Titel
Die bürgerliche Familie im Spätwerk Ludwig Tiecks. "Familie" als Medium der Zeitkritik


Autor(en)
Schwarz, Martina
Reihe
Epistemata, Reihe Literaturwissenschaft 403
Erschienen
Anzahl Seiten
340 S.
Preis
€ 49,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Susanne Kiewitz, Museum für Kommunikation Berlin

Obwohl Ludwig Tieck zu den Protagonisten der romantischen Dichtung in Deutschland gehört, schenkt die Literaturwissenschaft seinem Spätwerk noch immer wenig Beachtung. Die Gründe sind möglicherweise darin zu suchen, dass Tieck aus dem Rahmen herausfällt, in den die Germanistik die gealterte romantische Dichtergeneration in aller Regel einbetten möchte. Tieck wurde im Alter „weder fromm noch tiefsinnig, weder kirchengläubig, noch patriotisch.“ 1

Dennoch erweist sich auch Tiecks Position zu Tendenzen seiner Zeit bei näherem Hinsehen als von bürgerlichen Moralvorstellungen geprägt und mithin eher konservativ. Wie seinem Generationsgenossen Joseph von Eichendorff war auch für ihn die Dichtung des Jungen Deutschland ein Angriffsziel. Gleichzeitig finden sich in Tiecks späten Werken aber auch viel Belege dafür, dass der Dichter Ideen für eine Neudefinition sozialer Rollenmuster produktiv literarisch verarbeitete. Das macht die Bewertung Tiecks nicht eben leicht. Zusammen mit dem Wissen um die biografische Situation des Dichters verwischt sich das Bild vollends, denn zum Tieckschen Haushalt gehörten nicht nur die Ehefrau Amalie und die beiden Töchter des Dichters, sondern seit 1819 auch seine Geliebte Henriette von Finckenstein.

Dass eine Arbeit, die Ludwig Tiecks spätes Werk untersucht, damit eine zwar reizvolle, aber nicht unbedingt einfach zu bearbeitende Aufgabe ist, liegt auf der Hand. Martina Schwarz, die sich der Herausforderung stellt, hat mit dem Paradigma Familie zunächst einen guten Ansatz gewählt. Denn mit dem „Aufruhr in den Cervennen“ (1826), „Der Junge Tischlermeister“ (1836) und „Vittoria Accorombola“ (1840) findet sie drei Prosatexte, in denen Tieck sich des Themas Familie bediente, um mit seiner Hilfe Kritik an den Zuständen seiner Zeit zu üben. In einer Epoche, da sich die traditionelle Gesellschaft zur Industriegesellschaft wandelte, erwies sich die Familie als Konzentrationspunkt von oft krisenhaft verlaufenden Umwandlungsprozessen. Das ganze Haus geriet spätestens seit dem 18. Jahrhundert zugunsten des bürgerlichen Modells der Kleinfamilie in Auflösung. Gleichzeitig büßte der Adel, dem das dynastische Denken die zentrale Basis der Selbstlegitimation war, an sozialer Bedeutung und politischer Macht ein.

Adels-, Bürger- und Handwerkerfamilie fungieren in Tiecks später Prosa als erzählerischer Handlungsraum, den Schwarz in den ersten beiden Kapiteln mit einem Blick auf die sozialhistorischen Bedingungen der Zeit zu erschließen sucht. Sie geht dabei allerdings über den Bereich des rein Faktischen weit hinaus und bezieht sich auf literarische Texte. Dieses Verfahren verleiht diesem Teil nicht nur eine unverhältnismäßige Länge und analytische Unschärfe, sondern es lässt auch den Gegenstand aus dem Blick geraten.

Die sich anschließende Interpretation der drei Prosawerke wirkt damit fast wie ein zweiter Teil des Buches. Schwarz nimmt dort eine dezidierte Textanalyse vor und versucht so den Vorstellungen, die Tieck von Familien entwickelt hat, auf den Grund zu gehen. Bei der Deutung des Aufruhrs in den Cervennen (1826) verweist sie auf den Vater-Sohn-Konflikt als dem entscheidenden Moment für Tiecks Familienbegriff. Denn der Aufstand des Sohnes gegen den Vater erweist sich als Metapher und Vorwegnahme der im zweiten Teil des Romans stattfindenden Rebellion gegen den Staat, die Familienordnung erscheint somit als Realisierung einer göttlich gewollten Staatsordnung im Kleinen.

Auch die Novelle „Der junge Tischlermeister“ (1836) deutet Schwarz als ein Buch, in dem Tieck massive Kritik an den Umbrüchen im zeitgenössischen Sozialsystem äußert. Die in ihrer Existenz gefährdete Handwerkerfamilie – also das ganze Haus – erscheint hier als positives Gegenbild zu jener Anonymisierung der Lebensverhältnisse, die in der frühindustriellen Zeit durch die Trennung von Familie und Arbeit eintrat. Interessant ist Schwarz’ Hinweis auf die Dramen der Naturalisten, die fünfzig Jahre später in ähnlicher Weise die Zerstörung der Familie darstellen sollten. Anders als diese entwarf Tieck im jungen Tischlermeister mit der Adelsfamilie aber überdies ein negatives Gegenmodell von Familie.

In „Vittoria Accorombona“ (1840) führte er dieses Gegenmodell schließlich aus. Das historische Geschlecht der Accorombola steht exemplarisch für das alte aristokratische Familienmodell, in dem verwandtschaftliche Bindungen nicht durch Moral und Emotionen, sondern durch Kalkül abgesichert sind. Dass diese Form von Familie keine Zukunft hat, führt die Novelle vor Augen, denn sie erzählt vom Untergang des italienischen Adelshauses. Das Erlöschen der Accorombona wird indirekt zum Triumph der bürgerlichen Moral und seiner Lebensform.

Insgesamt wird man sagen müssen, dass es Schwarz mit der genauen Analyse der drei Texte zwar gelingt, Tiecks Familienbegriff auf einer allgemeinen Ebene einleuchtend darzustellen, dass viele Fragen dabei aber offen bleiben. Schwarz begnügt sich damit, verschiedene als konkurrierend verstandene Familienmodelle bei Tieck nachzuweisen, sagt aber weder etwas über deren strukturelle Beschaffenheit, noch darüber, wie der Dichter das von ihm favorisierte bürgerliche Modell poetisch legitimiert. So betont Schwarz beispielsweise immer wieder, dass für Tieck Familie eine „heilige Urordnung“ (S. 78) manifestiere, umgeht aber die Frage, warum der Dichter verschiedensten Familienmodellen diesen hohen Wert zusprechen konnte. Ist doch die bürgerliche Kleinfamilie ebenso ideal, wie die in der Tradition des ganzen Hauses stehende Handwerkerfamilie. Statt des detaillierten Rekurses auf die an vielen Stellen zu ausführlich zitierte Sekundärliteratur hätte man sich mehr Aufschluss darüber gewünscht, welche Aspekte des kurz nach 1800 so verschiedenartige Formen annehmenden ‚Systems Familie‘ Tieck aus der Realität in den Kosmos der Literatur übertrug. Interessant wäre in diesem Zusammenhang auch ein vergleichender Blick auf das Ehe-, Liebes- und Familienmodell der frühen Romantik gewesen, auf die Tieck in den besprochenen Werken immer wieder indirekt Bezug nimmt.

Das analytische Paradigma der Familie erweist sich – so brauchbar es zunächst erscheint – letztlich als zu weites Feld. Zu seiner Bearbeitung wäre die Einschränkung auf eine konkrete Fragestellung sinnvoll gewesen. Auch durch die Zuspitzung auf eine markante These hätte die Arbeit sicherlich an Stringenz und Aussagewert gewonnen und zu neuen Ergebnissen geführt. Dass diese Frage nicht gestellt wurde, ist schade. Denn der an sich verdienstvolle Ansatz, ein vergessenes Dichterwerk in den Blick zu rücken, ist zugleich ein nicht minder wichtiger Vorstoß zu einer Zeit, mit deren literarhistorisch-begrifflicher Fassung sich die Forschung nach wie vor schwer tut. Möglicherweise hätte sich das mosaikartige Gebilde, als das die Restaurationszeit immer noch erscheint, im Fokus des Begriffs von Familie zu einem Bild verfestigen können.

Anmerkungen
1 Klussmann, Paul Gerhard, Ludwig Tieck, in: von Wiese, Benno (Hg.), Deutsche Dichter des 19. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk, Berlin 1979. S. 23.

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