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Titel
Zeremoniell und Politik. Herrschereinzüge im spätmittelalterlichen Reich


Autor(en)
Schenk, Gerrit Jasper
Reihe
Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters 21
Erschienen
Köln 2002: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
823 S., 16 Abb., 8 Karten
Preis
€ 79,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Barbara Stollberg-Rilinger, Historisches Seminar, Universität Münster

Der Adventus des Kaisers bzw. Königs in einer Stadt gehört zu den zentralen alteuropäischen Herrschaftszeremonien, mit denen sich zwar traditionell zahlreiche historische Disziplinen beschäftigt haben, deren Analyse aber unter dem Einfluss von Ethnologie und Kulturanthropologie in letzter Zeit eine neue Wendung genommen hat. Die wesentliche Einsicht der neueren Forschung liegt darin, eine symbolisch-rituelle Handlungssequenz wie den Herrschereinzug nicht als bloß ornamentale Umkleidung eines „eigentlichen“, rechtlichen oder politischen Kerns zu verstehen, sondern als fundamentales Konstituens der politisch-sozialen Ordnung ernst zu nehmen. Bei den neueren Ansätzen geht es darum, das symbolische Handeln der Beteiligten als komplexes kommunikatives Geschehen zu deuten, durch das die traditionelle Ordnung visualisiert und bekräftigt, aber auch neue Geltungsansprüche erhoben werden konnten. Um verstanden zu werden, bedurften solche symbolischen Handlungen einerseits einer gewissen Formalisierung und Regelhaftigkeit, andererseits boten sie aber auch stets Spielräume für kreativen und flexiblen Gebrauch.

Die umfangreiche Arbeit von Gerrit J. Schenk – eine, wie uns der Verfasser im Vorwort selbst mitteilt, preisgekrönte und mit Auszeichnung benotete Stuttgarter Dissertation – steht also mitten in einer regen aktuellen Forschungsdiskussion und kann mit großem Interesse rechnen. Anders als viele andere Dissertationen zu ähnlichen Themen beschränkt sich Schenk nicht auf eine lokale oder regionale Fallstudie, sondern gibt einen Überblick über die Gesamtheit der einschlägigen Phänomene – rund 500 einzelne Herrscheradventus aus rund 80 Städten des Reiches aus der Zeit zwischen etwa 1300 und 1500 hat er gesichtet, auf 31 Städte nördlich der Alpen konzentriert er seine Analyse und bändigt damit eine schier überwältigende Materialfülle.

Schenk nähert sich seinem Gegenstand auf verschlungenen Wegen. Im ersten Teil („Voraussetzungen“) vollzieht er zunächst die Auseinandersetzungen nach, die dem Herrschaftszeremoniell seit der Wende zur Neuzeit gewidmet waren: Er beginnt mit dem Lob der Herrschaftssymbolik als politischer Didaktik bei Erasmus und ihrer Instrumentalisierung bei Machiavelli, berührt die reformatorische Symbolkritik und die frühneuzeitliche Zeremonialwissenschaft, skizziert die Anfänge einer historisierenden Betrachtung und die Wende zur national-geschichtspolitisch motivierten Rekonstruktion städtischer Kaiserbesuche und beschreibt schließlich die Beschäftigung verschiedener akademischer Disziplinen mit dem Thema von 1918 bis heute. Dabei weist er auch auf die Bedeutung der Kulturanthropologie für die aktuelle Forschung hin, allerdings ohne einen bestimmten Ansatz erkennbar zu bevorzugen. Erst dann wagt er eine Umschreibung seines Gegenstandes: Es soll um Phänomene gehen, die „in einem erkennbaren zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit der Ankunft des Herrschers stehen“, für die in den Quellen bestimmte Begriffe (adventus, introitus, ingressus etc.) verwendet werden und die „erkennbar formalisiert“ sind (S. 47f.), kurz: um Herrschereinzüge in eine Stadt. Im Folgenden wird noch eine Reihe weiterer Begriffe erörtert, die in der neueren Forschung in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen, nämlich Öffentlichkeit und Repräsentation, Zeremoniell und Ritual, Theater und Fest. Schließlich formuliert er die eigene Fragestellung: Es soll darum gehen, „ob und inwieweit der herrscherliche Adventus in seiner zeremoniellen Ausformung Zeichen für das politische, rechtliche und geistige Verhältnis“ zwischen dem Einziehenden und der empfangenden Stadt war und „zu welchen diplomatischen, politischen, rechtlichen, religiösen, sozialen Zwecken“ er diente (S. 76). Doch damit nicht genug – „Vielmehr sollen dem Leser mit dieser Studie diejenigen grundlegenden methodischen und interpretatorischen Mittel erst an die Hand gegeben werden, die ihm nun eine eigene Analyse und Interpretation zeremonieller Phänomene beim Herrschereinzug und darüber hinaus erlauben“ (S. 80).

Im zweiten Teil („Grundlagen“) leistet Schenk tatsächlich eine fundamentale Handreichung für weitere Forschungen zum Thema Adventus. Er sammelt, sichtet und ordnet nämlich systematisch den größten Teil der Überlieferung, die es überhaupt zum Gegenstand geben dürfte, und kann insgesamt plausibel machen, dass es im Spätmittelalter bereits eine Fülle von Zeremonialquellen im engeren Sinne gab, d.h. nicht nur solche Quellen, die indirekt Aufschluss über zeremonielle Vorgänge geben, sondern auch solche, die bewusst zu zeremoniellen Zwecken verfasst wurden. Zwar ist es kein ungewöhnlicher „methodischer Kniff, die Quellentypen selbst zum Gegenstand einer Untersuchung zu machen“ (S. 83), sondern eher eine quellenkritische Selbstverständlichkeit, doch die Ausführlichkeit und Umsicht, mit der das hier geschieht, sind zweifellos außergewöhnlich.

Die relevanten Quellen wurden im wesentlichen von städtischer, nicht von herrscherlicher Seite produziert und überliefert. Seitens des städtischen Klerus finden sich liturgische Ordines ad recipiendum, die offenbar „Präzedenzfälle deliberativen Charakters“ darstellten (S. 107; so in Frankfurt, Basel, Nürnberg, Aachen, Mainz). Die Überlieferung aus dem Umkreis der städtischen Ratseliten reicht von der losen „Zeremonialsammlung“ zum narrativ durchgestalteten „Empfangsbuch“, wobei die Grenzen zwischen Akte und Codex, zwischen pragmatischer Sammlung für zukünftige Fälle und historiographischer Überformung zum Zweck städtischer Memoria ebenso fließend waren wie die zwischen Präskription und Deskription. Alle möglichen Einzelelemente solcher Sammlungen werden von Schenk ausführlich gewürdigt: Neben den eigentlichen Einzugsbeschreibungen waren das etwa administrative Verordnungen, Rechnungen, Huldigungstexte, Teilnehmer- und Herbergsverzeichnisse, Ehrungs- und Schenkungslisten, Korrespondenzen, Festreden und –predigten u.a.m. Dabei lassen sich „Textschicksale“ rekonstruieren, d.h. „Wanderungen“ einzelner Texte durch verschiedene Quellengenres, etwa von der vertraulichen Ratsüberlieferung in die Chronistik und von dort in die Flugschrift. Bei der Zeremonialüberlieferung ging es nicht allein darum festzuhalten, „was sich gepurt“, sondern ebenso darum, Lob und Ehre der Stadt und ihrer Elite zu mehren – was auch erklärt, warum man von zeremoniellen Pannen und Missgeschicken in aller Regel nichts erfährt. Schließlich zeichnet Schenk noch ein Bild von dem Informationsaustausch über Zeremonialfragen zwischen den Städten, soweit er sich aus der lückenhaften Überlieferung rekonstruieren lässt.

Der Leser kann sich von alldem ein authentisches Bild machen, denn Schenk hat dankenswerterweise eine Reihe exemplarischer Zeremonialtexte in einem umfangreichen Quellenanhang von rund 180 Seiten mit ausführlichem kritischem Apparat ediert, und zwar aus Köln, Überlingen, Nördlingen, Ravensburg und Ulm.

Der dritte Teil des Buches („Analysen“) wendet sich der Sache selbst zu. Schenk ordnet die überbordende Fülle des Materials nach einem idealtypischen Verlaufsschema, das er in die Phasen Vorbereitung, Occursio (Einholung), Ingressus (Einritt und Empfang), Processio (Umzug durch die Stadt), Offertorium (Besuch und Opfer in der Hauptkirche), Einherbergung und Aufenthalt gliedert. Dabei zählt er alle Elemente auf, die beim Adventus eine Rolle spielen konnten, und erörtert ihre möglichen Bedeutungen und ihre Kompositionsregeln anhand unzähliger Belege. Die Vielfalt der Details und Varianten lässt sich nicht in wenigen Sätzen zusammenfassen, sondern nur in Stichworten andeuten: So geht es um Ankündigung und Ladung, um Kosten und Nutzen für die Stadt, um Vorbereitung und Auswahl der Herbergen, um Organisation, Zusammensetzung, Rangordnung und Route der Prozession außerhalb und innerhalb der Stadt, um Pferde, Kleidung, Tore, Bauwerke, Dekorationen, Glockengeläut, Weihrauch, Kreuze, Reliquien, Fahnen, Kerzen, Spaliere, Geschütze; es geht um die verschiedenen Gruppen, die am Adventus in verschiedener Weise beteiligt sein konnten, von Rat und Klerus über Zünfte, Schüler, Juden bis hin zu den Geächteten, die sich dem Herrscher anschlossen, um sich von ihm begnadigen zu lassen (was offenbar meist erst nach Verhandlungen mit dem Rat geschah); es geht um die Schlüsselübergabe, den Stratordienst, das Verbrennen des Wergbüschels, das Kirchengebet, die Ehrengeschenke, die Gastung, um Turniere, Gaukler, Tanz und Theater. Eher am Rande werden auch Privilegienbestätigung und Huldigung erwähnt; dabei wird die Frage, ob die Huldigung das Kernelement eines jeden ersten Herrscherempfangs oder davon grundsätzlich zu trennen sei, widersprüchlich beantwortet (z.B. S. 397 vs. S. 400). Das fast völlige Ausklammern der Huldigung hat gewiss auch den Grund, dass Schenk Überschneidungen mit dem grundlegenden Werk von Holenstein vermeiden wollte. Ob allerdings der Adventus insgesamt angemessen zu deuten ist, wenn man die Huldigung beiseite lässt, ist zu bezweifeln.

Ganz besonderes Augenmerk richtet Schenk schließlich in einem Extrakapitel auf zwei Einzelelemente des Adventus: zunächst auf die Reden, von der Begrüßungsansprache über Predigten bis hin zum ausgefeilten, für den Druck bestimmten humanistischen Herrscherlob. Hier erörtert er insbesondere die Frage, welchen zeremoniellen Sinn die stereotypen Begrüßungsformeln hatten und inwiefern man sie als performative Sprechakte im Sinne der linguistischen Pragmatik auffassen kann, also als verbale Handlungen, die bewirkten, was sie besagten. In diesem Zusammenhang kommt er auch auf sehr grundsätzliche Fragen nach der Eigenart öffentlicher Kommunikation in der Vormoderne zu sprechen und bestätigt im Sinne der Arbeiten von Althoff u.a. den demonstrativ konsensualen, inszenatorischen und Verpflichtung stiftenden Stil des Handelns, der indessen voraussetzte, dass man sich über Unstimmigkeiten vorher hinter verschlossenen Türen geeinigt hatte (S. 420ff.).

Das zweite Einzelelement, dem Schenk besondere Aufmerksamkeit widmet, ist der Baldachin als Herrschaftszeichen und insbesondere dessen Spoliierung am Ende des Adventus, d.h. konkret der Anspruch des Reichserbkämmerers oder anderer Beteiligter auf Überlassung dieses Gegenstands, den man sowohl instrumentell-ökonomisch als Naturalentschädigung als auch symbolisch-magisch als eine Art Berührungsreliquie auffassen kann. Schenk holt hier weit aus und beschreibt Etymologie und Geschichte des Baldachins von Babylon bis heute sowie die Geschichte spektakulärer Spoliierungsrituale, etwa beim Tod des Papstes oder bei der Wahl des venezianischen Dogen. In einer kulturanthropologischen tour de force deutet er die Spoliierung des Baldachins mit van Gennep als „rite de marge“, mit Max Gluckmann als „rituelle Rebellion“ und zuletzt mit Freud als Ausdruck einer „gesellschaftlichen Zwangsneurose“, nämlich für den „verdrängten Trieb nach Rache für die außerordentliche Erhöhung des Herrschers“ (S. 503). Das alles führt schließlich zu der überraschenden These, dass man in der Preisgabe des Baldachins den „rituellen Kern des Adventus“ zu sehen habe. Man fragt sich allerdings, wieso Schenk einschlägige ritualtheoretische Ansätze erst in diesem letzten Kapitel heranzieht, dann aber in dieser einigermaßen verblüffenden und radikalen Zuspitzung.

Insgesamt ist der Wert der Arbeit von Schenk ambivalent. Ihre unbestreitbare Stärke liegt in der stupend gelehrsamen, akribischen Erschließung und systematischen Ordnung eines immensen Materials (samt sorgfältiger kritischer Edition); in dieser Hinsicht wird sie sicher zum Standardwerk werden. Diese Stärke erscheint mir allerdings teuer erkauft: Durch die Entscheidung, das gesamte Material zu präsentieren, statt sich auf eine möglichst „dichte Beschreibung“ einzelner Fälle zu konzentrieren, verschenkt der Verfasser die Erkenntnismöglichkeiten, die in der Kontextualisierung und Rekonstruktion des individuellen Kommunikationsgeschehens liegen. Erst dadurch ließe sich genau zeigen, wie im Medium des symbolischen Handelns Ordnungsbehauptungen aufgestellt, Verpflichtungen eingegangen, konkurrierende Ansprüche erhoben, Konsensfassaden errichtet werden und so fort. Nur in einzelnen Konfliktfällen wird ja die fundamentale, normalerweise aber unausgesprochene Wirkmächtigkeit symbolischer Geltungsansprüche sichtbar, eben dadurch, dass jemand ihr widerspricht. In Ansätzen zeichnen sich solche Einsichten überall da ab, wo Schenk sich auf einzelne Sonderfälle eingehender einlässt (z.B. S. 269f., 338).

Die grundsätzliche Frage, inwiefern symbolisches Handeln die rechtliche, politische, soziale Ordnung nicht bloß abbildete, sondern auch in einem sehr fundamentalen Sinne beeinflusste, ja konstituierte, wird immer wieder berührt, aber nicht schlüssig entschieden. Insbesondere zum Verhältnis von Recht und Ritual finden sich durchaus widersprüchliche Aussagen. So klingt gelegentlich zwar an, dass es in vorkonstitutioneller Zeit eine grundsätzliche Grenze zwischen Praxis und Norm nicht gab, Recht vielmehr auch in ungeschriebenen Regeln bestand, die ihrerseits durch Praxis veränderbar waren (z.B. S. 412, Anm. 839). Andererseits erscheinen Recht und Ritual als zweierlei, wenn auch auffällig verwandte Phänomene: „sowohl Ritual als auch Recht sind ... mit einer jeweils ganz bestimmten Form verbunden“ (508). Dann wiederum wird mehrfach betont, dass das Adventuszeremoniell „natürlich“ keinen rechtlichen Charakter gehabt habe (S. 409); „ritueller Charakter“ und „präziser rechtlicher Gehalt“ eines Sprechakts werden als Gegensatz betrachtet (S. 411). Wiederum an anderer Stelle werden Recht und Ritual als einander „teilweise überschneidende Erklärungsmodelle“ bezeichnet (S. 488, vgl. auch 509). Diese und ähnliche Unstimmigkeiten ließen sich auflösen, wenn man die Gegenüberstellung von Ritual und Recht als modernen, der rechtspositivistischen Perspektive geschuldeten Anachronismus betrachtete.

Kurzum: In der mangelnden Präzision theoretischer Grundannahmen und der Unentschlossenheit zentraler Aussagen liegt die Schwäche dieser Arbeit. Andererseits steht außer Frage, dass sie eine reiche Fundgrube für jeden an symbolischem Handeln interessierten Historiker darstellt – sowohl was die systematische Aufarbeitung des Materials als auch die Fülle einzelner plausibler Interpretamente betrifft. Um auf den oben zitierten ehrgeizigen Anspruch Schenks zurückzukommen – dass jetzt die Quellengrundlage für diesen Gegenstand angemessen aufbereitet sei, trifft sicher zu. Dass aber „erst jetzt die grundlegenden interpretatorischen Mittel“ für die Behandlung dieses Themas zur Verfügung stünden (S. 80) und dass „die Antworten [...] das Erkenntnisinteresse in weiten Bereichen der Zeremonialforschung und darüber hinaus [stillen]“ (S. 505), dürfte wohl überzogen sein.

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