N. Ferguson: The House of Rothschild

: The House of Rothschild. Vol 1: Money's Prophets 1798-1848. London 2000 : Penguin Books, ISBN 0-14-028907-0 518 S. £12.99/ € 22,10

: Die Geschichte der Rothschilds. Propheten des Geldes. München 2002 : Deutsche Verlags-Anstalt, ISBN 3-421-05354-5 2 Bd.: 709 S. und 830 S. € 98,00

: The House of Rothschild. Vol. 2: The World's Banker 1849-1999. London 2000 : Penguin Books, ISBN 0-14-028662-4 546 S. € 20,79

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ingeborg Cleve, Historisches Institut, Universität des Saarlandes

Wenn Fergusons Geschichte der Rothschilds mehr ist als die Geschichte eines multinationalen Konzerns, so ist das der Entscheidung zu verdanken, dessen Einbindung in die politische und wirtschaftliche Geschichte Europas im langen 19. Jahrhundert und zugleich die zweckrationale Wahrnehmung ihrer Grundkonstellationen durch die Mitglieder einer transeuropäisch und transatlantisch agierenden Familienfirma zu rekonstruieren, welche eine bis dahin beispiellose Anhäufung von Reichtum ermöglichte. Seine Untersuchung hat Ferguson in den geschichtlichen Basisprozessen der untersuchten Epoche verankert, welche die Handlungsfelder der Protagonisten zusammen mit ereignisgeschichtlichen Konstellationen und den Handlungen konkurrierender oder kooperierender Akteure bestimmen sollten. Diese Prozesse waren: die Staaten- und Nationsbildung nach der Französischen Revolution, die Industrialisierung und die mit ihr einhergehende Revolutionierung von Verkehrs- und Nachrichtenwesen, der Kampf um demokratische Kontrolle politischer Macht und die Entstehung einer modernen, medialen Öffentlichkeit und schließlich, darin eingebettet, die Geschichte jüdischer Selbstbehauptung innerhalb dieser Prozesse.

Was seine Studie darüber hinaus auszeichnet, ist zum einen die Rekonstruktion des weltumspannenden Beziehungsnetzwerkes der Familie und des Eigensinns der Protagonisten: ihrer Sicht auf die Bedingungsgefüge, in denen sie ihre finanziellen und politischen Strategien verfolgten, aber auch ihre familiären und konfessionellen Bindungen aufrecht erhielten. Zum anderen rekonstruierte Ferguson parallel zur Problemgeschichte von Familie und Konzern deren verzerrendes zeitgenössisches Gegenbild, den “Mythos Rothschild”: ein Bündel von teils überhöhenden, teils diffamierenden Unterstellungen über die Ursachen des Rothschild-Erfolgs. Bei der Formulierung von Fragestellungen und bei der Dramaturgie der Darstellung bezog er diesen Mythos ein, um die finanzielle, politische oder beziehungsadäquate Rationalität der jeweiligen Strategien und Formen der Problembewältigung in konkreten Kontexten desto klarer herauszuarbeiten, die Mythenbündel damit zu entkräften und deren oft antisemitischen Kern zu verdeutlichen.

Während das Mythenbündel sich in zeitgenössischen Publikationen und Karikaturen niederschlug und damit als Bibliotheksgut leicht zugänglich (und desto einfacher zu perpetuieren) ist, konnte Ferguson sich der Geschichte der Rothschild-Häuser vor allem nähern, weil er Zugang zum umfangreichen privaten Schriftwechsel der Familie hatte. Diesem kam, bald getragen von einem eigenen Kuriersystem, seit der Zeit der ersten Niederlassung in London die Aufgabe zu, die Kommunikation zwischen dem Stammhaus des Familienunternehmens in Frankfurt und den Niederlassungen in London, Paris, Wien und Neapel über geschäftliche Nachrichten, politische Neuigkeiten und private Angelegenheiten aufrechtzuerhalten. Dabei diente die Abfassung der meisten Briefe im familienvertrauten Judendeutsch und in hebräischer Schrift nicht zuletzt dem Schutz von Vertraulichkeit; erschwerte aber deren Auswertung als Quelle. Fergusons Untersuchung basiert auf der erstmaligen Auswertung von 13.000 dieser Briefe. Wie sich in den zahlreich angeführten Zitaten zeigt, kommt ihnen besonders unter dem Aspekt zeitgenössischer Selbst- und Problemwahrnehmung ein außerordentlicher Quellenwert für die Geschichte der Rothschilds und damit für die europäische Finanzgeschichte ebenso wie für die politische Geschichte und für die Geschichte jüdischer Emanzipation zu.

Über die Geschichte eines multinationalen Konzerns und einer faszinierenden Familie hinaus vermittelt Fergusons Werk einen Erkenntnisgewinn für die Neuere Geschichte, indem er wie schon in früheren Arbeiten die Bedeutung der Finanzgeschichte für die politische Geschichte Europas exemplarisch herausarbeitet. Die Hauptteile des Buches sind den verschiedenen Generationen der Bankvorstände gewidmet, angefangen beim Frankfurter Kaufmann und Hofjuden Amschel Mayer Rothschild und dessen fünf Söhnen, die in den Wirren der napoleonischen Kriege und mit der beginnenden industriellen Revolution die Grundlagen für das Vermögen der fünf Bankhäuser legen sollten. Die einzelnen Kapitel widmen sich jeweils spezifischen finanziellen und politischen Problemkonstellationen, analysieren die Lösungsstrategien der Bankvorstände und dekonstruieren Mythen, die sich darum rankten, wie etwa die Gründung des Bankhauses auf die Rettung des Schatzes des Kurfürsten von Hessen-Kassel vor napoleonischen Truppen, den die Rothschilds selber pflegen sollten, oder den Mythos von der Bereicherung Nathan Rothschilds, des Gründers des Londoner Hauses, durch eine Spekulation auf den Ausgang der Schlacht von Waterloo. Ferguson arbeitet in diesen Kapiteln drei ineinander greifende Strategien des Familienunternehmens heraus, die dessen beispiellosen Erfolg während des 19. Jahrhunderts begründen und aufrechterhalten sollten: erstens die Beherrschung der staatlichen Anleihenmärkte Europas, deren Bedeutung stark wuchs, zweitens ein ausgefeiltes Informations- und Kommunikationssystem, welches die familiale Kooperation gewährleistete, einen entscheidenden Vorsprung vor Konkurrenten gewährte und politischen Einfluss auf der Ebene der hohen Politik sicherte und drittens ein konfessionell gestütztes, durch die gegenseitigen, ineinander verflochtenen Interessen aufrechterhaltenes, durch permanente Kommunikation ständig aktualisiertes, durch Endogamie noch verstärktes Zusammengehörigkeitsgefühl der Familie. Er bestätigt die Einsicht, die Heinrich Heine, welcher dem Pariser Zweig der Familie als Freund und Schuldner verbunden war, bereits im Vormärz formulierte: Während die Familie durch ihre Anleihenfinanzierung die restaurativen Regime unterstützte, wirkte die Mobilisierung von Finanzkapital durch die Streuung von Staatsanleihen revolutionierend auf die Gesellschaft und beschleunigte den Aufstieg neuer Eliten (Bd. 1, S. 256-262). Das letzte Kapitel des zweiten Bandes ist dem Niedergang des Hauses nach dem Ersten Weltkrieg, der Epilog dessen Wiederaufstieg seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts als N.M. Rothschild Group gewidmet.

Die dreißig einzelnen Kapitel des Werks wechseln zwischen einer problem- und ereignisorientierten Darstellung von Firmenstrategien in ihrem politischen und ökonomischen Kontext und einer Geschichte der Familie und ihrer wichtigsten Mitglieder im soziokulturellen Kontext der alten und neuen Eliten, ihrem Habitus und ihrer Mentalität, die sich an Kategorien der historischen Anthropologie anlehnt. Gemäß seiner geschäftlichen Bedeutung, aber auch bedingt durch die Quellenlage wird dabei dem Londoner Zweig der Familie besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Zusammen genommen analysieren die einzelnen Abschnitte die Rolle und das Selbstverständnis der Dynastie im langwierigen Prozess der Industrialisierung, des Übergangs der politischen Macht auf neue politische Eliten und dessen Begleitung durch eine kritische Öffentlichkeit und einen darin verorteten Wandel antisemitischer Stereotypen, die sich oft genug an der Familie festmachten. Sie erzählen und erklären den Aufstieg des Familienunternehmens während der napoleonischen Zeit, die Vorherrschaft des Londoner Hauses innerhalb des Konzerns und das Engagement auf Seiten liberaler Bewegungen im Kontext der Bemühungen um jüdische Emanzipation und relativieren den Niedergang von Konzern und Familie im Gefolge der Verlagerung des Weltfinanzzentrums von der Londoner City in die New Yorker Wall Street seit dem Ersten Weltkrieg. Die Revolution von 1848 markiert dabei einen Wendepunkt der Firmengeschichte vom Aufstieg zur Konsolidierung, von der Konzentration auf den Staatsanleihenmarkt zur Diversifizierung in den Eisenbahnbau und in Montanunternehmungen, von der Beherrschung des europäischen Finanzmarktes zur Beteiligung am Weltfinanzmarkt im Zeitalter des Imperialismus. Zumindest in Großbritannien bedeutete die Erringung politischer Mandate einen hart erfochtenen Erfolg für die politische Emanzipation.

Einige Anmerkungen zur deutschen Ausgabe: Der Rezensentin stand zunächst nur die englische Paperbackausgabe (rd. 38 EUR) zur Verfügung. Fergusons elegant-lakonischer Stil ist in ihr zu einem erschwinglichen Preis zu haben, aber dafür muss eine kaum mittelmäßige Buchqualität und, schlimmer, das Fehlen sämtlicher Quellennachweise und Literaturangaben in Kauf genommen werden. Immerhin sind auch hier ein Namens- und ein Sachregister angefügt. In der materiell-qualitätsvollen deutschen Ausgabe ist der vollständige wissenschaftliche Apparat zu einem Preis zu haben, der sie nur bei guter Dotierung erschwinglich macht. Dafür erhält man zwangsläufig, aber hier doch maßvoll die Ungenauigkeiten einer Übersetzung mitgeliefert: schiefe Ausdrücke (aus den “Great Exhibitions” werden “Große Ausstellungen”), Missverständnisse (aus dem Engagement in Eisenbahnunternehmungen (in der Überschrift verkürzend: “Playing at Railways”) wird ein “Spielen mit Eisenbahnen”, Flüchtigkeitsfehler (“Nationalism and the Multinational” wird zu: “Der Multinationalismus und die multinationale Firma”). Im Vergleich von Preis und Leistung werden das Geheimnis guter Kalkulation, nüchterner Abwägung von Gewinnerwartungen und funktionierender Netzwerke damit praktisch erfahrbar.

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