U. Backes u.a. (Hgg.): "Ein Gespenst geht um in Europa"

Cover
Titel
"Ein Gespenst geht um in Europa". Das Erbe kommunistischer Ideologien


Herausgeber
Backes, Uwe; Courtois, Stéphane
Reihe
Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung 20
Erschienen
Köln u.a. 2002: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
453 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mario Keßler, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Das Thema könnte kaum anspruchsvoller sein: Der Sammelband setzt sich “eine wissenschaftliche Aufarbeitung des ideologischen Erbes der kommunistischen Ideologien” zum Ziel, so die Herausgeber in ihrer Einleitung (S. 9).

Zu diesem Zweck veranstaltete das Dresdner Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung eine Tagung in Paris-Nanterre, deren genaue Datierung der Rezensent vermisst und deren Ergebnisse im vorliegenden Buch dokumentiert werden.

Das Ziel einer Aufarbeitung der Ideengeschichte des Kommunismus sprengt natürlich den Rahmen jedes noch so umfangreiches Buches. Doch auch als Zwischenergebnis eines nicht abzuschließenden Prozesses kann das Buch nur sehr bedingt überzeugen. Die Gründe dafür liegen zum Teil in den ideologisch voreingenommenen Lesarten der meisten Beiträger, zum Teil in den zu starken Qualitätsunterschieden zwischen den Fallstudien, von denen keine auf Archivforschungen basiert.

Die fünf französischen Beiträge differieren natürlich in Methode und Handschrift, aber bestürzend schwach sind sie alle. Mit Ausnahme von Patrick Moreau und teilweise von Stéphane Courteois verwenden sie kaum internationale, d.h. nicht französische Literatur und sind auch in Duktus und Urteilsbildung von ressentimentgeladenem Provinzialismus geprägt. Domique Colas, Professor am Institut d’Etude Politique in Paris, führt nicht, wie er ankündigt, eine Auseinandersetzung mit Lenin und dem Leninismus, sondern eine hasserfüllte Polemik, die Lenin alle Schuld am Terror schon des Bürgerkrieges 1918-1921 gibt. Vom weißen Terror ist keine Rede. Colas sucht dem Leser einzureden, “dass die erste Definition des Kommunismus als eines Totalitarismus von Lenin selbst stammt – bevor das Wort erfunden war” (S. 156). Als “Begründung” führt er Lenins Worte an, dass es zwischen dem weißen und dem roten Terror im Bürgerkrieg keine Alternative gegeben habe. Es gab sie in der Tat nicht: Die Bolschewiki hatten nach der Oktoberrevolution die Todesstrafe abgeschafft, was Colas verschweigt, sie aber unter dem andauernden Terror der Konterrevolution wieder einführen müssen. Auch findet sich kein Wort darüber, dass es vor 1917 tatsächlich eine, wenn man so will, totalitäre Partei in Russland gab, nämlich die Schwarzhunderter, die Demokratiefeindschaft mit Antikommunismus und Antisemitismus verbanden. Viele ihrer Anhänger kämpften im Bürgerkrieg auf Seiten der Weißen und waren maßgeblich an den blutigen Pogromen beteiligt, die über 150.000 Juden das Leben kosteten. Auch dies erwähnt Colas nicht.

Noch schwächer ist der Beitrag von Christophe Bourseiller, der als “Dr., Journalist, und Schriftsteller” vorgestellt wird. Er behandelt fragmentarisch Aspekte der Geschichte des Trotzkismus als politischer Bewegung. Die Trotzkisten, deren Kampf gegen Stalin ihnen einen so hohen Blutzoll abforderte, werden etwas schadenfroh “als die letzten Verteidiger der ehemaligen sozialistischen Länder und als die einsamen Hüter einer erlöschenden Flamme” beschrieben (S. 228). Dieses Urteil steht für Bourseiller, woraus er auch gar keinen Hehl macht, von Anfang an fest. Eine “Verteidigung der ehemaligen sozialistischen Länder” durch die mannigfaltigen Strömungen des Trotzkismus hat es so natürlich nicht gegeben. Aber warum sich mit Quellenstudien abgeben! Neu und lehrreich für den Rezensenten (und wohl für alle Leser) ist hingegen Bourseillers Information, dass Lenin am 9. März 1923 “unerwartet” starb (S. 215). Auch dass Trotzki 1944 (!) ermordet wurde, war der Forschung bislang entgangen (S. 217).

Graduell besser, aber keineswegs den internationalen Forschungsstand widerspiegelnd, ist der Aufsatz von Sylvain Boulouque und Olivia Gomolinski zur anarchistischen Kommunismuskritik. Doch sogar dort, wo die Analyse sich auf immenses Material stützen könnte, nämlich den Spanischen Bürgerkrieg, bleibt die Darstellung oberflächlich: Augustin Souchy wird überhaupt nicht, Victor Serge ein einziges Mal erwähnt. Dass Kommunisten im Bürgerkrieg Anarchisten verfolgten, und dies grausam genug, wird mit Recht angeprangert, dass Hunderte von Kommunisten sich dagegen wandten und die Gefängnisse mit den Anarchisten teilten, ist den Verfassern keine Silbe wert.

Wissenschaftliche Redlichkeit hätte auch die Mitteilung erfordert, dass in der anarchistischen Presse Sinowjewes Hinrichtung durch Stalin mit Genugtuung aufgenommen wurde. Kommentarlos zitieren die Autoren einen anarchistischen Text von 1949, wonach “Nationalsozialismus und Bolschewismus […] völlig austauschbar (sind). Das hatte schon das Eindringen der Hitlerschen Macht in der Ukraine und in Russland gezeigt, wo die sowjetischen Institutionen nur die Führung, nicht die Form wechselten. Der umgekehrte Beweis wurde durch das Eindringen des roten Militarismus in Ostdeutschland erbracht, durch den Stalinismus, der einfach die ökonomische, ideologische und polizeistaatliche Nachfolge des Nationalsozialismus, dieses 90-prozentigen Bolschewismus, antrat” (S. 253). Die Vernichtung der Juden durch das Naziregime und ihre Befreiung durch die Rote Armee ist dann wohl ein und dasselbe? Wäre eine Kritik hier nicht doch angebracht gewesen?

Patrick Moreau ist mit den soeben genannten Autoren nicht zu vergleichen, verfügt er doch über gediegene historische und linguistische Kenntnisse und ist in der Lage, komparativ zu arbeiten. Er bemüht sich um den Nachweis, dass die strategische Konzeption Antonio Gramscis sich “in besonderer Weise [eignet], die antiliberale Stoßrichtung zu bemänteln. Der Gramscismus könnte sich so als Schleichpfad zum Totalitarismus erweisen” (S. 259). Der Nachweis eines “Gramscismus” bleibt indes ebenso blass wie die versuchte Entlarvung Gramscis als Vordenker des Totalitarismus. Interessanter ist Moreaus Konstrukt einer an Gramsci geschulten Strategie, mittels derer sich die PDS in Deutschland an die Macht schleichen wolle. Ihre Anhänger dürften von Moreaus Blueprint beeindruckt sein und ausrufen: Wenn es doch so wäre! Die Gegner der PDS werden den Aufsatz aber wohl mit weniger Enthusiasmus lesen, denn die Ergebnisse der von der PDS mitgetragenen Landesregierungen in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern lassen gewiss viele Schlüsse zu, nur nicht den, dass hier Gramscis Hände postum mit im Spiel sind.

Die Aufsätze der deutschen Forscher sind insgesamt besser. Eine Ausnahme bildet Konrad Löws wiederholter Versuch, Marx und die Marxisten für buchstäblich alle Schrecken des späten 19. und des gesamten 20. Jahrhunderts verantwortlich zu machen, diesmal durch eine Auflistung des Begriffs der “Diktatur des Proletariats” im Werk von Marx. Eine Kritik Löws erübrigt sich, da diese schon von anderen vorgetragen wurde. In Schutz nehmen möchte der Rezensent Löw jedoch vor dem – gleichfalls oft geäußerten – Vorwurf, er arbeite bewusst dem Rechtsradikalismus in die Hände, sei gar selbst ein schwarzbrauner Rechter. Liest man seine Arbeiten ohne Emotionen, muss man zu einer anderen Schlussfolgerung gelangen: Der Bayreuther Professor ist kein blutrünstiger Marxtöter. Er ist vielmehr mit einer wissenschaftlichen, sachlichen Kritik des Marxschen Werkes intellektuell überfordert.

Die weiteren Autoren sind deutschen Lesern durch verschiedene Arbeiten wohl bekannt genug, so dass auf eine ausführlichere Darlegung ihrer Ansichten verzichtet werden kann. Gerd Koenen schreibt über revolutionäre Vorstellungen der “Achtundsechziger” – ein lesenswerter Beitrag, der aber aus dem vorgegebenen Rahmen des Bandes etwas herausfällt.

Eckhard Jesse möchte Rosa Luxemburg aus der Ahnengalerie des demokratischen Sozialismus herauslösen, tut dies aber wenigstens nicht mit Hass gegen die Person der Marxistin, deren charakterliche und intellektuelle Tugenden er nicht in Abrede stellt. Ihr Radikalismus speiste sich jedoch nicht aus der marxistischen Doktrin, sondern vor allem aus ihrer Opposition zu den Gräueltaten des Ersten Weltkrieges, für die der Marxismus nun nicht verantwortlich zu machen ist.

Positiver als Jesse beurteilt Werner Müller Rosa Luxemburg; sie habe aber nur als Ikone, keineswegs durch ihre politische Theorie im deutschen Kommunismus gewirkt. Müllers Hinweis, dass eine von der Sowjetunion unabhängige kommunistische Bewegung nicht notwendigerweise demokratisch strukturiert sein müsse, sollte auch von denen Ernst genommen werden, die nicht allen Urteilen des Autors zustimmen. Die Frage: “Gab es in Deutschland einen demokratischen Kommunismus?”, so der Aufsatztitel, beantwortet Müller insgesamt negativ, doch hält er fest, dass demokratische Kommunisten – von Rosa Luxemburg bis Robert Havemann – existierten. Dass die Machtausübung der Kommunisten gerade in der DDR ihre abstoßende Form auch (nicht nur!) dem Jahrzehnte langen antikommunistischen Terror mit verdankt, benennt Müller jedoch nicht. Der Massenmord der Nazis an den Kommunisten, denen 150.000 Menschen zum Opfer fielen, trug dazu bei, dass die SED-Führung jene Wagenburg-Mentalität entwickelte, der sie am Ende politisch selbst zum Opfer fiel.

Am interessantesten ist der Aufsatz von Lothar Fritze über die utopische Dimension bei Marx und im Marxismus. Fritze verweist das Marxsche Denken zurück in seinen historischen Kontext und analysiert den Fortschrittsglauben wie den Sozialprotest des 19. Jahrhunderts als wichtige Prämissen des Marxschen Denkens. Zu den Irrtümern der kommunistischen Bewegung gehörte nach Fritze, sich “die Lösung der Probleme nicht als regulative Idee vorzustellen, die einem schrittweise vorgehenden politischen Handeln Sinn und Richtung gibt, sondern von der Erreichbarkeit des Zieles durch einen revolutionären Akt und damit der prinzipiellen Lösbarkeit der Probleme auszugehen” (S. 140f.). Der Marxismus habe zum Erfolg der Arbeiterbewegung und damit “zu einer Humanisierung des Kapitalismus” gerade dort beigetragen, wo die Revolution ausgeblieben sei. Auf eine paradoxe Weise hätten Marx und Engels somit Unrecht gehabt und zugleich positiv gewirkt. Heute als widerlegt geltende Aspekte ihrer Theorie könnten in der Zukunft durchaus ihre Wirkung zurückgewinnen. Eine Voraussage über die Zukunft des Marxismus als politische Theorie wie über die sozialistische Bewegung insgesamt sei also voreilig (S. 143). Aber dies sind nur einige wichtige Gedanken der intellektuell überaus anregenden Abhandlung Fritzes, die an Lesbarkeit gewonnen hätte, wäre sie nicht in einer formelhaften Gelehrtensprache mit ihrer Häufung von Substantiven abgefasst.

Es bleiben die beiden Forschungsüberblicke von Uwe Backes zum Totalitarismus als Kommunismuskritik und von Stéphane Courteois zum Stand der Kommunismusforschung. Backes führt die Kategorie des “Totalitären” zeitlich weiter zurück als Kommunismus oder Faschismus, nämlich bis zur Französischen Revolution und ihren ideologischen Nachhutgefechten. Courteois schließlich nimmt noch einmal Maß. Mit der Autorität des Schwarzbuch-Herausgebers zerschmettert er Eric Hobsbawms “Zeitalter der Extreme”. Hobsbawms Buch sei “so sehr marxistisch geprägt, den kommunistischen Mythologien der sechziger Jahre verhaftet und im Rückstand gegenüber dem neuen intellektuellen Klima”, dass es nur im Verlag von Le Monde diplomatique auf Französisch erscheinen konnte, “dem offiziösen Organ des rechtgläubigen Dritte-Welt-Marxismus” (S. 45).

Bücher haben ihre Zeit und ihre Unzeit. Das Schwarzbuch des Kommunismus bediente gewiss ein “neues intellektuelles Klima”, das jede Kritik an der kapitalistischen Marktwirtschaft als “totalitär” abstempelte. Seitdem haben alle, die es noch nicht wussten, erfahren, dass auch demokratische Verfassungsstaaten Krieg, Gewalt und millionenfaches Leiden über die Menschen bringen können. Die Friedensbewegung gegen den Irak-Krieg brachte beinahe über Nacht imperialismuskritische Positionen in die Tagespolitik zurück. Vielleicht sind alte marxistische Lehrsätze noch nicht ganz veraltet?

Manche, gewiss nicht alle Autoren des Bandes, werden vielleicht ihre Positionen in Zukunft überprüfen. Für künftige Debatten sei ihnen die Kontroverse zwischen dem Marxisten Arthur Rosenberg und dem Antimarxisten Golo Mann empfohlen, zwei Freigeistern, die 1940 in der Schweizer Zeitschrift “Mass und Wert” die Frage zu beantworten suchten: Was bleibt von Karl Marx? Dem Böhlau-Verlag sei endlich zu einem Lektorat geraten; die falschen Transkriptionen, Fehldaten und Irrtümer sachlicher Natur aufzuzählen, die das Buch enthält, würden die Dimension einer Rezension sprengen.

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