H. König: Die Zukunft der Vergangenheit

Titel
Die Zukunft der Vergangenheit. Der Nationalsozialismus im politischen Bewusstsein der Bundesrepublik


Autor(en)
König, Helmut
Reihe
Fischer Geschichte
Erschienen
Frankfurt am Main 2003: S. Fischer
Anzahl Seiten
192 S.
Preis
€ 12,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan-Holger Kirsch, Redaktion Zeitgeschichte Online, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Aleida und Jan Assmann haben in zahlreichen Publikationen die Sicht vertreten, dass der Nationalsozialismus durch den wachsenden Zeitabstand aus dem kommunikativen in das kulturelle Gedächtnis übergehe – eine Terminologie, die inzwischen auch von Politikern gebraucht wird. Ohne sich darauf ausdrücklich zu beziehen, formuliert der Aachener Politikwissenschaftler Helmut König nun eine andere These (S. 13): „In einer abkürzenden Formel gesagt, läßt sich das Neue der Vergangenheitsbewältigung in den 90er Jahren darauf zurückführen, daß wir es mit dem Übergang von der Entscheidung zur Kommunikation zu tun haben.“ Bewegt sich der Nationalsozialismus möglicherweise vom kulturellen ins kommunikative Gedächtnis, d.h. gerade umgekehrt als bisher angenommen? Der scheinbare Gegensatz der beiden Perspektiven löst sich auf, wenn man bedenkt, dass verschiedene Typen von Kommunikation gemeint sind: die zeitgeschichtliche, autobiografisch fundierte bei Assmann; die geschichtliche, von eigenen Erfahrungen abgelöste bei König. Kommunikation über den Nationalsozialismus durchzieht die gesamte Geschichte der Bundesrepublik, und dies wird sich auf absehbare Zeit auch fortsetzen. Die Formen und Inhalte der Kommunikation sind jedoch vielfachen Veränderungen unterworfen.

König versucht die Grundlinien des Wandels herauszuarbeiten. Bescheiden annonciert er einen „Essay über die Bedeutung, die der Nationalsozialismus im politischen Bewußtsein der Bundesrepublik spielt“ (S. 7). Einer Exposition der zentralen Thesen und Begriffe (S. 7-14) folgt ein Kapitel, das die Entwicklung der deutschen NS-Erinnerung von 1945 bis zur Gegenwart skizziert (S. 15-47). Der Hauptteil des Buchs ist Debatten der 1990er Jahre gewidmet (S. 49-163). Im Schlusskapitel (S. 167-189), das für die Geschichtswissenschaft am anregendsten sein dürfte, rückt König den deutschen Fall in allgemeinere Zusammenhänge (S. 7): „Es ist an der Zeit, Vergangenheitsbewältigung nicht mehr nur als zeitgeschichtliches Problem der Bundesrepublik zu begreifen, sondern sie für die Zwecke international vergleichend angelegter Analysen in den systematischen Kontext von politischen Systemwechseln und Demokratisierungen zu stellen.“

Dass der Terminus „Vergangenheitsbewältigung“ problematische Implikationen hat, ist dem Autor durchaus klar (S. 7f.). Der Begriff sei jedoch umfassender als die benachbarten Konzepte „Aufarbeitung der Vergangenheit“, „Erinnerungskultur“, „Vergangenheitspolitik“ und „Geschichtspolitik“: „Vergangenheitsbewältigung“ bezeichne „das gesamte Spektrum der politischen, kulturellen, juristischen, wissenschaftlichen, pädagogischen, ästhetischen und religiösen Dimensionen des Themas“ (S. 8). Diese definitorische Setzung bleibt etwas willkürlich, denn man könnte sich auch dafür entscheiden, die genannten Felder unter den Begriff „Erinnerungskultur“ zu subsumieren. Eine andere Leitkategorie Königs ist das „politische Bewußtsein“, das er als Produkt einer Interaktion von individuellem und gesellschaftlichem Bewusstsein verstanden wissen will (S. 9f.). Vernachlässigt wird freilich der für Erinnerungsprozesse nicht weniger wichtige Bereich des Unbewussten. Dessen Erschließung ist methodisch zweifellos schwierig, doch wäre es auch für die Politik- und Geschichtswissenschaft nützlich, diesbezügliche Überlegungen anzustellen – sei es mit Rekurs auf die Psychoanalyse 1, sei es mit Hilfe sozialpsychologischer Deutungen des „kommunikativen Unbewußten“ 2. König verweist lediglich an versteckter Stelle auf Mario Erdheims Buch zur „gesellschaftlichen Produktion von Unbewußtheit“ (S. 134).

Der knappe Überblick zu den Phasen der westdeutschen NS-Erinnerung ist insgesamt gut gelungen. König verzettelt sich nicht in Einzelheiten, sondern arbeitet Strukturprobleme heraus. Er unterscheidet vier Zeitabschnitte: die ersten Nachkriegsjahre 1945–1949; die 1950er Jahre; die „lange Welle“ 1960–1990; die seit 1990 stattfindende Transformation. In der unmittelbaren Nachkriegszeit sei viel von Schuld die Rede gewesen, aber nur in metaphysisch-abstrahierender Form (S. 19-24). Das in dieser Phase noch breite und sehr konkrete, allerdings zu wenig beachtete Schrifttum überlebender NS-Verfolgter bleibt leider unerwähnt. Die erste Dekade der Bundesrepublik sieht König treffend durch „Doppelstrategien“ geprägt (S. 24-30): „Die 50er Jahre brachten das Kunststück zustande, die ehemaligen Nazis zu integrieren und zugleich die politische und ökonomische Verfassung der Bundesrepublik zur Negation des Nationalsozialismus zu erklären.“ (S. 25) Hermann Lübbes bekannte und provozierende These, dass dies eine Erfolgsgeschichte sei, weiß König zu differenzieren: „So alternativlos die Lösung in der frühen Bundesrepublik wahrscheinlich auch gewesen ist – auf die Dauer war sie zum Scheitern verurteilt.“ (S. 30)

Dies habe sich nach der Vielzahl antisemitischer Vorkommnisse von 1959/60 immer deutlicher gezeigt. In konflikthaften Lernprozessen sei der westdeutschen Gesellschaft allmählich klargeworden, dass an der Konfrontation mit dem Erbe des Nationalsozialismus kein Weg vorbeiführte (S. 30-37). Der antifaschistische „Verurteilungstrieb“ im Umfeld des Jahrs 1968 blieb nach König indes „sehr ambivalent, abstrakt und den Fallstricken des guten Gewissens und der Moral verhaftet“ (S. 35). Das langfristige Ergebnis sei auf jeden Fall gewesen, dass der Negativbezug zum Nationalsozialismus parteiübergreifend konsensfähig geworden sei: „Die großen Kontroversen über Vorteile und Gefahren einer ständigen Erinnerung an den Nationalsozialismus und vor allem an den Holocaust gingen sämtlichst [sic] zugunsten derjenigen aus, die in dieser Erinnerung das zentrale Element der politischen Kultur der Bundesrepublik sahen.“ (S. 37)

Die Situation seit der deutschen Einheit ist für König dadurch gekennzeichnet, dass sich mit der NS-Erinnerung keine Politik mehr gestalten lasse (S. 37-42): „Das politische Bewußtsein der Bundesrepublik muß sich neu orientieren. Die entscheidende Divergenz im Vergleich zur alten Bundesrepublik liegt darin, daß sie ihre liberale Haltung und ihre demokratische Konstitution nun aus sich selbst beweisen muß. Die einstmals so sichere Verankerung in den Zeitbezügen ist hinfällig geworden. Die NS-Vergangenheit als Kontrastfolie ist verblaßt, die DDR als zentraler Antipode der Gegenwart ist untergegangen, der optimistische Blick in eine Zukunft von Wohlfahrt und Sicherheit ist empfindlich getrübt.“ (S. 41f.) Damit verschwinde die NS-Zeit aber keineswegs aus der politischen Kommunikation: „Immer öfter wird es so sein, daß der Nationalsozialismus nur noch nominell das Thema ist, während es in Wirklichkeit um ganz andere Dinge geht. Bestimmte Konflikte in den Deutungshorizont dieses Themas einzutragen bietet sich an, weil man sich auf diesem Wege des Gewinns öffentlicher Aufmerksamkeit immer noch sicher sein kann.“ (S. 46) Die gehäuften NS-Vergleiche der vergangenen Monate haben in der Tat vielfältige Belege für diesen Mechanismus geliefert – und für die politische Inhaltsleere solcher Vergleiche. 3

Der Hauptteil des Buchs, in dem König die 1990er Jahre aus allgemeinen und speziellen Perspektiven thematisiert, ist etwas heterogen. Hier macht sich bemerkbar, dass der Band aus bereits früher veröffentlichten Aufsätzen hervorgegangen ist, die trotz Überarbeitung und neuem Arrangement eher ein Mosaik als eine einheitliche Argumentationsfolge ergeben. Gleichwohl lohnt es sich, die Texte noch einmal nachzulesen. König beschreibt die „identifikatorische Schuldübernahme“ der 68er-Generation für die Taten ihrer Eltern – ein Reaktionsmuster, das zeitweise durchaus produktiv gewesen sei, das spätestens im Kontext der deutschen Einheit aber zu einem „Mangel an politischer Urteilskraft“ geführt habe (S. 51-72, hier S. 51). Die deutsche Teilung habe der politischen Linken als „Sühne für die Untaten der Elterngeneration“ gegolten (S. 63), und so sei der Umbruch von 1989/90 „aktiv verschlafen“ worden (S. 67). Außerdem beschäftigt sich König mit der ungereimten Anwendung des Rückwirkungsverbots („nulla poena sine lege“) auf Handlungen der NS- und der DDR-Zeit (S. 73-86). Am Beispiel des Aachener Germanistikprofessors und Universitätsrektors Hans Schwerte, dessen frühere Identität als SS-Hauptsturmführer Hans Ernst Schneider erst 1995 bekannt wurde, untersucht König die Schwierigkeiten des bundesdeutschen Neuanfangs (S. 87-119): „Der Weg von der Diktatur zur Demokratie ist ein Lehrstück für die Notwendigkeit eines dialektischen Blicks auf die Geschichte und kein Fall für schwache Nerven.“ (S. 119) Auch in einem kritischen Beitrag zu Daniel Jonah Goldhagens Buch „Hitlers willige Vollstrecker“ geht es um die Frage, wie der im Grunde erstaunliche Übergang zu einer stabilen Demokratie erklärt werden kann (S. 120-142). Schließlich greift König seine These noch einmal auf, dass die öffentliche Kommunikation über den Nationalsozialismus seit 1990 eher zu- als abgenommen habe (S. 143-163). Die Entwicklung hänge unter anderem damit zusammen, dass die NS-Zeit für die Gegenwart ungefährlich geworden sei (S. 159): „Freie öffentliche Kommunikation über belastende Vergangenheiten ist daran gebunden, daß keine vergangenheitspolitischen Entscheidungen mehr anstehen.“ Die Kehrseite dieser Kommunikationsfreiheit sei eine wachsende Selbstbezüglichkeit, die etwa die Beteiligten des Mahnmalstreits „durch gesteigerte Erbitterung vergessen machen wollten“ (S. 162).

Im Schlussteil versucht König, „die Erfahrungen der Bundesrepublik in systematischer Absicht zu resümieren und daraus einen konzeptionellen Vorschlag abzuleiten, der vielleicht für vergleichende Analysen der Übergänge von Diktaturen zu Demokratien nützlich sein kann“ (S. 167). Er entwirft ein detailliertes Interpretationsraster, das die Ziele, Wege, politischen Ebenen und Akteure von Vergangenheitsbewältigungen umfasst. Dies kann und soll in Königs Buch nicht empirisch umgesetzt werden, eröffnet aber ein weites Forschungsfeld für länder- und kulturvergleichende Studien.4

Zu den besonderen Stärken des Bandes gehört die angenehm unprätentiöse Darstellungsweise, die bei solchen Themen nicht selbstverständlich ist. Im Grundsatz überzeugend ist auch Königs Zentralaussage, dass für die bundesdeutsche NS-Erinnerung mit dem Jahr 1990 eine neue Phase begonnen habe. Diese Sicht könnte allerdings weiter präzisiert werden: Welche inhaltlichen Kontinuitätselemente der Erinnerungsgeschichte lassen sich trotz der veränderten Rahmenbedingungen ausmachen? Der Soziologe Y. Michal Bodemann hat neuerdings hervorgehoben, dass bestimmte Deutungsmuster eine große Beharrungskraft besitzen – zum Beispiel die „Einbettung der Schoah in ein religiöses Narrativ“ und die „Tradition der Nichtanerkennung des jüdischen Ethnos“ bei gleichzeitiger öffentlicher Würdigung jüdischer Repräsentanten.5 Bodemanns und Königs sehr unterschiedliche Bücher regen beide dazu an, weiter nach der „Zukunft der Vergangenheit“ zu fragen.

Anmerkungen:
1 Vgl. Rüsen, Jörn; Straub, Jürgen (Hgg.), Die dunkle Spur der Vergangenheit. Psychoanalytische Zugänge zum Geschichtsbewußtsein. Erinnerung, Geschichte, Identität 2, Frankfurt am Main 1998.
2 Vgl. Welzer, Harald, Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung, München 2002.
3 Vgl. die Kritik von Seitz, Norbert, Nicht ohne meinen Nazi, in: ZEIT, 18.12.2002, S. 11.
4 Siehe zu diesem Thema auch die Konzeption von Garton, Timothy, Ash, Mesomnesie, in: Transit 22 (2001/02), S. 32-48. Ash unterscheidet acht Ziele und zehn Wege der „Vergangenheitsbewältigung“.
5 Vgl. Bodemann, Y. Michal, In den Wogen der Erinnerung. Jüdische Existenz in Deutschland, München 2002, Zitate S. 112; S. 103.

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