Titel
Reformpläne und Repressionspolitik. Bd. 1: 1830-1834, bearb. v. Rolf Zerback


Herausgeber
Gall, Lothar
Reihe
Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes 1
Erschienen
München 2003: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
LXVIII, 806 S.
Preis
€ 99,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rüdiger Hachtmann, Fachgebiet Neuere Geschichte, Technische Universität Berlin

Quelleneditionen besitzen für Historiker einen hohen Gebrauchswert – wenn in ihnen zentrale Dokumente über Zeiträume zusammengetragen sind, die von der historischen Forschung bisher noch nicht systematisch ausgeleuchtet sind, und sie sorgfältig sowie kenntnisreich ediert sind. Beides trifft für die hier vorzustellende, von Ralf Zerback bearbeitete Quellenedition zu. Der erste von insgesamt drei Teilbänden mit zentralen Dokumenten zur Geschichte des Deutschen Bundes während des Vormärz im engeren Sinne, 1830 bis 1848, umschließt zeitlich die Epoche der Unruhe und des wirtschaftlichen Aufbruchs 1830 bis 1834. Zeitliche Grenzen sind die (in ihren Auswirkungen bereits europäische) Pariser Julirevolution und die Gründung des Deutschen Zollvereins unter preußischer Hegemonie; beide Eckpunkte europäischer und deutscher Geschichte werden allerdings nicht unmittelbar dokumentarisch thematisiert. Auch die beiden wichtigsten deutschen Ereignisse dieser Jahre, das Hambacher Fest und der Frankfurter Wachensturm, spiegeln sich nur in den zusammengetragenen, quasi amtlichen Dokumenten des Deutschen Bundes. Entsprechend dem Editionsprinzip der gesamten Reihe, vor allem innere Organisation, Verfassungsordnung sowie die wirtschafts- und gesellschaftspolitische Rolle des Staatenbundes zu dokumentieren, haben sich Bearbeiter und Herausgeber auf die Publikation zentraler Quellen aus den Akten des quasi-staatlichen Deutschen Bundes beschränkt und private Korrespondenzen nur insoweit hinzugezogen, als sie zur Vorgeschichte von Bundesbeschlüssen gehören oder für Entscheidungsprozesse in den Bundesorganen von Bedeutung waren („Selbstschau des Bundes“). Nur ausnahmsweise werden ‚externe‘ Meinungsäußerungen einbezogen. Das ist nachvollziehbar, macht die Lektüre der häufig drögen ‚amtlichen‘ Quellen jedoch zu einem ziemlich anstrengenden Unterfangen. Aber nicht nur um die Lektüre aufzulockern, wäre die Einbeziehung weiterer Briefe, Artikel und Denkschriften kritischer liberaler und demokratischer Zeitgenossen wünschenswert gewesen. Man hätte außerdem gar zu gern eine Art Panorama der zeitgenössischen Perspektive auf die in aller Breite dokumentierten Beschlüsse und Entscheidungsfindungen des Deutschen Bund gehabt.

Ralf Zerback, durch eine konzise Untersuchung des Münchner Stadtbürgertums im frühen 19. Jahrhundert im Rahmen des Gall’schen Bürgertums-Projektes hervorgetreten 1, skizziert in einer instruktiven Einführung den inhaltlichen Rahmen der Quellenedition, die in insgesamt sieben unterschiedlich lange Abschnitte systematisch gegliedert ist (I. Grundcharakter und Entwicklungsprozeß; II. Wirtschaftseinheit; III. Frühe Repressionspolitik; IV. Die sechs Artikel; V. Wachensturm und Bundeszentralbehörde; VI. Die Wiener Kabinettskonferenz von 1834 2; VII. Reformprojekte in Parlament und Publizistik). Indes sind die Versuche Zerbacks, eigene Positionen zu markieren, nicht immer überzeugend. Ob „die mittelstaatliche Verfassungsrealität im Verbund mit der staatenbündischen Struktur eine Krypto-Konstitutionalisierung des Bundes besorgte“, wie er behauptet (S. XIX), scheint mir angesichts der preußisch-österreichischen Dominanz doch recht zweifelhaft. Gerade die Sechs Artikel, eines der Kerndokumente des Bandes, setzen hier eindeutige Grenzen; sie zeigen, wie sehr sich der Bund überdies als Organ verstand, das einer substantiellen inneren Konstitutionalisierung der Einzelstaaten einen Riegel vorschieben sollte. Die Vertreter der beiden Hegemonialmächte betonten nachdrücklich, dass durch diesen Bundesbeschluss „demokratischen Anmaßungen“ gegen die monarchische Regierungsgewalt der Mitgliedsstaaten „entschieden entgegengetreten“ würde; sein Zweck sei, dass auch weiterhin „die gesammte Staatsgewalt in dem Oberhaupte des Staates vereinigt bleiben [solle] und der Souverän durch eine landständische Verfassung nur in der Ausübung bestimmter [eng begrenzter] Rechte an die Mitwirkung der Stände gebunden werden könne“ (S. 254). Überzogen ist außerdem Zerbacks Behauptung, dass „der latente Machtkampf zwischen den Bundesgliedern“ ein „demokratisches Korrektiv ergab“ (S. XX). Die abgedruckten Dokumente stützen diese Behauptung nicht. Der Deutsche Bund mutierte nicht zu einer protodemokratischen Institution.

Die Dokumentation entzieht auch anderen, mancherorts liebgewonnenen Interpretationen die Grundlage, etwa dem Bemühen, den Deutschen Bund zum Kern einer frühen, friedensliebenden Europäischen Union zu verklären: Der Bund, „mit seiner deutschen und europäischen Doppelfunktion“, „verwirklichte in einer föderativen Friedensordnung den Friedensgedanken“, hat z.B. Gruner behauptet.3 Dass der Bund der deutschen Staaten nicht in erster Linie als europäischer Friedensverband konzipiert wurde, sondern wesentlich ‚innenpolitische‘ Funktionen hatte – und die zentralen Akteure eher politische Friedhofsruhe im Sinn hatten, wenn sie von „Frieden“ sprachen - , dies für den von inneren Unruhen freilich stark erschütterten Zeitraum 1830 bis 1834 dokumentiert zu haben, ist ein Verdienst der von Zerback bearbeiteten Edition. Nur selten allerdings wird in den Dokumenten die zentrale Funktion des Bundes als Fürstenbündnis so scharf umrissen wie in einer Denkschrift des nach dem Hambacher Fest ins Straßburger Exil vertriebenen Johann Georg August Wirth: Sobald „irgendwo die Freiheit auftauchen will, so sind auf der Stelle die europäischen Dynastien innig verbündet, um jenen gemeinschaftlich gefährlichen Feind niederzuwerfen“ (S. 714.).

In aller Deutlichkeit tritt dagegen die eminente nationalpolitische Bedeutung des Deutschen Bundes hervor: Das Jahr 1815, als auf dem Wiener Kongress nominell der überstaatliche Deutsche Bund aus der Taufe gehoben wurde, war – stärker noch als 1866 und 1871 - das eigentliche Geburtsjahr ‚Deutschlands‘. Wider Willen hat der wesentlich durch Metternich, also die übernationale Habsburger Monarchie, gegründete Staatenbund Ausbildung und Verbreitung eines deutschen Nationalbewusstseins in erheblichem Maße befördert. Die Pariser Julirevolution und ebenso die im Rahmen des Deutschen Bundes initiierte gesamtdeutsche Repressionswelle 1830 bis 1834 haben diesem Willen zur modernen Nationsbildung noch einmal einen kräftigen Schub versetzt - im Verbund mit dem 1834 gegründeten Deutschen Zollverein, der das spätere Deutsche Reich zu einem gemeinsamen Markt verschweißte und Österreich zum Wirtschaftsausland machte (vgl. dazu besonders S. 524-530, S. 538-541). Die gegenüber dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation drastisch reduzierte Staatenzahl und "die gemeinsame dynastische Opposition gegen die Revolution" auf der Plattform des Deutschen Bundes ließen den „wachen ‚Deutschen‘ in den Einzelstaaten mehr denn je zu Bewusstsein kommen, in einem nationalen politischen System zu leben." Die drückenden Repressionen hatten den paradoxen Effekt, die Oppositionellen in den Einzelstaaten tendenziell zu einer nationalen Opposition zusammenzuschweißen, da „staatliche Reform nur als nationale Reform möglich“ zu sein schien. Dieser von John Brieully unlängst vorgebrachte These 4, die im Grunde bereits von Heinrich Heine vorformuliert wurde 5, steht Zerback mit offensichtlicher Sympathie gegenüber (S. XXXVIIf.). In dieser Hinsicht ist die langfristige Bedeutung des Deutschen Bundes in der Tat gar nicht hoch genug anzusetzen: 1848 beflügelte der Deutsche Bund als Krypto-Nationalstaat die Einigungsbewegung auch konkret, indem er den institutionellen Rahmen bot, an den die neuen gesamtdeutschen Organe anknüpfen konnten; ohne den Deutschen Bund hätten z.B. die Wahlen zur Frankfurter Nationalversammlung keine zwei Monate nach den Märzrevolutionen kaum so komplikationslos durchgeführt werden können. Bismarck bot der zwischenzeitlich revitalisierte Bund die Basis, trotz schließlich beträchtlicher geographischer Verschiebungen, die nationalstaatliche Einigung durchzuziehen. Und auch der Tatbestand, dass nach der ersten verheerenden militärischen Niederlage des Deutschen Reiches 1918 das neue (wilhelminische), nicht einmal fünfzigjährige ‚Deutschland‘ trotz kräftiger separatistischer Bestrebungen nicht auseinanderbrach, ist zu einem guten Teil dieser Vorgeschichte, dem älteren Deutschen Bund als dem Gefäß zu verdanken, das die nationalstaatliche Einigung zu einem guten Teil bereits vorwegnahm und immer wieder von neuem ein deutsches Nationalbewusstsein stimulierte, das freilich vielfach und zunehmend stärker auch Züge national-imperialen Größenwahns trug. Indem der Deutsche Bund hier zu einer Art Krypto-Nationalstaat wird, Vorläufer nicht nur des Wilhelminischen Kaiserreiches, sondern ebenso der Weimarer und im Grunde auch der Bundesrepublik, ist der Bogen weit gezogen – und hoffentlich deutlich geworden, welche Bedeutung die beginnenden 1830er Jahre und mit jenen die hier dokumentierten Bundesdokumente auch aus der (deutschen) Vogelperspektive besitzen. Selbstverständlich eignet sich der Band vorzüglich außerdem als ‚Futter‘ für zahlreiche andere Fragestellungen. Beträchtlich erleichtert wird seine Benutzung durch die ausführliche Kommentierung sowie ein differenziertes und präzises Register.

Anmerkungen:
1 Zerback, Ralf, München und sein Stadtbürgertum. Eine Residenzstadt als Bürgergemeinde 1780-1870, München 1997.
2 Zur fast sechsmonatigen, von Metternich geleiteten Wiener Kabinettskonferenz der deutschen Außenminister, hinsichtlich Aufwand und Bedeutung nur den großen Konferenzen von 1819 in Karlsbad, 1820 in Wien und 1850/51 in Dresden vergleichbar, vgl. Zerbacks Einführung S. XXXIX bis XLIV.
3 Gruner, Wolf D., Die europäischen Mächte und die deutsche Frage 1848-1850, in: Gunther Mai (Hg.), Die Erfurter Union und das Erfurter Unionsparlament, Köln 2000, S. 277.
4 Brieully, John, Nationalbewegung und Revolution, in: Dipper, Christof; Speck, Ulrich (Hgg.), 1848, Revolution in Deutschland, Frankfurt am Main 1998, S. 314-337, Zitate: S. 317 f.
5 „Die geistige Einheit gibt uns die Zensur“, während der Zollverein „gibt die äußere Einheit uns“. Heine, Heinrich, Ein Wintermärchen, Caput II, nach: Insel-Heine, Bd.1, Frankfurt am Main 1968, S. 427. Vgl. auch Einleitung, S. XXXVIIf.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension