W. Burkert: Die Griechen und der Orient

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Titel
Die Griechen und der Orient. Von Homer bis zu den Magiern


Autor(en)
Burkert, Walter
Erschienen
München 2003: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
176 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Irene Huber, Institut für Alte Geschichte und Altorientalistik, Universität Innsbruck

Gute Bücher können ihre Leser auch unbescheiden machen.1 Das trifft auf das neueste Werk des Doyens deutschsprachiger Altertumswissenschaften über weite Strecken zu. Doch beginnen wir systematisch. Das Büchlein vereinigt auf 124 Textseiten immerhin fünf kleine Einzelstudien zu verschiedenen Aspekten der Kontaktnahme zwischen Griechen und Orient. Die italienische Originalausgabe entstand aus einer mittlerweile sieben Jahre zurück liegenden Vorlesungsreihe des Autors an der Universität Venedig,2 und erfuhr bald Übersetzungen ins Französische und Spanische.3 Nun wurde es von Burkert selbst ins Deutsche übertragen, der Text gegenüber den anderen Versionen überarbeitet und um ein Kapitel erweitert. Zielsetzung ist es, auch dem sogenannten "Laien" den interkulturellen Kontext griechischer Kultur bewusst zu machen, mit der neuesten Forschung Schritt zu halten und "doch der Gelehrsamkeit die Lesbarkeit nicht zu opfern" (S. 7).

Der allgemeine Aufbau des Bandes stellt sich wie folgt dar: Nach einer generellen Hinführung zum Thema (S. 9-22) widmen sich fünf Kapitel (S. 23-133) unterschiedlichen Facetten der Beeinflussung Griechenlands seitens seiner östlichen Nachbarn. Ein Anmerkungsteil (S. 136-159), orientalische Quellentexte in Übersetzung (S. 161), weiterführende Literaturhinweise (S. 163-170) und ein Index (S. 171-176) vervollständigen das Werk.

Unter dem Titel "Das klassische Griechenland auf orientalischem Hintergrund" (S. 9-22) geht der Autor der Frage nach, warum man die griechische Kultur lange Zeit isoliert als "klassisch", im Sinne von einzigartig, sehen wollte und gibt einen Überblick über die Entwicklung des Klassikbegriffes seit der Renaissance. Damit einher geht ein forschungsgeschichtlicher Abriss über den jeweiligen Stand interkultureller Studien bis hin zur Gegenwart. Des Weiteren bietet er eine Definition der Begriffe 'Orient' und 'Griechenland' und weist auf die Problematik der geistigen Abgrenzung durch ideologische Aufladung der Begriffe 'Ost' und 'West' hin. Eine straffe, chronologisch aufgebaute Übersicht der mannigfachen Kontaktmöglichkeiten, die sich den Griechen seit der Bronzezeit boten, beschließt den einleitenden Teil.

In einem etwas kurz geratenen ersten Kapitel über "Alphabet und Schriftkultur" (S. 23-27) stellt Burkert die Bedeutung der Übernahme eines einfachen Konsonantenschriftsystems dar, die er zu Recht als eine der wichtigsten Anregungen aus dem Osten ansieht. Ohne sie wäre bis heute ein Fortschritt in der Gesellschaft undenkbar. Als wichtigste Eigenleistung von griechischer Seite ist die Perfektionierung der Konsonantenschrift durch Einführung von Vokalzeichen zu nennen. Die damit gegebene einfache Erlernbarkeit des Schreibens ermöglichte so - anders als in den orientalischen Hochkulturen mit ihren elitären Schreiberkasten - eine Demokratisierung des Wissens. Für einen unerfahrenen Leser missverständlich könnte die Aussage sein, dass „'Alpha' und 'Beta' [...] geläufige semitische Wörter (seien, die) [...] 'Ochse' und 'Haus'" bedeuteten (S. 23). Vielmehr ist es (bekanntermaßen) so, dass alpu, betu und gamlu die Ursprungswörter für jene Ableitungen waren.

Überzeugend belegt Burkert das Nachleben von Motiven vorderorientalischer Literaturtradition im Kapitel "Homer als Dichter der orientalisierenden Epoche" (S. 28-54). Eine frappierende Fülle recht genauer Entsprechungen zeigt, wie stark Homer sowohl im Kleinen wie im Großen durch mesopotamische Epen wie Gilgameš, Enuma eliš oder Atramhasis beeinflusst gewesen sein muss. Dies betrifft nicht nur die Erzähltechnik des Dichters, sondern auch Szenen aus dem Götterpantheon. Dass bei allen Gemeinsamkeiten doch deutliche Unterschiede im weiteren Umgang mit fremden Motiven zu beobachten sind, muss nicht extra betont werden. Reizvoll ist Burkerts These, wie man sich die Existenz akkadischer Elemente in der Ilias erklären könnte: Da gerade jeweils die Anfangsverse von Enuma eliš und Atramhasis reflektiert wurden, scheint es, "als hätte ein bildungswilliger Grieche Anfangsunterricht in orientalischer Literatur genossen" (S. 54) und eben jene Verse im Gedächtnis behalten, ähnlich dem Umgang heutiger Gymnasiasten mit Vergil. Ein wenig vermisst man in diesem Abschnitt den Verweis auf hurritische und hethitische Einflüsse, wie sie unlängst beispielsweise Monika Schuol gezeigt hat.4

Nach fremden Wurzeln griechischer Philosophie sucht das dritte Kapitel "Ostwestliche Weisheitsliteratur und Kosmogonie: zur Vorgeschichte der Philosophie" (S. 55-78). Auch hier kann Burkert auffallende Traditionslinien festmachen, die die vorsokratische Philosophie mit dem Orient verbinden. Von einer Autarkie griechischer Philosophie könne also keine Rede sein, ihre geistige Sonderstellung bedürfe aber der Erklärung. Eben im Kulturkontakt vollzog sich laut Burkert der Fortschritt: Das überlieferte Kulturgut konnte sich von seinem ursprünglichen Ort (i.e. der Vordere Orient) mit seinen hierarchisch geprägten Interessen (des Königs oder der Schreiber) ablösen und wurde zum Gestaltungsmaterial des freien Individuums. Diese Chance wusste Griechenland zu nützen.

Ein vierter Abschnitt namens "Orpheus und Ägypten" (S. 79-106) verdeutlicht den Einfluss der ägyptischen Hochkultur, den man neben den Kulturen des Fruchtbaren Halbmondes nicht unterschätzen sollte. Konkret geht es um die Jenseitsvorstellung einer "Subkultur" (S. 87), nämlich der Anhänger eines dionysischen Mysterienkultes "nach Art des Orpheus" (S. 91). Anhand neuerer Forschungsergebnisse, so etwa dem Papyrus von Derveni oder Knochenblättchen aus Olbia, diskutiert der Autor die Zusammenhänge zwischen Osiris, Dionysos und der Orphik. Er kommt zu dem Schluss, dass der alte griechische Gott Dionysos sekundär ägyptisch "infiziert" wurde (S. 95) und auch die Mysterien zumindest in Einzelheiten vom Osiris Kult beeinflusst scheinen. Daneben sind in der Theogonie des Orpheus auch deutlich Motive anderer östlicher Kulturen auszumachen. Erneut zeigt es sich, dass die Vorstellung eines zeitlich oder räumlich engen Korridors falsch ist, sondern dass es eine "nahöstlich-mediterrane Koiné" (S. 72) gab, innerhalb derer sich Übernahmen vollzogen. Trotz seines ausgeprägten Talentes, Szenen auf Vasen bildhaft zu beschreiben, hätte man sich Abbildungen der von Burkert besprochenen unteritalischen Orpheus-Darstellungen gewünscht. So bleibt man auf sein eigenes, zumeist verkümmertes Vorstellungsvermögen angewiesen.

Das letzte Kapitel, betitelt als "Persien und die Magier" (S. 107-133), steht in seiner Beweisführung (zwangsläufig aufgrund achämenidischer Quellenarmut) auf schwächeren Beinen. Burkerts Argumentation konzentriert sich vor allem auf zwei Aspekte: Einerseits auf die Magoi, die zwar bis zu den heutigen Magiern eine breite Rezeptionsgeschichte erfuhren, deren Beeinflussung griechischen Denkens aber doch nur postuliert werden kann, andererseits auf den Titel des Priesters des ephesischen Artemis-Heiligtums, Megabyxos. An dieser Stelle irritiert, dass für denselben Tatbestand an zwei verschiedenen Stellen des Buches eine unterschiedliche Interpretation gegeben wird. Einmal begründet er die Übernahme des persischen Titels so, dass die dortige Priesterschaft die "Perserherrschaft emphatisch begrüßte" (S. 55), später führt er dies auf taktische Gründe zurück, man habe sich damit gewisse Freiräume gegenüber den Fremdherrschern schaffen wollen (S. 114f.). Nur recht vereinzelt lassen sich weitere iranische Elemente in Form der "himmlischen Unsterblichkeit" (S. 118ff.) und eines prinzipiellen Dualismus des Weltsystems (S. 123ff.) in griechischen Texten nachweisen. Ob eine auf den ersten Blick so karge Ausbeute den "Laien" überzeugen kann, darf angezweifelt werden. Der Fachgelehrte, dem die Problematik der Quellenlage bekannt ist, dürfte selbst von der Menge des Wenigen überrascht sein.

Walter Burkerts Werk ordnet sich in eine Reihe neuerer Arbeiten zu den Themenkomplexen Akkulturation, Übernahme fremden Kulturgutes, Auseinandersetzung mit dem Fremden und Ähnlichem ein, deren Boom nicht zuletzt durch seine eigenen Veröffentlichungen ausgelöst wurde.5 Zwar wiederholt er über weite Strecken bereits Bekanntes, vor allem aus seinem hervorragenden Buch über die orientalisierende Revolution.6 Den Vorwurf, der Forschung hinterherzulaufen, kann man ihm aber nicht machen. Im Gegenteil: Ein Blick in das Literaturverzeichnis beweist, dass ihm auch neueste Arbeiten durchaus bekannt sind, wenngleich er nicht alle in seinen Fußnoten erwähnt. Was dem Buch eher fehlt, ist die m.E. unbedingt erforderliche theoretische Untermauerung von Modi des Kulturtransfers. Verschiedene Autoren haben in den letzten Jahren versucht, methodische Postulate zu erstellen, wie man die Wanderung von Motiven genauer fassen könnte.7 Ein wichtiger Faktor, der die Übernahme fremder Elemente wahrscheinlich macht, ist unter anderem die strukturelle Verknüpfung ganzer Motivketten in Form von pattern. Je höher die Dichte der Berührungspunkte im geographischen und chronologischen Umfeld ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit einer Beeinflussung.8 Zugleich müsste man darauf hinweisen, dass Motivparallelen im neuen Umfeld Modifikationen ausgesetzt sind, so dass es heute oft schwierig ist, aus dem bestehenden Amalgam die ursprünglichen Einzelteile herauszulösen. Damit entginge man dem möglichen Vorwurf der Überinterpretation geistiger und materieller Befunde, vor allem dann, wenn man - wie Burkert dies des öfteren macht - anhand eines Einzelmotivs Abhängigkeiten belegen will.9

Wie bereits im Einleitungssatz dieser Rezension angedeutet, halte ich das Buch trotz der kleineren Mängel und Unschärfen für ein ausgesprochen gutes. Besonders der einleitende Teil vermag in die komplexe Problemstellung einzuführen und sensibilisiert den Leser dafür, das sogenannte "griechische Wunder" kritisch zu hinterfragen. Ob der Autor seiner anfangs postulierten Zielsetzung gerecht wird bzw. gerecht werden kann, ist nicht leicht positiv oder negativ zu beantworten. Burkert spricht an mehreren Stellen sein Publikum an: Sowohl den "deutschen Bildungsbürger" (S. 79), im Sinne des gebildeten Laien, als auch den Fachgelehrten will er zufrieden stellen. Für den Ersten argumentiert er oft zu detailliert, verzichtet auf Zitate in der Originalsprache, für Zweiteren bleibt er manchmal zu allgemein. Trotzdem schafft Burkert den Drahtseilakt durch seinen brillanten Schreibstil,10 wodurch es ihm gelingt, die minutiöse Erforschung der Sachverhalte mit allgemein verständlicher Darstellung zu verbinden.

Zusammenfassend gesehen bietet das Buch eine immense Fülle an Material und Wissen, das es zu einer wertvollen Fundgrube macht - und das nicht nur für den "Laien". Es bietet somit zugleich all jenen einen idealen Einstieg in die Thematik, die sich auf das "Orientalische" der griechischen Kultur einlassen wollen.

Anmerkungen:
1 Vgl. Christian Meier in seiner Rezension des Buches in der NZZ vom 16.4.03, S. 58.
2 Publikation der "Lezioni Veneziani" unter dem Titel: "Da Omero ai Magi, La tradizione orientale nella cultura greca", Venedig 1999.
3 La tradition orientale dans la culture grecque, Paris 2001, bzw. De Homero a los Magos, Barcelona 2002.
4 Schuol, M., Zur Überlieferung homerischer Epen vor dem Hintergrund altanatolischer Tradition, in: Schuol, M.; Hartmann, U.; Luther, A. (Hgg.), Grenzüberschreitungen. Formen des Kontakts zwischen Orient und Okzident in der Antike (Oriens et Occidens 3), Stuttgart 2002, S. 331-362.
5 Vgl. an neueren Studien u.a.: Miller, M. C., Athens and Persia in the Fifth Century B.C. A Study in Cultural Receptivity, Cambridge 1997; Hutzfeld, B., Das Bild der Perser in der griechischen Dichtung des 5. vorchristlichen Jahrhunderts, Wiesbaden, 1999; Cohen, B. (Hg.), Not the Classical Ideal: Athens and the Construction of the Other in Greek Art, Leiden 2000; Harrison, T. (Hg.), Greeks and Barbarians (Edinburgh Readings on the Ancient World), Edinburgh 2002; ders., Persian dress and Greek freedom: the representation of eastern decadence in Greek historiography from Hecataeus to Alexander (im Druck); Klinkott, H. (Hg.), Anatolien im Lichte kultureller Wechselwirkungen. Akkulturationsphänomene in Kleinasien und seinen Nachbarregionen während des 2. und 1. Jahrtausends v. Chr., Tübingen 2001; Schuol, M.; Hartmann, U.; Luther, A. 2001 (wie Anm. 4); Rollinger, R.; Ulf, C. (Hgg.), Griechische Archaik zwischen Ost und West: Interne und externe Impulse, Berlin 2003 (im Druck).
6 Vgl. The Orientalizing Revolution. Near Eastern Influence on Greek Culture in the Early Archaic Age, Cambridge-London 1992 (Erweiterung der deutschen Ausgabe von 1984).
7 Vgl. z.B. Tigay, J. H., On Evaluating Claims of Literary Borrowing, in: Cohen, M. E.; Snell, D. C.; Weisberg, D. B. (Hgg.), The Tablet and the Scroll. Near Eastern Studies in Honour of William W. Hallo, Cambridge 1993, S. 250-255; Bernabe, A., Influences orientales dans la littérature grecque: quelques réflexions de méthode, in: Kernos 8 (1995), S. 9-22; Rollinger, R., Von Griechenland nach Mesopotamien und zurück: Alte und neue Probleme bei der Beschäftigung mit Fragen des Kulturtransfers, von Kulturkontakten und interkultureller Kommunikation (Zu den Beziehungen zwischen Mesopotamien und Griechenland im 1. Jahrtausend v.Chr.), in: Schipper, F. (Hg.), Der Irak zwischen den Zeiten. Österreichische Forschungen zwischen Euphrat und Tigris, Klagenfurt 2003; Attoura, H., Aspekte der Akkulturation, in: Blum, H.; Faist, B.; Pfälzner, P.; Wittke, A. (Hgg.), Brückenland Anatolien? Ursachen, Extensität und Modi des Kulturaustausches zwischen Anatolien und seinen Nachbarn, Tübingen 2002, S. 19-34.
8 Ein Beispiel für die Übernahme komplexerer Strukturen ist die Entsprechung einer Szene in Enuma eliš (I 1-5) mit der sog. "Trugrede der Hera" in der Ilias (XIV 201), vgl. S. 36ff.
9 Daher sieht er in der Zusammenstellung verwandter (Einzel-)Motive die Gefahr, dass man sie für Kling-Klang Etymologien halten könnte, d.h. dass ihr ähnliches "Aussehen" verblüfft, sie aber eigentlich nichts aussagen, vgl. S. 35.
10 Zuweilen lassen sich jedoch Zugeständnisse an die Umgangssprache ausmachen, wenn er z.B. den mesopotamischen Gott Enlil als "Boss" bezeichnet, gegen den die jüngere Göttergeneration im Atramhasis revoltiert (S. 51).

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