Review-Symposium "Westforschung": Beitrag P. Schöttler

Cover
Titel
Griff nach dem Westen. Die 'Westforschung' der völkisch-nationalen Wissenschaften zum nordwesteuropäischen Raum (1919–1960)


Herausgeber
Dietz, Burkhard; Gabel, Helmut; Tiedau, Ulrich
Reihe
Studien zur Geschichte und Kultur Nordwesteuropas 6
Erschienen
Münster 2003: Waxmann Verlag
Anzahl Seiten
1260 S.; 2 Bände
Preis
€ 74,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Schöttler, Deutsch-französisches Forschungszentrum für Sozialwissenschaften, Centre Marc Bloch

Der Frankfurter Historikertag von 1998 machte es möglich: Hatte noch in den 1980er kein Doktorand, der etwas werden wollte, über das Verhalten der Historiker im Nationalsozialismus zu forschen gewagt, wird nun offenbar freimütig debattiert. Überall finden Kolloquien, Ringvorlesungen und Seminare statt. Als ob endlich ein Tabu gefallen wäre und nun auch jene, die bislang immer erst, gleichsam präventiv, von einer „Diffamierungsattacke” (Hans-Ulrich Wehler) sprachen, endlich eingesehen hätten, dass nur eine schonungslose Aufarbeitung das ramponierte Ansehen ihrer (bzw. unserer) Zunft wiederherstellen könnte. Bekommen wir also doch noch den oft beschworenen ‚Geschichtsdiskurs’ - das herrschaftsfreie Gespräch zwischen rational argumentierenden Subjekten, denen nichts so am Herzen liegt wie die Wahrheit? Schön wär’s ja.

Jedenfalls hat dieser Schub auch einige jüngere Historiker aus dem Umkreis des Münsteraner „Zentrums für Niederlande-Studien“ erfasst, die daraufhin ein Projekt über die deutsche „Westforschung“ auf den Weg brachten, dessen Ergebnisse nun in einem Sammelband vorliegen. Rein äußerlich ein gewaltiger Brocken: zwei Bände, über 1.300 Seiten. Und zu einem stolzen Preis von 74 Euro.

Auf den ersten Blick wirkt das Werk wie ein Handbuch: 42 Einzelbeiträge behandeln ein breites Spektrum von Themen: das „Selbstbild von Raumplanern im Nationalsozialismus“ oder der „flämische Nationalismus zwischen den Weltkriegen“, die „Deutung des Jahres 1648“ oder die „protestantische Kirchengeschichtsschreibung im Rheinland“, die „Volkskunde“ in den besetzten Niederlanden oder die „Bonner Kunstgeschichte im Kontext nationalsozialistischer Expansionsgeschichte“ usw. Hinzu kommen die „usual suspects“: Franz Petri, Franz Steinbach, Hans Schneider-Schwerte sowie einige weniger bekannte Figuren wie Robert Oßwald, Gerhard Kallen, Karl Wülfrath usw. Außerdem werden Institute und Apparate porträtiert: die „Westdeutsche Forschungsgemeinschaft“ natürlich, das „Institut für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande“, der „Provinzialverband der Rheinprovinz“, das Brüsseler „Deutsche Wissenschaftliche Institut“ usw. Das alles wird am Ende durch zwei umfangreiche Register erschlossen. Man kann also davon ausgehen, dass diese Bände bei künftigen Forschungen als willkommener Steinbruch dienen werden. Oder gar als Ausgangspunkt?

Das kommt darauf an. Wer wissen will, was in der deutschen Historikerzunft derzeit gesagt werden „kann“, wohin der herrschende Trend geht, wer die „good guys“ und wer die „bad guys“ sind, wird mit diesen zwei Bänden sicher gut bedient. Ein bisschen Zwischen-den-Zeilen-lesen haben Kulturwissenschaftler ohnehin gelernt. Wer allerdings neue Ideen und Entwürfe oder eine gleichermaßen kritische und konstruktive Bilanz der bisherigen Forschungen erwartet, sollte sich die Bände vor der Anschaffung doch etwas genauer ansehen.

Dicke Bücher müssen sich von der Sache her begründen, und das gilt erst recht für teure Sammelbände, die immer in dem Verdacht stehen, nur Druckkostenzuschüsse und Bibliotheksetats zu verschlingen. Wie sich herausstellt, sind aber mindestens fünf Aufsätze (Michael Fahlbusch, Hans-Paul Höpfner, Marlene Nikolay-Panter, Frank-Rutger Hausmann und Karl Ditt) keine Originalbeiträge. Zwei Autoren (Nikolay-Panter und Ditt) haben dies fairerweise vermerkt, die drei anderen (oder sind es noch mehr?) haben stillschweigend alte Dateien abgeliefert: insgesamt rund 200 Druckseiten. Neueste Forschungen sind das also nicht.

Die Großzügigkeit der Herausgeber gegenüber ihren Autoren war offenbar grenzenlos. Manche von ihnen breiten auf zwanzig, dreißig, ja sogar vierzig Seiten ihr Material aus, ohne sich um eine konsistente Problemstellung zu kümmern. Gewiss, Experten mögen auch darin noch etwas Interessantes entdecken, aber gibt es für die Publikation solcher Texte nicht längst das Internet? Bei der oft mühsamen Lektüre der 42 Aufsätze - auf einige der wirklich lesenwerten komme ich gleich zu sprechen - wird man den Eindruck nicht los, hier sollte um jeden Preis - und zwar im mehrfachen Sinne des Wortes - geklotzt werden, ohne jede Rücksicht auf das Zeit- und Geldbudget der Leserinnen und Leser.

Dieses Missverhältnis zwischen Quantität und Qualität ist umso betrüblicher, als der Umfang des Buches den Herausgebern als Argument dient, um ihre wohl wichtigste inhaltliche Vorentscheidung zu begründen: die völlige Ausklammerung Frankreichs. Wie sie in der Einleitung betonen, sollte sich das Projekt allein auf die „nordwesteuropäische Variante der ‚Westforschung’“ (S. IX) konzentrieren. Obwohl sie einräumen, dass „Frankreich [...] am Anfang der deutschen ‚Westforschung’ stand“ (S. XI), meinen sie die deutsche Frankreich-Beschäftigung und deren Folgen auf eine spätere Publikation verschieben zu können. Kleinlaut fügen sie hinzu, dass diese Prioritätensetzung „selbstredend auch mit der regionalen Ausrichtung der Lehr- und Forschungsstätten zu tun [habe], an dem [recte: denen] die Idee zur Herausgabe des Sammelbandes 1998/99 im wesentlichen geboren wurde“ (S. XI).

Was harmlos klingt - und, wie gesagt, materiell unbegründet ist -, bedeutet freilich eine Einschränkung, die in jedem Methodenseminar zerpflückt würde. Denn eine „nordwesteuropäische Variante der ‚Westforschung’“ hat es nie gegeben. Auch bildeten die hier gemeinten Be-Ne-Lux-Staaten (übrigens: seit wann liegt Luxemburg im „Nordwesten“? wo liegt dann Paris?) zu keiner Zeit ein eigenständiges Forschungsobjekt der „Westdeutschen Forschungsgemeinschaft“. Natürlich interessierten sich einzelne „Westforscher“ z.B. für Volkstänze auf Walcheren oder Naturlyrik in Ostflandern, aber im Kern ging es doch immer um den „Erbfeind“ Frankreich, den man vernichten und dessen politischem, ökonomischem und „rassischem“ Einfluss man vor allem die Belgier entziehen wollte. Allein für diesen Zweck gaben die Berliner Ministerien und im Krieg auch das „Reichssicherheitshauptamt“ ihre Gelder. Hinzu kommt, dass die Benelux-Länder zwischen 1940 und 1944 völlig verschiedene Besatzungsstrukturen hatten - von der Militärverwaltung (Belgien) über die Zivilverwaltung (Holland) bis zur Annexion (Luxemburg) -, wobei Nordfrankreich bekanntlich zu Belgien geschlagen wurde. Wie kann man daher als Historiker oder Historikerin ernsthaft über diese Gebiete sprechen und sich auf die Benelux-Länder in den Grenzen von 1939 (oder 2003) beschränken? Ein krasser Anachronismus also, an den sich viele Autoren glücklicherweise nicht immer gehalten haben. Aber die strategische Entscheidung der Herausgeber, dass auf über 1.300 Seiten Frankreich „eigentlich“ nicht vorkommen sollte, hat eben zur Folge, dass genau jene Bereiche, die von den Zeitgenossen als besonders wichtig betrachtet wurden, hier völlig unausgeleuchtet bleiben. Eine geradezu verblüffende Verzerrung der Perspektive.

Zu wessen Gunsten? Im Fokus des Buches liegen die Städte Münster, Bonn, Köln und Aachen mit ihren Hochschulen und Instituten. Alles, was dort in den 1920er und 1930er-Jahren zum Thema „Westen“ und „Westgrenze“ imaginiert und publiziert wurde, scheint a priori von Interesse gewesen zu sein. Entsprechend heterogen ist das Themenspektrum der vorliegenden Aufsätze, die pragmatisch in vier Rubriken aufgeteilt wurden: 1. „übergreifende Beiträge“, 2. „inhaltliche und ideologische Grundlagen der Westforschung“, 3. „Organisationen, Institute und Initiativen der Westforschung“, 4. „einzelne Westforscher und Kontinuitäten der Westforschung nach 1945“. Einige Texte behandeln ganz allgemeine Fragen, andere sind ideengeschichtlich orientiert, wieder andere rekonstruieren die Biografie einzelner „Westforscher“. Auffällig ist dabei, dass nicht wenige der zu Wort kommenden Autoren Mitarbeiter jener Institutionen sind, über deren Geschichte oder Vorgeschichte sie handeln. Einige von ihnen sind auch Doktoranden, andere haben bereits den „Unruhestand“ erreicht und machen sich nun an die Geschichte ihres eigenen Umfelds. Das wirkt sympathisch, ist aber nicht ohne Risiko. Bei einem Beitrag handelt es sich sogar um einen autobiografischen Bericht: Marta Baerlecken-Hechtle (geb. 1909) war während des Krieges Assistentin von Franz Petri und konnte folglich die „Westforschung“ in Aktion erleben - und offenbar auch daran teilnehmen.1 Dass sie selbst - schon damals - den Nazismus „innerlich“ ablehnte, mag zutreffen, aber wenn sie heute als „Zeitzeugin“ ihren ehemaligen Chef in Schutz nimmt, ist auch dies nicht mehr als eine mögliche „Erinnerung“, die nach allem, was wir inzwischen von Petri und den Notlügen der „Westforscher“ wissen - Wilfried Maxim spricht von einer „kollektiven Vertuschungsorgie“ (S. 733) - einer kritischen Betrachtung bedürfte.

Dieser regionale Zuschnitt des Projekts hat noch einen weiteren inhaltlichen Preis: „Westforschung“, die außerhalb von Rheinland und Westfalen betrieben wurde, kommt kaum vor, obwohl die „Westdeutsche Forschungsgemeinschaft“ die meiste Zeit von Nicht- bzw. „Süd-Rheinländern“ geleitet wurde (Theodor Mayer, Wolfgang Panzer, Friedrich Metz) und einige der brisantesten Forschungsarbeiten in Berlin und anderswo entstanden sind. Zu denken ist an die Bücher von Raumer, Metz, Pleyer, Helbok usw., an das „Handwörterbuch des Grenz- und Auslanddeutschtums“ oder an das „Westprogramm“ der deutschen Archivverwaltung. All das wird zwar in dem einen oder anderen Aufsatz angetippt, rückt aber nie in den Mittelpunkt des Interesses. Darüber hinaus erfahren wir fast nichts über die wichtigen Westforschungsinstitute in Frankfurt, Heidelberg, Freiburg usw., und dasselbe gilt für die „Publikationsstelle West“, die analog zur berüchtigten „PuSte-Ost“ den „Westen“ mit Druckwerken versorgen sollte. Auch für diese Lücken ist nicht die Forschungslage, sondern allein eine „nordwesteuropäische“ Einäugigkeit verantwortlich.

Was also bleibt? Einige Aufsätze sind tatsächlich neu, durchdacht und lohnen die Lektüre. Einige weitere sind äußerst informativ, auch wenn die Interpretation vielleicht nicht immer sehr weit führt. Und schließlich gibt es wenigstens zwei Beiträge, die auch die Grundsatzdebatte über die Rolle der „Westforschung“ mit neuen Überlegungen bereichern. Natürlich können nicht alle diese Texte im Folgenden referiert werden, doch wenigstens einige seien genannt.

Unter den ideengeschichtlichen Beiträgen ragen auf deutscher Seite vor allem zwei hervor. Da ist zum einen die umfangreiche Abhandlung von Heribert Müller (Frankfurt am Main) über Burgund und den „Neußer Krieg“ von 1474/75 im Spiegel der neueren Geschichtsschreibung (S. 137-184). Obwohl in den Wertungen stets vorsichtig, bietet Müller ein historiografisches Panorama, das zum ersten Mal eine jener halb-akademischen, halb-politischen Kontroversen erhellt, die durch die Tagungen der „Westdeutschen Forschungsgemeinschaft“ geisterten. Ein zweiter besonders lesenswerter Beitrag stammt von einer Saarbrücker Linguistin, Martina Pitz, die noch einmal die Habilitationsschrift von Petri unter die Lupe nimmt („Germanisches Volkserbe in Wallonien und Nordfrankreich“, Bonn 1937) und das darin verwendete Belegmaterial Punkt für Punkt überprüft (S. 225-246). Das Ergebnis: Rund 50 Prozent der angeführten Ortsnamen sind falsch. Auch wenn dieser Befund eigentlich noch durch die Forschungen von Mediävisten wie Karl Ferdinand Werner oder Patrick Geary 2 oder von Historischen Geografen wie Robert Specklin 3 zu ergänzen gewesen wäre, bleibt von der angeblichen Innovation des „Westforschers“ am Ende nichts weiter übrig als der banale Befund eines fränkischen „Großraums“, in dem es oft drunter und drüber ging.

Von den acht Originalbeiträgen aus den Benelux-Ländern ist v.a. die Studie von Marnix Beyen (Löwen) bemerkenswert, der kürzlich ein wichtiges Buch über Geschichtswissenschaft und Nationalbewusstsein in Belgien und Holland vorgelegt hat.4 Beyen rekonstruiert, wie belgische und deutsche Gelehrte unter jeweils wechselnden politischen Vorzeichen die „germanische“ Komponente in der wallonischen Kultur zu ermitteln suchten - bis hin zu jenen „Luftspiegelungen“, mit denen sich Petri seinen Vorgesetzten empfahl. (S. 351-381) Interessante neue Aspekte liefert auch der Beitrag von Carlo Lejeune (St. Vith), der gegenüber einem allzu pauschalen Urteil früherer Darstellungen (auch des Rezensenten) betont, dass es nicht die „Westforscher“ waren, die Eupen-Malmedy „annektierbar“ machten; auch ein übersteigerter belgischer Nationalismus hätte nach dem Ersten Weltkrieg unter der deutschsprachigen Bevölkerung sehr viel Unmut erzeugt (S. 493-538). Freilich mussten die Menschen dann nach der Annexion von 1940 entdecken, „daß die nationalsozialistische Realität mit ihren persönlichen Vorstellungen wenig gemein hatte“ (S. 536).

Zu den besonders lohnenden Beiträgen gehören zweifellos die Aufsätze von Wilfried Maxim (Siegen) und Thomas Müller (Aachen). Beide sind aus Magisterarbeiten hervorgegangen. Durch die genaue Lektüre einer breit gefächerten Publizistik zeigt Maxim, wie die „Bonner Schule“ eine „Geschichte der Differenz“ etablierte, die Grundlagen für groß angelegte „ethnische Flurbereinigungen“ in Westeuropa legen sollte (S. 715-740). Die dabei in Kauf genommene Barbarei hat allein der Kriegsverlauf verhindert. In zwei gründlichen Aufsätzen untersucht Müller die in Aachen angesiedelte „Abteilung Grenzland“ der NSDAP (S. 763-790) sowie die von Geografen wie Hermann Overbeck oder Walter Geisler betriebene „Westforschung“ an der RWTH (S. 819-850). Wurde diese andernorts von Geisteswissenschaftlern dominiert, orientierte man sich in Aachen eher an technokratischen Gesichtspunkten. „Raumforschung“ war das Zauberwort. Auch wurden im „Seminar für Auslandsingenieure“ gezielt Experten - darunter „Ingenieurgeografen“ - für die zu erobernden „Großräume“ ausgebildet.

Obwohl die Anstrengung des Begriffs in dem einen oder anderen Text zu spüren ist, bleibt die gedankliche Verarbeitung der „Westforschung“ - zumal auf dem Hintergrund stattgefundener Diskussionen - eigentümlich blass. Horst Lademacher (Münster) begnügt sich z.B. in seinem einleitenden Aufsatz mit dem alten Topos vom „Missbrauch“ eines an sich durchaus „legitimen“ Wissenschaftsansatzes - als ob man „Volksgeschichte“ und völkische Ideologie nachträglich auseinander sortieren könnte. (S. 1-25)5 Einige jüngere und kritischere Autoren greifen dagegen lieber auf die Konzepte Foucaults zurück, ohne damit allerdings viel zu erklären: An einer Stelle ist sogar allen Ernstes von einem „Diskurs um die Macht am Rhein“ die Rede (S. 587). Eigentlich haben nur Thomas Kleinknecht (Münster) und Bernd Rusinek (Düsseldorf) versucht, die „Westforschung“ etwas grundsätzlicher in den Blick zu nehmen. Kleinknecht skizziert in einer etwas komplizierten Sprache eine geschichts- und wissenschaftsphilosophische Deutung der „Westforschung“, die v.a. deren gegenaufklärerischen Denkstil herauspräpariert (S. 53-66). Dass dieser mit seiner Sprache und seinen Praxisformen bis in die 1960er-Jahre nicht bloß in Bonn, Münster und Aachen, sondern z.B. auch den Heidelberger „Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte“ dominierte, hat kürzlich auch Thomas Etzemüller gezeigt.6 Während Kleinknecht seinen Text bescheiden als „Miszelle“ definiert (S. 53), greift Rusinek in seinem umfangreichen Schlussbeitrag über die „Westforschungstraditionen nach 1945“ sehr viel weiter aus (S. 1141-1201). Am Beispiel des Bonner „Instituts für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande“ soll ein „Versuch über Kontinuität“ vorgelegt werden, so der Untertitel, welcher anhand von vier „P’s“ - Personal, Programm, Publikationen und Prestige - die „trajectory“, d. h. die „Geschoßbahn einer anwendungsorientierten und politiknahen Geschichtswissenschaft“, beschreiben und verständlich machen möchte. (S. 1200)

Rusineks Anspruch ist hoch: Zu Recht warnt er vor „unterkomplexen“ Analysen, terminologischer Leichtfertigkeit und einer „Tendenz zur Personalreduktion“, die „quer zu den inzwischen erreichten geschichtswissenschaftlichen Standards“ liege. „Statt ein paar weiteren Urgroßvätern auf die Schliche zu kommen, sollten politische und akademisch-institutionelle Rahmenbedingungen sowie die im Zusammenhang damit entstandenen Forschungsstrategien und methodologischen Optionen analysiert werden - mithin die Strukturen der Wissenschaft und ihrer Organisation“ (S. 1148f.). Es reiche nicht aus, von einem „Versagen der Wissenschaft“ zu sprechen und „mit dem Finger auf Akteure“ zu zeigen. Doch auch die umgekehrte Gefahr wird andeutet, indem es heißt: „Einige Wissenschaftshistoriker gelangen zu der Feststellung, Karriere-Kontinuitäten bei Anbiederung an aufeinander folgende Regimes spiegelten nur das gewöhnliche Verhältnis zwischen Staat und Wissenschaft wider, sie seien normal und daher nicht übermäßig zu dramatisieren“ (S. 1150).

Inwiefern Rusineks eigener Aufsatz wert- und moralfrei ist und auf jeden Fingerzeig verzichten kann, steht natürlich auf einem anderen Blatt. Seine schwungvoll vorgetragene Interpretation ist jedenfalls provokativ: Die „Westforschung“, so die These, stehe in einer langen Kontinuität, die vom späten 19. Jahrhundert bis in die 1960er-Jahre reiche. Auch liege der Höhepunkt nicht etwa in den 1930er, sondern schon in den 1920er-Jahren. Von da an hätten die Autoren des Bonner Instituts „im Kern immer dasselbe“ geschrieben: Nur „einmal in ihrem wissenschaftlichen Leben“, nämlich bei der „Kiellegung ihres landeshistorisches Ansatzes“, seien sie „kreativ“ gewesen; danach hätten sie nur noch „wie festgenagelt“ ihre „rechten 1920er-Jahre-Standpunkte“ verteidigt (S. 1188f.). Wohlgemerkt: „Wenn in den Jahren nach 1945 inhaltliche Kontinuitäten zu beobachten waren, dann handelte es sich grundsätzlich um Anknüpfungen an die Weimarer oder wilhelminische Zeit, nicht jedoch um nazistische Kontinuität.“ (S. 1193) Auch die unveränderte Wiederveröffentlichung von Büchern und Aufsätzen aus der NS-Zeit sei kein Gegenbeweis.

Bei aller Liebe zur „longue durée“: Rusineks „trajectory“-These dürfte nur jene überzeugen, die schon seine Prämissen teilen. Dazu gehört vor allem der Glaube an das Innovationspotential der Bonner Landes- und Volksgeschichte, wie es in den letzten Jahren zwar immer wieder behauptet 7, aber nie bewiesen wurde. Auf die entsprechenden Gegenargumente - z.B. dass Interdisziplinarität, „Raumdenken“,„Ganzheitlichkeit“ usw. nicht eo ipso wissenschaftlich und innovativ seien 8 - , geht auch Rusinek nicht ein. Dafür versucht er jenen entlastenden Kontinuitätsbogen 9 plausibel zu machen, indem er auf das Lamprecht’sche Erbe in der Bonner Landesgeschichte und auf deren „Nähe“ zur französischen „Annales-Schule“ verweist. Bekanntlich wird mit diesem rhetorischen Schachzug seit einiger Zeit versucht, eine Modernität der Volksgeschichte zu suggerieren und das intellektuelle Scheitern der deutschen Historiker in den 1920er und 1930er-Jahren zu relativieren: Wenn die deutschen und französischen Historiker im Grunde alle „das Gleiche“ wollten, lediglich mit anderen Vorzeichen, wäre die Debatte endlich ausgestanden.10 Diese ideengeschichtliche Konstruktion verdankt sich allerdings einem simplen „Tunneleffekt“ (Jack Hexter): Man sieht nur, was man heute noch sehen will, und macht sich nicht die Mühe einer historiografischen Überprüfung. Dass das Bonner Institut etwas mit Lamprechts Ideen zu tun gehabt habe, gehört seit Jahren zum dortigen „Familienroman“, ist aber bislang, was den Institutsgründer Aubin angeht, nie genauer gezeigt worden und auch nachgerade absurd: Aubin war nämlich einer der einflussreichsten Schüler und Erben von Lamprechts Erzfeind, Georg von Below. Von diesem übernahm er die Herausgeberschaft der „Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte“ und führte sie im Geiste des Lehrers weiter. Auch Rusineks Argument, die „methodische Nähe“ der „Annales“ zum „Bonner Ansatz“ sei schon dadurch „gegeben“, „daß Fernand Braudel, neben Marc Bloch Haupt der ‚Annales’, Schüler von Lamprecht gewesen“ sei (S. 1157), kann nur als kurios bezeichnet werden: Braudel wurde 1902 geboren und hat nirgendwo anders als in Paris studiert, Lamprecht aber ist bereits 1915 gestorben. Also, „etwas mehr Tiefenschärfe“ (S. 1142) wäre tatsächlich vonnöten.

Damit breche ich ab. Mein Gesamteindruck ist angesichts dieses ebenso umfangreichen wie heterogenen Buches äußerst gemischt. Neben ein paar sehr guten und vielen immerhin interessanten Aufsätzen finden sich leider allzu viele, die kaum die Hürden eines anspruchsvollen Lektorats überwunden hätten. Nachdrucke älterer Texte erscheinen in einem solchen Zusammenhang ohnehin überflüssig. Bedenklich scheint darüber hinaus, dass einige Beiträge sehr stark „pro domo“ argumentieren, als ob nicht gerade in Sachen „Volksgeschichte“ ein Rückfall in Apologie und „Hausgeschichtsschreibung“ eine besondere Gefahr wäre. Einige der erfahreneren Autoren hätten dies wissen müssen.

Anmerkungen:
1 Vgl. die Hinweise in: Derks, Hans, Deutsche Westforschung. Ideologie und Praxis im 20. Jahrhundert, Leipzig 2001, S. 93f., 198f. Auch wenn an diesem Buch vieles problematisch ist (sachliche Irrtümer, wüste Polemik usw.), machen es sich seine Kritiker allzu einfach. Manche These verdient durchaus diskutiert zu werden. Oder wie ein ostdeutscher Liedermacher in den 1970er-Jahren dichtete: „Wenn die einen ständig zu kurz gehen, gehen die andern eben ein bißchen zu weit“.
2 Vgl. bes. Werner, Karl Ferdinand, La „conquête franque“ de la Gaule. Itinéraires historiographiques d’une erreur, in: Bibliothèque de l’École des Chartes 154 (1996), S. 7-45; Geary, Patrick J., Europäische Völker im frühen Mittelalter. Zur Legende vom Werden der Nationen, Frankfurt am Main 2002.
3 Vgl. Specklin, Robert, La géographie de la France dans la littérature allemande (1870-1940), ungedruckte Diss., Universität Paris I, 1980. Große Teile dieser Arbeit sind auch in Aufsatzform erschienen; vgl. z.B. Ders., Contrastes Nord-Sud en France, in: Regio Basilensis 20 (1979), S. 16-63 (zu Petri: S. 30 ff.).
4 Beyen, Marnix, Oorlog & Verleden. Nationale Geschiedenis in België en Nederland, 1938-147, Amsterdam 2002.
5 Zu dieser immer noch beliebten Rhetorik des „Missbrauchs“ vgl. die semantische Analyse von Mehrtens, Herbert, „Mißbrauch“. Die rhetorische Konstruktion der Technik in Deutschland nach 1945, in: Technische Hochschulen und Studentenschaft in der Nachkriegszeit. Referate beim Workshop zur Geschichte der Carolo-Wilhelmina am 4. und 5. Juli 1994, Braunschweig 1995, S. 33-50.
6 Vgl. Etzemüller, Thomas, Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, München 2001.
7 Vgl. besonders: Oberkrome, Willi, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft, Göttingen 1993, sowie Ders., Historiker im „Dritten Reich“. Zum Stellenwert volkshistorischer Ansätze zwischen klassischer Politik- und neuerer Sozialgeschichte, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 50 (1999), S. 74-98.
8 Vgl. u.a. Roths, Karl-Heinz, Rezension des in Anm. 7 zitierten Buches von Oberkrome, in: Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 9 (1994), S. 129-136; Schöttler, Peter (Hg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918-1945, Frankfurt am Main 1997, S. 17ff.; Ders., ”Von der rheinischen Landesgeschichte zur nazistischen Volksgeschichte - oder die «unhörbare Stimme des Blutes»”, in : Schulze, Winfried; Oexle, Otto Gerhard (Hgg.), Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 1999, S. 89-113; Flügel, Axel, Ambivalente Innovation. Anmerkungen zur Volksgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 26 (2000), S. 653-671.
9 Übrigens wäre hier Ditts Einwand gegenüber der (ebenso absurden) Kontinuitätsthese von Derks angebracht, dass nämlich „die Behauptung der Kontinuität einer ‚Westforschung’ vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik einen Teil der entsprechenden Volks- und Kulturraumarbeiten sowie der Wissenschaftspolitik während des Dritten Reiches“ verharmlose. Westfälische Forschungen, 52, 2002, S. 596. Ebenfalls aufzurufen unter: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=2314>
10 Vgl. Schöttler, Peter, Die intellektuelle Rheingrenze. Wie lassen sich die französischen „Annales“ und die NS-Volksgeschichte vergleichen?, in: Conrad, Christoph; Conrad, Sebastian (Hgg.), Die Nation schreiben. Geschichtswissenschaft im internationalen Vergleich, Göttingen 2002, S. 271-295.

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