J. Ehlers (Hg.): Deutschland und der Westen

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Titel
Deutschland und der Westen Europas im Mittelalter.


Herausgeber
Ehlers, Joachim
Reihe
Vorträge und Forschungen 56
Erschienen
Stuttgart 2002: Jan Thorbecke Verlag
Anzahl Seiten
586 S., 20 Abb
Preis
€ 62,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lotte Kéry, Historisches Institut, RWTH Aachen

Der monumentale Sammelband, der zusammen mit der Einleitung des Herausgebers 19 Einzelbeiträge enthält, ist das Ergebnis zweier Tagungen, die auf der Reichenau stattfanden, wie beiläufig ohne Angabe von Daten erwähnt wird. Die verschiedenen Beiträge sind bewusst einer Vielzahl von Ansätzen und Disziplinen verpflichtet und verteilen sich auch mit ihren zeitlichen Schwerpunkten über das gesamte Mittelalter, denn bei der grundlegenden Fragestellung, die sie alle verbindet – „auf welche Weise, unter welchen Umständen, und auf welchen Wegen sich jener Akkulturationsprozeß vollzogen hat, der das mittelalterliche Europa hervorgebracht hat“ (S. 1), – soll auch die Perspektive der „längeren Dauer“ berücksichtigt werden. Dabei wird grundsätzlich vorausgesetzt, dass es ein kulturelles Gefälle von Westen nach Osten gab – ex occidente lux, wie es bei Arnold Angenendt heißt (S. 7) –, das jedoch für die unterschiedlichen Epochen und Disziplinen jeweils zu differenzieren und in seinem konkreten Ausmaß zu bestimmen ist.

Ein großer Vorteil dieses Bandes besteht darin, dass die zum Teil recht umfangreichen Untersuchungen, die von ausgewiesenen Spezialisten aus verschiedenen Ländern stammen, jeweils synthesenhaft auf die gemeinsame Grundfrage zugespitzt sind, wie durch Romanisierung, Christianisierung und Frankisierung in einem Europa, das im Westen vom Atlantik und im Osten von Weser und Elbe begrenzt wird, ein Großraum mit einer nahezu homogenen Zivilisation entstehen konnte, deren Dimensionen erstmals unter Karl dem Großen zu erahnen sind und die als Basis für das mittelalterliche Europa eine beträchtliche Langzeitwirkung entfalteten. Dabei drängt das breite Panorama der sehr unterschiedlich akzentuierten Beiträge auch seinerseits wiederum zu einer Bündelung der Ergebnisse in einer Gesamtsynthese, die zum Abschluss von Peter Moraw in stark abstrahierender Weise und unter dem Blickwinkel des Spätmittelalters (Deutschland und der Westen Europas vornehmlich im späteren Mittelalter, S. 533-561) vorgenommen wird. Darüber hinaus liefert der Band eine Fülle wertvoller Einzelergebnisse und Detailerkenntnisse, die sich zum Teil nur schwer zu einem bündigen Ergebnis zusammenfassen lassen, obwohl die Einzelbeiträge in vorbildlicher Weise strukturiert und gegliedert sind.

In seinem Beitrag über „Europas west-östliches Religionsgefälle“ (S. 7-51) arbeitet Arnold Angenendt durch eine detaillierte Analyse der „vorchristlichen Religionen“ und einen Vergleich mit dem Christentum als Hochreligion heraus, dass die Bekehrung zum Christentum keinesfalls einen radikalen Bruch mit allen heidnischen Denk- und Lebensformen bedeutete und das eigentliche religionsgeschichtliche Problem des Mittelalters trotz vollständiger Missionierung noch für Jahrhunderte in einer „Unterchristianisierung“ bestand. Erst das Spätmittelalter mit seiner Mystik eines Meister Eckhart als einer ersten „auf Westniveau sich bewegende[n] Eigenleistung“, mit den Reformkonzilien von Konstanz und Basel und einer Theologie, die sich nun bewusst der Volksfrömmigkeit stellte, verlieh der Christianisierung in Deutschland noch einen einzigartigen Schub.

Die Konstituierung der fränkischen Zivilisation wird gleich in zwei Beiträgen behandelt. Für „Das merowingische Frankenreich“ (S. 53-97) stellt Reinhold Kaiser vor allem die Vielschichtigkeit und Kompliziertheit des Akkulturationsprozesses fest, auf dessen zusätzliche regionale Differenzierungen er nur pauschal hinweisen kann. Die stärkste Angleichung fand auf dem Gebiet des gesellschaftlichen Zusammenlebens, etwa im Eherecht oder im Erbrecht, statt. Für bestimmte öffentliche Funktionen (Fiskalwesen und Rechtspolitik) wurde das merowingische Frankenreich nicht nur zur Vorstufe, sondern sogar zum entscheidenden Vermittler des römischen Modells in die Karolingerzeit.

Rudolf Schieffer stellt für „Das Europa der Karolinger“ (S. 99-120) auf zahlreichen Feldern von der Besiedlung bis hin zum „Aufkommen pragmatischer Schriftlichkeit“ (S. 120) ein allmähliches Vordringen gallorömisch-fränkischer Zivilisation nach Osten fest, das vor allem dort als bewusste Politik verstanden werden dürfe, wo es, wie etwa beim Befestigungsbau oder der „Christianisierung im Sinne der Durchsetzung einer sakral legitimierten Rechts- und Lebensordnung“, den vor allem als Grenzregion und Betätigungsfeld für die fränkische Führungsschicht betrachteten Ostteil des Reiches „beherrschbarer“ gemacht habe.

Anhand der Verbreitung handschriftlicher Textzeugnisse zeigt Rosamond McKitterick (Kulturelle Verbindungen zwischen England und den fränkischen Reichen in der Zeit der Karolinger, S. 121-148), dass es ein ausgedehntes Netzwerk von Kommunikation mit England gab, das aber wohl nur von Einzelpersonen getragen wurde, die mit ihrem kulturellen „Reisegepäck“ ihre Spuren hinterließen. Sie weist zudem schon auf den auch für weitere Beiträge wichtigen Gesichtspunkt hin, dass es fraglich sei, inwiefern bei diesem Austausch von der Herkunft geprägte Eigenheiten und Unterschiede überhaupt als solche wahrgenommen wurden.

Aus kunsthistorischer Sicht betont Beat Brenk (Legitimation – Anspruch – Innovation, S. 149-176) die innovativen Elemente karolingischer Herrschaftskunst. Vor allem in der schöpferischen Eigenständigkeit, bekannte Elemente nicht nur frühchristlicher, sondern auch „langobardenzeitlicher“ Bauten Italiens neu zu kombinieren, erkennt er eine Verwirklichung herrscherlichen Anspruchsdenkens. Auf dem Gebiet von Bildung und Wissenschaft zeichnen sich nach Joachim Ehlers (Die Reform der Christenheit, S. 177-209) schon seit den 40er-Jahren des 9. Jahrhunderts und nicht erst im 12. Jahrhundert unterschiedliche Entwicklungen in den beiden karolingischen Nachfolgereichen ab. Strukturell wird die „Verspätung“ Deutschlands vor allem mit der engen Bindung des Episkopats an das ottonisch-salische Königtum erklärt, dessen Ausbildung vor allem funktionalen Kriterien gehorchte und nur wenig Raum für wissenschaftliche Betätigung ließ. Für den engeren literarischen Bereich wird dieses seit ottonischer Zeit zunehmende Ungleichgewicht zwischen Westen und Osten von Fidel Rädle (Transfers in der lateinischen Literatur von der Spätantike bis zum 11. Jahrhundert, S. 211-233) bestätigt, der jedoch auch einen wichtigen Aspekt betont, der nicht nur für die literarische Rezeption gilt: „die Mobilisierung schöpferischer Kräfte bei den dankbaren Rezipienten“ (S. 232).

Gerd Althoff (Das ottonische Reich als regnum Francorum?, S. 235-261) reduziert die Frage des westlichen Einflusses auf einen Vergleich zwischen der karolingischen und der ottonischen Königsherrschaft, wobei er als deutlichsten Indikator für die königliche Machtausübung im 10. Jahrhundert die Möglichkeiten der Konfliktregelung in den Mittelpunkt stellt. Obwohl sich „bezüglich der Königsmacht und ihren Manifestationsmöglichkeiten seit der Zeit Karls des Großen viel geändert hat“ (S. 260), schließt auch er sich der neuerdings häufiger vertretenen Ansicht an 1, dass Entwicklungen, die als ottonisch gekennzeichnet werden, schon in der Zeit Ludwigs des Frommen beginnen. Statt einer Unterscheidung in karolingisch und ottonisch sei deshalb wohl eher „das Exzeptionelle der Machtausübung Karls des Großen“ (S. 261) zu betonen.

Auch auf der Ebene einer gegenseitigen Verschränkung der „Wahrnehmungsmuster und Verhaltensformen in den fränkischen Nachfolgereichen“ (S. 263-301), anhand derer Bernd Schneidmüller „wichtige Etappen auf dem Weg von den fränkischen Handlungsgemeinschaften zu den hochmittelalterlichen Nationen“ (S. 296f.) kennzeichnet, ist die Vorstellung von einem ottonischen Neuansatz in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts kaum zu halten. Erst das Kaisertum Ottos I. führte zu einer Neuordnung in den Beziehungen der fränkischen Nachfolgereiche, in der bisher selbstverständliche Ranggleichheit nun demonstrativ eingefordert werden musste und sich in den einzelnen regna abgrenzbare Gefolgschaftsverbände herausbildeten mit der Konsequenz, dass grenzüberschreitende Bindungen immer mehr verschwinden – eine Entwicklung, die sich auch im abnehmenden Interesse der Chronisten am Nachbarn widerspiegelt.

Michel Parisse betrachtet das Verhältnis zwischen „La France et l’Empire à l’époque des Saliens et des Staufens“ (S. 303-326) aus der Perspektive Lothringens und versteht die wichtige Rolle, die Lothringen in der Kirchenreform spielte, ebenso wie die Zweisprachigkeit dieser Region als besonderen Beitrag zur „occidentalisation“ Europas. Im Hinblick auf die Verfassungs- und Verwaltungpraxis aber auch auf die politische Kultur werden schon seit langem große Unterschiede zwischen dem deutschen Reich und den westeuropäischen Königreichen festgestellt. Timothy Reuter (Nur im Westen was Neues? S. 327-351) plädiert jedoch dafür, auch die nicht unerheblichen Gemeinsamkeiten, die es im 12. und 13. Jahrhundert noch gab, nicht aus den Augen zu verlieren, ohne die Besonderheiten des Deutschen Reiches leugnen zu wollen. Außerdem verschiebt er die bisher eingenommene Perspektive, indem er die Aufmerksamkeit auf das Dreieck London-Orléans-Dijon als das politische und kulturelle Zentrum des hoch- und spätmittelalterlichen Europa lenkt, dessen Aufstieg er für mindestens ebenso erklärungsbedürftig hält wie den mittelalterlichen deutschen Sonderweg.

Jean-Marie Moeglin untersucht „Die historiographische Konstruktion der Nation“ (S. 353-377) als Indikator für das Vorhandensein eines nationalen Bewusstseins und konstatiert dabei erhebliche Unterschiede. Während die französische Nationalgeschichtsschreibung weitgehend unvereinbar ist mit einer Regionalgeschichtsschreibung, da „das Schicksal Frankreichs und seiner Einwohner [...] sich mit dem Schicksal seiner Könige“ identifiziert (S. 375), ist im Reich die kaiserliche Geschichte sowohl in der Lage, dem Nationalstolz Ausdruck zu verleihen, als auch die Existenz von Regionalgeschichten oder sogar Nationalgeschichten von Nachbarvölkern zuzulassen.

Unter dem Titel „Wirtschaft, Wirtschaftsräume, Kontaktzonen“ (S. 379-405) analysiert Franz Irsigler die im Unterschied zu Deutschland-England und Deutschland-Flandern wenig erforschten Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und Frankreich im hohen und späten Mittelalter. Vor allem im zweiten Teil seiner Untersuchung kann er zeigen, dass sich trotz des bis ins 14. Jahrhundert anhaltenden Vorsprungs der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung in Frankreich für den Bereich der Lernvorgänge und Transferprozesse der Begriff der „Verwestlichung“ nicht aufrechterhalten lässt, da etwa auf technischem Gebiet die Transfers aus dem Reichsgebiet nach Westen ähnlich bedeutend erscheinen wie die Einflüsse in umgekehrter Richtung.

Nach den Ergebnissen von Martin Kintzinger, der sich hier inhaltlich und methodisch eng an seine Habilitationsschrift von 2000 anlehnt (S. 425, Anm. 9), waren die „Politischen Westbeziehungen des Reiches im Spätmittelalter“ (S. 423-455) in erster Linie Frankreichpolitik. Internationale Beziehungen fanden zunächst auf der Ebene dynastischer Verbindungen statt. In dieser von einem ständigen Spannungsverhältnis zwischen Hauspolitik und Reichspolitik geprägten auswärtigen Politik entschied man sich jedoch im Zweifelsfall für die Dynastie und gegen das Reich.

Dass Fortschritt nicht einfach transportierbar ist, sondern in das gesamt-gesellschaftliche Umfeld hineinpassen muss, um erfolgreich adaptiert zu werden, zeigt der Beitrag von Wim Blockmans (Burghers as Cultural Agents in the Low Countries and the Empire, S. 407-421). Trotz der intensiven und zahlreichen, über den reinen Warenaustausch hinausgehenden Kontakte auf der Ebene der Bürger, Kaufleute und des städtischen Führungspersonals zwischen den Niederlanden und dem Reich sowie den dabei gewonnenen Kenntnissen über die jeweils andere Kultur, wurden so wichtige Errungenschaften wie repräsentative Regierungsformen, Münzkontrolle, Fernhandel und Verteilung der Steuerlast erst mit erheblicher Verspätung im Reich eingeführt. Zu derselben allgemeingültigen Erkenntnis kommt Werner Paravicini am Ende seiner Untersuchung über „Deutsche Adelskultur und der Westen im späten Mittelalter. Eine Spurensuche am Beispiel der Wittelsbacher" (S. 457-506 mit Bibliografie). Trotz zahlreicher Reminiszenzen an seinen langjährigen Aufenthalt am Pariser Hof kann nicht einmal Ludwig VII. der Bebartete von Bayern-Ingolstadt als erfolgreicher „Transporteur“ westlicher Adelskultur ins Reich gelten, zumal er mit seiner heftigen Art, diese „Grundtendenzen zu handhaben“, „sich Land und Leute und seine Fürstengenossen in und um Bayern allesamt zu Feinden“ machte (S. 491) und damit den besten Beleg für die obengenannte Maxime liefert.

Als ein Beispiel für eine gelungene komplexe Transferleistung, die „nicht mechanisch vollzogen wurde, sondern einherging mit Reflexionen über das Erwünschte und Mögliche, über den Zwang zum Modifizieren, Angleichen und Weglassen, über Vorbildhaftigkeit und kulturelle Differenz“ (S. 511) führt Frank Rexroth („[...] damit die ganze Schule Ruf und Ruhm gewinne“, S. 507-532) hingegen die Universitätsgründungen nach Pariser Vorbild in Deutschland vor. Zu einem so reflektierten Vorgehen trug bei, dass man das Pariser Modell trotz seiner anerkannten Berühmtheit inzwischen schon fast als anachronistisch empfand und wohl auch als wenig geeignet, den sozialen Wandel zu berücksichtigen und damit die Hoffnung, auch Leute von Stand in die neuen Universitäten einzubinden.

Insgesamt wurde hier ein höchst anregender Band vorgelegt, dessen detailliert belegte Einzelbeiträge nicht nur Ergebnisse sichern, sondern auch zahllose Hinweise für weitere Forschungen liefern. Nur schade, dass der inhaltlichen Solidität nicht immer die Sorgfalt in der Endredaktion entspricht. Druck-, Trennungs- und Formatierungsfehler, die sich in manchen Artikeln häufen, beeinträchtigen den Gesamteindruck, aber auch Formulierungen wie „ohne daraus politische Folgen (!) ziehen zu wollen“ (Kintzinger, S. 449) oder sachliche Fehler wie die Bezeichnung von Burchards Dekret als „Dekretalensammlung“ (McKitterick, S. 136), die Prager Universitätsgründung 1374 (!) (Kintzinger, S. 428), „Adalgiso(!)-Grimo-Testament“ (Kaiser, S. 60) „Minderheitsregiererung“ für „Minderjährigkeitsregierung“ (Reuter, S. 342); dort auch „Appelle“ statt „Appellationen (S. 336) und durchgehend „baillage“ statt „bailliage“.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa Reuter, Timothy, Ottonische Neuanfänge und karolingische Tradition, in: Puhle, Matthias (Hg.), Otto der Große, Magdeburg und Europa, Mainz 2001, S. 179-188.

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