Textklassen zu einer Neudatierung der Sachsengeschichte. „Buch II,1 bis III,62 [...] sind jedenfalls frühestens in den Jahren 961/62 entstanden.“ (S. 223)

Eine zentrale Stellung innerhalb der gesammelten Aufsätze nimmt der Beitrag „Konstruktion der Vergangenheit. Geschichtsbewusstsein und ‚Fiktionalität’ in der hochmittelalterlichen Chronistik, dargestellt am Beispiel der Annales Palidenses“ (S. 225-258) von Hans-Werner Goetz ein, der über den behandelten Einzelfall, die Annales Palidenses, weit hinausreicht. In einem theoretischen ersten Teil greift Goetz dabei zentrale Fragen der aktuellen Debatte um die Geschichtswissenschaft auf und weist auf deren gewandeltes Erkenntnisinteresse hin; dieses gilt nicht mehr der historischen Wirklichkeit, sondern will die Geschichte unter „unserer Perspektive“ betrachten und sich auf „gegenwartsrelevante Aspekte“ konzentrieren (S. 226). Auch wenn dieses Diktum nicht von allen Vertreterinnen und Vertretern der historischen Zunft geteilt werden dürfte, so hat eine daraus resultierende Schlussfolgerung bezüglich des vermeintlich un- oder antiwissenschaftlichen Charakters von Literarität in der Geschichtswissenschaft doch einigen Charme: „Wenn die Geschichtswissenschaft unsere Sicht der Vergangenheit für unsere Gegenwart erarbeitet, kann der literarische Charakter ihrer Erzeugnisse nicht als störend empfunden werden; er ist vielmehr konstitutiv für die Ergebnisse“ (S. 229). Auch die Beurteilung der Quellen – gerade bezüglich der Frage Faktum oder Fiktion – hat sich mit dem Erkenntnisschwerpunkt gewandelt. Die Fiktionen rücken in den Mittelpunkt der Forschung, weil sie Auskunft über das geistlich-kulturelle Umfeld und die persönlichen Interessen des mittelalterlichen Autors geben. Diese Erkenntnisse werden in einem zweiten Teil an den Pöhlder Annalen erprobt, um so die spezifische Geschichtskonstruktion dieser bislang vielfach geschmähten Quelle und damit ihren Wert darzustellen.

In den folgenden Beiträgen werden Quellengattungen in den Blick genommen, die – so die These – mitunter zu Unrecht außerhalb des klassischen Kanons der Geschichtswissenschaft liegen. Barbara Haupt befasst sich mit „Geschichtlicher Erinnerung in der deutschen Literatur des 12. Jahrhunderts“ (S. 259-280) und beobachtet die Herausbildung „profangeschichtlicher volkssprachiger Literaturtypen“, in denen „Momente einer oral poetry in die Schriftlichkeit übernommen werden“ (S. 280).

Manfred Groten nimmt „Volkssprachliche Geschichtsdichtungen im deutschen Reich im späten 13. Jahrhundert“ am Beispiel von Melis Stoke und Gottfried Hagen (S. 281-308) in den Blick; er betont die Bedeutung der Reimchroniken als Quellen, die bislang zu wenig Beachtung gefunden haben.

Mit Hans Körners Beitrag zum „italienischen Grabmal des späten Mittelalters“ S. (309-322) wird der Sammelband um eine kunsthistorische Dimension erweitert und auf die Möglichkeiten bildlicher Geschichtsdarstellung verwiesen.

Johannes Helmrath untersucht die „Umprägung von Geschichtsbildern in der Historiographie des europäischen Humanismus“ (S. 323-352); hierbei geht es um die Bildung nationaler Identitäten. Unter Umprägung wird dabei sowohl eine „partielle Neuakzentuierung wie auch eine grundsätzlichere Perspektivänderung“ (S. 326) der Geschichtsbilder verstanden. Als „umprägungsrelevant“ erweist sich in diesem Zusammenhang „Autochthonie und Indigenat“ (S. 334). An die Stelle der Trojanersage als romzentriertes Ursprungsmuster der Völker trat die Hinwendung zu einem vorrömischen Indigenat. An etlichen Beispielen zeigt Helmrath auf, wie humanistische Geschichtsschreiber zunächst vorgefundene Geschichtsbilder zerstörten und umkonstruierten zu anderen, neuen Mythen, womit ihre Werke den Nationendiskurs antrieben.

Am Beispiel des „Grenzgängers“ (S. 360) Thomas Castleford und der städtischen Rezeption englischer Geschichte im 14. und 15. Jahrhundert (S. 353-370) weist Wilhelm Busse auf die Untauglichkeit starrer Gattungssysteme hin, die Historiographie trennscharf von Geschichtsdichtung unterscheiden wollen. Diese Systeme beziehen sich meist auf die lateinische Geschichtsschreibung des Mittelalters und sind darüber hinaus dem historischen Wandel unterworfen. Busse weist auch auf den ausgrenzenden Charakter von Gattungsbegriffen hin, die von Autoren benutzt wurden, um die Exklusivität bestimmter Texte gegen unliebsame Konkurrenz zu verteidigen.

Der Band wird von Hans Hecker mit dem Beitrag „Propagierte Geschichte. Die stepennaja kniga (Stufenbuch) und die Herrschaftsideologie in der Moskauer Rus (16. Jahrhundert)“ (S. 371-388) beschlossen. Dieses stark propagandistisch gefärbte Geschichtswerk versucht die Herrschaft des Zaren Ivan IV. „des Schecklichen“ zu legitimieren und gibt durch seine Konstruktion eher Auskunft über die Entstehungszeit als über die dargestellte Geschichte.

Die Fülle der Beiträge sprengt den Rahmen jeder Rezension und entzieht den Band einer abschließenden, alles umfassenden Wertung. Zu diesem Schluss kommt auch der Herausgeber, Johannes Laudage, selbst, wenn er schreibt, die in den Beiträgen gegebenen Antworten ließen sich nicht in einem Vorwort zusammenfassen (S. VII). So erscheint es denn auch konsequent, dass der Versuch unterlassen wurde, ein abschließendes Resümee zu ziehen oder die einzelnen Beiträge – etwa durch ein Register – zu verzahnen. Auf einer theoretischen Ebene bleibt die Erkenntnis, dass eine zwanghafte Einordnung aller aus Quellen gewonnen Information in das Raster von Fakten und Fiktionen weder der Komplexität noch der Intention mittelalterlicher Geschichtsschreibung gerecht wird.

Als sehr positiv fällt das Nebeneinander von geschichtstheoretischen Beiträgen und Einzelfallstudien von im besten Sinne des Wortes klassischer Prägung auf. So wie in diesem Sammelband neue theoretische Erkenntnisse und althergebrachte Methode sich ergänzen, wird deutlich, dass sich eine moderne Geschichtswissenschaft den Verzicht weder auf das eine noch das andere leisten kann.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension