Review-Symposium "Westforschung": Beitrag J. Dülffer

Dietz, Burkhard; Gabel, Helmut; Tiedau, Ulrich (Hrsg.): Griff nach dem Westen. Die 'Westforschung' der völkisch-nationalen Wissenschaften zum nordwesteuropäischen Raum (1919–1960). Münster 2003 : Waxmann Verlag, ISBN 3-8309-1144-0 1260 S.; 2 Bände € 74,00

: Deutsche Westforschung. Ideologie und Praxis im 20. Jahrhundert. Leipzig 2001 : AVA-Akademische Verlagsanstalt, ISBN 3-931982-23-8 304 S. € 24,50

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jost Dülffer, Historisches Seminar, Universität Köln

Mit dem Historikertag von 1998 hat die Auseinandersetzung um die Rolle der Geschichtswissenschaft in der NS-Zeit und die personellen und methodischen Kontinuitäten eine neue Qualität erhalten – später als in manchen anderen Wissenschaften, wie kritisch anzumerken ist. Eine besondere Rolle haben dabei die von Michael Fahlbusch erstmals umfassend untersuchten regionalen Forschungsgemeinschaften gespielt, die vor allem für den Osten und Südosten mit für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wichtigen Personen wie Hans Rothfels, Werner Conze und Theodor Schieder bzw. Otto Brunner eine breite Debatte auslösten. Aber auch die Westforschung trat hiermit stärker in den Blick. Der Sache nach ganz neu war auch dies nicht, wohl aber der neuen öffentlichen und damit auch wissenschaftlichen Aufmerksamkeit geschuldet, hatten doch schon zuvor recht unterschiedlich zupackende Arbeiten vor allem von Karl Ditt und Peter Schöttler für Zündstoff gesorgt. Dennoch war es eine gute Idee, die institutionalisierte und nicht-institutionalisierte Westforschung der NS-Zeit mit Vor- und Nachlauf in einer umfassenden Publikation zum Thema zu machen.

Mitarbeiter des Zentrums für Niederlandeforschung in Münster ergriffen hierzu die Initiative, deren Institut während der Bearbeitungszeit selbst gleichsam zum Gegenstand der Wissenschaft wurde. Denn der niederländische Sozialwissenschaftler Hans Derks veröffentlichte 2001 eine Studie, die eine recht direkte Kontinuität der Westforschung bis in die Gegenwart des gerade erst emeritierten Leiters Horst Lademacher behauptete. Die Herausgeber notieren dann auch: »Positionelle Klarstellungen sind also angesagt – auch unter diesem recht kurzfristig hinzugekommenen Aspekt sollte der Band gelesen werden« (S. XII).

Nun hat um Derks schon – nach einer ersten Würdigung in der Süddeutschen Zeitung – Ende 2002/Anfang 2003 eine Diskussion in H-Soz-u-Kult zwischen Fahlbusch, Ditt und Derks stattgefunden, in der die Positionen umrissen wurden 1, und in dem Münsteraner Band gibt Bernd Rusinek in seinem abschließenden Beitrag eine ausführliche Vorstellung der Stärken, aber auch eklatanten Schwächen von Derks’ Arbeit, in der alles mir wesentlich Erscheinende gesagt wird. Der »Griff nach dem Westen«-Band wird so zum Prüfstein der Vorwürfe von Derks, und mit seinem Erscheinen selbst ein Stück Historie. Die Herausgeber begegnen der Herausforderung mit schierer Quantität: Ich zähle neben der Einleitung 42 Aufsätze, z.T. mit mehreren Verfassern, einige – wie Lademacher – schreiben auch zwei Beiträge. Die Aufsätze erreichen oft um die 50 Seiten und weisen zahlreiche Überschneidungen auf. Nicht nur die zentralen Namen wie Franz Petri, Franz Steinbach und Hans Schneider/Schwerte tauchen in gleichen Situationen in vielen Beiträgen auf, auch das Institut für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande in Bonn wird in mehreren Beiträgen von seiner Gründung an und in seiner Gründung vorgestellt – die Nuancen und Widersprüche der Autoren bedürften einer gesonderten Arbeit.

Angesichts der Selbstreferentialität der neuesten Debatte über die Westforschung und ihre Folgen bis in die Gegenwart können in einer Besprechung nur einige Akzente gesetzt werden. Die Frage nach »braunen Flecken« sollte doch seit Willi Oberkromes Arbeit von 1993 über die Volksgeschichte auf einem breiteren intellektuellen Fundament stehen als der bloßen Enthüllung. Die Herausgeber benennen »letztlich« als »Kern« die Frage, »ab wann sich Wissenschaftler […] unverrückbar und in letzter Konsequenz in den Dienst nationalsozialistischer Politik stellten und sich somit der intellektuellen Vorbereitung der Verfolgungs-, Vertreibungs- und Vernichtungspolitik schuldig machten« (S. XIV). Und Lademacher bemerkt zu den Möglichkeiten der »Kulturraumforschung«, es gehe »um die grenzüberschreitenden Möglichkeiten der Kulturraumforschung, deren Nutzung nicht notwendigerweise dadurch disqualifiziert ist, dass das Regime des Dritten Reiches frühe Ergebnisse als Grundlage der Rechtfertigung grenzüberschreitender Expansion missbraucht hat« (S. 18). Das mag richtig sein, im Begriff Missbrauch liegt jedoch ein Element der Außensteuerung, das stark zu relativieren sein dürfte. Andere Autoren sprechen dann auch von Diskursen oder personellen Netzwerken, welche die nationalsozialistische Kulturpolitik nach außen in Richtung auf Westeuropa ausmachten. Darin wird recht deutlich, dass es nicht um Parteibücher, Affilationen mit dem Ahnenerbe der SS, Mitgliedschaften dortselbst, Kooperation in dieser oder jener Rolle in Besatzungsverwaltung oder Auslandsuniversität ging, sondern um persönliche Karrieren und Wirkungsmöglichkeiten, die von den betreffenden Personen selbst kamen und ausgingen. »Dem Führer entgegenarbeiten«, hat Ian Kershaw diese Gesinnung auf den Punkt gebracht; hier könnte man das abwandeln in »dem nationalen Interesse dienen« – und das wandelte sich mit den Zeitläuften, aber eben auch die Protagonisten trugen in den NS-Jahren selbst willentlich dazu bei.

Eine so starke intellektuelle Mittäterschaft wie die Herausgeber braucht man da nicht zu unterstellen. Im Westen reichte oft viel weniger. Rusinek wählt in einem insgesamt brillanten Beitrag einen anderen Weg, wenn er mit oft geschliffener, auch ätzender Rhetorik sein Thema der Nachwirkungen nach 1945 zunächst glatt und gezielt verfehlt und – ganz überzeugend – betont, man müsse bei den intellektuellen Formierungsprojekten auf das Ende des 19. Jahrhunderts zurückgehen. So vermag er – wie Lademacher – ein durchgehendes Streben nach politischem Einfluss zu erkennen, das sich nach 1945 nicht mehr germanisch, sondern europäisch-abendländisch gab. Er warnt jedoch vor dem schnellen Etikett »nationalsozialistisch« und findet einiges einfach nur reaktionär und den Zeitumständen der Publikation und Karriere angepasst – so vor allem bei Franz Steinbach, nicht aber bei Petri, dem er »politische Anbiederung« und dabei auch den Verlust wissenschaftlicher Standards attestiert. Auch hier fragt sich allerdings, ob der Autor neben der subjektiven Lage einiger Institute und Personen nicht seinerseits die teilhabende Wirkung von einschlägigen Äußerungen – etwa über germanische Verbreitung etc. – ausblendet, wenn er genaue »Klebestellen« (Anm. 195, S. 1180 – bei Leo Just) rekonstruiert.

Die vielfach netzförmig in Wissenschaft und Politik verwobenen Zusammenhänge der 1920er bis 1940er-Jahren werden in den beiden Bänden aus vielfältigen Perspektiven und sektoral angegangen und ergeben ihrerseits wieder ein Netz. Die »Westdeutsche Forschungsgemeinschaft«, das von Michael Fahlbusch gegenüber seinem Buch hier auf 80 Seiten vertiefte Thema, sieht er aus der Niederlage von 1918 und dem Friedensschluss mental hervorwachsen. In der Weltwirtschaftskrise von 1931 bis 1934 wurden mit staatlicher Unterstützung die diversen »Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften« gegründet, so auch die Rheinische Forschungsgemeinschaft unter Franz Steinbach, später Theoder Mayer und Friedrich Metz. Dazu gehörten dann die einschlägigen Forschungsinstitute in Münster, Bonn sowie Frankfurt am Main und Freiburg im Breisgau. Auf den vier Funktionsebenen, die Fahlbusch schlüssig hervorhebt, ergaben sich nach dem deutschen militärischen Sieg im Westen 1940 ganz andere Aktionsmöglichkeiten, die hier und von vielen anderen Autoren vorgeführt werden.

Besonders zu nennen sind in diesem Rahmen recht informative Beiträge über die einzelnen Disziplinen wie die Soziologie (Carsten Klingemann), Archäologie (Uta Halle), Volkskunde (Björn Rzsoska und Barbara Henkes), Religionsgeschichte (Stefan Ehrenpreis) und Literaturwissenschaft (Ine Van linthout). Die Interpretamente einzelner geschichtlicher Ereignisse werden elegant und eloquent von Heribert Müller zum Neusser Krieg von 1474/75 entfaltet, so wie sich Johannes Arndt der Konstruktion niederländischer Nationalgeschichte seit 1648 bei Eduard Schulte annimmt. Andere personenbezogene Beiträge befassen sich mit Leo Just, der relativ stark entlastet wird (Michael Feldkamp) oder Gerhard Kallen bei Klaus Pabst, der einen recht vielschichtigen Befund präsentiert. Horst Lademacher stellt hinter seinen Beitrag »Deutsch-niederländische Symphonie« (das ist der Titel einer Publikation von 1937) ein Fragezeichen und arbeitet bei aller Anpassung an die Zeitläufte aber auch die Möglichkeit zur Abschirmung in der »Deutsch-Niederländischen Gesellschaft« heraus. Karl Ditt gibt einen knappen Digest seiner umfänglichen Arbeiten, indem er die Politisierung der Kulturraumforschung bei Franz Petri in der NS-Zeit klar herausarbeitet, aber auf der »Innovationskraft der Kulturraumforschung« und der Habilitationsschrift von Petri aus dem Jahre 1937 beharrt. Diese wird von Martina Pitz in einem gesonderten Beitrag wissenschaftlich und wissenschaftsgeschichtlich einer Musterung unterzogen. In vielen dieser Beiträge sind die Ambivalenzen von Politisierung und wissenschaftlichem Ertrag ausgesprochen: Das eine zu verzeichnen, heißt nicht, das andere von vornherein auszuschließen.

Besonders hervorzuheben sind die von Niederländern oder Belgiern verfassten Beiträge, aber auch andere Aufsätze, welche die Interaktion von den Ansätzen und Kooperationen Deutscher mit Niederländern, Belgiern und Luxemburgern seit dem Ersten Weltkrieg hervorheben. In der Monografie von Hans Derks liest sich das dagegen sehr viel einsträngiger. Sehr viele seiner Kapitelüberschriften tragen Fragezeichen, die dann aber doch zur Eindeutigkeit der Unterstellung von Zusammenhängen werden. Er arbeitet neben der Entstehung der Westforschung nach dem Ersten Weltkrieg vor allem die niederländische wie die parallele deutsche Westforschung heraus und sieht sich wiederholt in der Position, die »Lügennetzwerke« (z.B. S. 141) zu enttarnen oder zu zerreissen. Er stellt die Wissenschaftlichkeit der Volkskunde insgesamt in Frage und findet in der koordinierten Raumplanung während des Zweiten Weltkrieges Ansätze zu manchen holländischen Vorhaben der Nachkriegszeit. Insbesondere die Besiedlung der Ijselmeerpolder sieht er als Ausfluss dieser Überlegungen entstehen. Das ist bedenkenswert. Und schon ab 1955 soll nach seiner Diagnose erneut das »Kulturdreieck Münster/Bonn – Nijmegen – Utrecht« (S. 244) wieder hergestellt worden sein, das dann zur alt-neuen Auffüllung drängte. In der Tat gelingen Derks recht viele scharfsinnige Beobachtungen über Zusammenhänge der reaktionären und rassischen Westplanung im Zweiten Weltkrieg und zu den personellen Kontinuitäten der entscheidenden Personen – wenn er etwa zeigt, wie der bereits in den 1920er-Jahren recht wichtige Hermann Aubin 1957 in den für die »Innere Führung« der Bundeswehr zentralen »Schicksalsfragen der Gegenwart« das »Problem Deutschland – Reich – Abendland« in seinen Bezügen zur Sicherung nach Osten erklärte. Rusinek sieht hier »plane Reaktionäre« am Werk und erkennt »Netzwerkflicker« mit einer gehörigen Portion »Dreistigkeit« (S. 1148). Mit Rusinek kann man bei Derks aber leider eine ganze Reihe »interpretatorischer Husarenstücke« erkennen, die vor allem einem sehr schlichten, »hanebüchenen« Begriff von Kontinuität herausarbeiten.

Die Zwischenbilanz der Debatte ist nicht leicht auf einen Punkt zu bringen. Die Quellenhäufung und digestähnliche Zusammenfassung mancher Texte und Autoren der Westforschung vor und nach dem Nationalsozialismus ist nützlich. Die personellen Kontinuitäten sind mit der Hand zu greifen. Die Frage nach den sachlichen, methodischen und politischen Kontinuitäten und Brüchen ist dagegen sehr viel schwerer über einen Kamm zu scheren. Deutlicher als je zuvor sind jedoch die direkten institutionellen und politischen Wirkungen und Einflüsse gerade von Westforschern in der und auf die deutsche Besatzungspolitik, vor allem auf die Zukunft nach einem siegreich erwarteten Krieg zu fassen. Wissenschaft dieser Prägung erhielt recht bedeutende politische Macht, an welche die jüngeren Personen seit den 1950er-Jahren wieder im abendländisch-westeuropäischen Integrationsrahmen anknüpften. Offen und weiterer Diskussion wohl für jeden einzelnen Fall bedürftig, scheint die Frage, ob die einschlägigen Forscher intellektuell dürftig oder wegweisend, trotz politischer Einbettung wirkten. Gerade die Frage der bereits damals praktizierten Interdisziplinarität ist hier von Belang.

Die Herausgeber kündigen eine weitere Publikation für die nächsten Jahre an, die sich dann nicht mehr dem – wenig glücklich bezeichneten »Nordwesten«, sondern dem Westen bzw. Südwesten widmen soll. Weniger, so darf man sich jetzt schon wünschen, wäre dann allerdings mehr.2

Anmerkungen:
1 Michael Fahlbusch über Derks, Hans, Deutsche Westforschung. Ideologie und Praxis im 20. Jahrhundert, Leipzig 2001, in: H-Soz-u-Kult, 27.06.2002, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/ZG-2002-085>; Karl Ditt über Derks, Hans: Deutsche Westforschung. Ideologie und Praxis im 20. Jahrhundert, Leipzig 2001, in: H-Soz-u-Kult, 01.12.2002, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=2314>.
2 Diese Besprechung wird im Herbst 2003 ebenfalls erscheinen in „Geschichte in Köln. Zeitschrift für Regionalgeschichte“ 50.

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