S. Pott: Medizin und schöne Literatur

: Medizin, Medizinethik und schöne Literatur. Studien zu Säkularisierungsvorgängen vom 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert. Berlin 2002 : de Gruyter, ISBN 3-11-017266-6 284 S. € 78,00

Danneberg, Lutz; Pott, Sandra; Schönert, Jörg; Vollhardt, Friedrich (Hrsg.): Zwischen christlicher Apologetik und methodischem Atheismus. Wissenschaftsprozesse im Zeitraum von 1500 bis 1800. Berlin 2002 : de Gruyter, ISBN 3-11-017510-X 370 S. € 98,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dietmar Till, Institut für Germanistik, Universität Regensburg

"10. Januar 1610: Vermittels des Fernrohrs entdeckt Galilei am Himmel Erscheinungen, welche das kopernikanische System beweisen. Von seinem Freund vor den möglichen Folgen seiner Forschungen gewarnt, bezeugt Galilei seinen Glauben an die menschliche Vernunft." 1 So beginnt der dritte Aufzug von Bertolt Brechts 'Leben des Galilei' (1938/39): Galileo Galilei und sein Freund Sagredo betrachten durch ein Fernrohr den Himmel. Galilei kommentiert die Szene und nennt dabei noch einmal jenes Datum, das in der Geschichte der neuzeitlichen Wissenschaften eine Epochen-Zäsur darstellt: "Heute ist der 10. Januar 1610. Die Menschheit trägt in ihr Journal ein: Himmel abgeschafft." 2 Im Glauben an die Kraft rationaler Argumente sieht Galilei die Folgen seiner Entdeckung nicht – weder für sich noch die Christenheit. Von Sagredo darauf angesprochen - "Und wo ist dann Gott? [...] Gott! Wo ist Gott?" 3 - antwortet Galilei zornig: "Bin ich Theologe? Ich bin Mathematiker." 4 Der Ausgang ist, nicht zuletzt durch Brechts Drama, allgemein bekannt: 1633 muss Galilei seiner Theorie abschwören und wird der Beaufsichtigung durch die Inquisition unterstellt.

Die weitere Geschichte ist bekannt: Noch einmal trägt in Brechts Drama die 'alte' Theologie einen Sieg über die 'neuen' Wissenschaften davon. Doch im Verlauf der Frühen Neuzeit sollte sich dieser Sieg, so eine populäre wissenschaftshistorische Narration, als ein Pyrrhussieg erweisen: In einer als 'Emanzipationsbewegung' von den kirchlichen Autoritäten verstandenen 'Aufklärung' muss spätestens im 18. Jahrhundert die Theologie ihr Deutungsmonopol abgeben. Die von ihr kontrollierten verschiedenen Diskursfelder werden 'verweltlicht' – eben 'säkularisiert'. Der Aufstieg der neuzeitlichen Wissenschaften stellt sich hier als teleologisch ausgerichteter und einsinniger Ablösungsprozess von den 'Vorurteilen' der kirchlichen Autoritäten dar.

Solche Säkularisierungsprozesse hat ein interdisziplinäres Forscherteam unter Leitung von Friedrich Vollhardt, Lutz Danneberg und Jörg Schönert untersucht; die Ergebnisse dieses Projekts liegen nun in drei Bänden mit unterschiedlichem Aufbau und Zielsetzung vor: Der erste Band bietet eine von Sandra Pott verfasste Monografie zum Thema 'Medizin, Medizinethik und schöne Literatur', der zweite gibt in neun Aufsätzen einen Überblick über das Problem der Säkularisierung in so unterschiedlichen Wissensfeldern wie Theologie, Naturforschung, Jurisprudenz und der 'schönen' Literatur. Mittlerweile ist auch der dritte, von Lutz Danneberg erarbeitete Band erschienen; er widmet sich dem 'Lesen' im liber naturalis und supernaturalis.

Ausgangspunkt des Forschungsprojekts, so Sandra Pott und Jörg Schönert in der Einleitung zum ersten Band (z.T. in Bd. II, S. 1-7 wiederholt), ist die einflussreiche These Max Webers von der 'Entzauberung der Welt'. Sie geht von einem Paradox aus, das die Entwicklung der modernen Naturwissenschaften als Prozess der 'Verweltlichung' ursprünglich religiöser bzw. theologischer Intentionen beschreibt (Bd. I, S. 1f). Gegen dieses Modell einer langsamen Aufgabe des Geltungsanspruchs der Religion erheben Pott und Schönert Einspruch: Die frühneuzeitliche "'Naturforschung' und 'Weltwahrnehmung' wurden nicht ohne weiteres und ohne Rücksicht auf metaphysische Bedürfnisse 'verweltlicht'" (ebd.); vielmehr habe sich der Säkularisierungsprozess in einem 'Modus der Übersetzung' vollzogen, der ein komplexeres, vielschichtigeres und weniger 'einsinniges' Bild von den frühneuzeitlichen Transformationsprozessen in den unterschiedlichen Wissensbereichen zeichnet (vgl. Bd. I, S. 8). Der Säkularisierungsbegriff wird (das macht den unzeitgemäßen - vgl. Pott in Bd. I, S. 41f. - Ansatz sympathisch) keineswegs aufgegeben: "Säkularisierung wird nunmehr durch zahlreiche einschränkende, bereichsspezifische und relativierende Konzepte (Entchristlichung, Entkirchlichung, Enttheologisierung, Entsakralisierung, Christianisierung, Theologisierung, Sakralisierung usf.) neu bestimmt. Auf diese Weise bleibt der Begriff der Säkularisierung – und mit ihm auch Webers Darstellung – in modifizierter Form der zentrale Ansatz- und Bezugspunkt historischer Forschung." (Bd. I, S. 2) 'Säkularisierung' wird dabei als eine Interpretations- und Prozesskategorie bestimmt, welche sich für Einzeltextinterpretationen ebenso wie für die Darstellung von Entwicklungen nutzen lässt (vgl. Bd. I, S. 3f., 11ff.). 5

Sandra Pott untersucht im ersten Band Medizin, Medizinethik und literarische Texte vom 17. bis zum 19. Jahrhundert. Die Studie konzentriert sich auf die Darstellung von drei historischen Problemkomplexen, der ein Abriss der Forschungsgeschichte voransteht (S.11-35): Die Diskussion um das 'einfache Christentum' in medizinethischen Traktaten, vor allem von Hallenser Medizinern der Frühaufklärung, den Mediziner-Dichter Albrecht von Haller und literarische Texte von Jean Paul und Goethe.

Auch am Beispiel der frühneuzeitlichen Medizinethik zeigt sich, dass 'Säkularisierung' nicht als einfacher Ablösungsprozess verstanden werden darf: "Für die Medizinethik des 18. Jahrhunderts wird [...] eine konfessionenübergreifende, natürliche christliche Moral zum Zeichen eines aufklärerischen Aufbruchs, des selbstbewussten Ausbruchs aus dem 'konfessionellen Zeitalter', wie er sich auch in anderen Disziplinen finden lässt. Die Intention einer solchen Entledigung von kirchlichen und konfessionellen Zwängen zugunsten eines in der Welt sich erst zeigenden Christentums führt – auf lange Sicht – zu dem, was sich als Prozess der Säkularisierung der Wissenschaften äußert. Die ursprüngliche Intention mündet in einem nicht vorhersehbaren Ergebnis. Entkonfessionalisierung und Rechristianisierung leisten der Säkularisierung Vorschub." (S. 44). Das ist durchaus paradox, wird von Pott in dem schönen Kapitel über die 'Säkularisierung der Medizinethik' (S. 46-104) aber überzeugend gezeigt. Gegen das gängige Erklärungsschema, nach dem sich die 'moderne' Medizin als Ergebnis eines einfachen Verweltlichungs- und Fortschrittsprozesses entwickelt habe (S. 46f.), bei der am Ende Medizin und Religion als Gegensätze erscheinen, zeigt Pott plausibel, dass die "weltliche Medizin [...] aus dem Entgegengesetzten entstanden [ist], nämlich aus Versuchen, eine christliche Medizin zu begründen" (S.48f.). Gerade medizinethische Traktate erweisen sich hier als ein ergiebiges Textkorpus. Am Beispiel des Hallenser Anatomen Friedrich Hoffmann vom Beginn des 18. Jahrhunderts erläutert Pott, wie die Methodenideale der Medizin zur Grundlage einer bestimmten Form der praktischen Theologie werden konnte – wobei Hoffmann allerdings zunächst Theologie und Medizin auf einem christlichen Fundament begründen will: "Sünde, Krankheit und Laster sind demnach nichts als Abweichungen von der gottgewollten Ordnung, die sich in der mittelbar als 'materiell' verstandenen Seele äußern. Aus diesen Abweichungen folgen entsprechende körperliche Symptome. Denn sündigt der Mensch, so gerät die körperlich gedachte Seele in Unordnung" (S. 53). Da die Medizin für Hoffmann nur die Symptome lindern bzw. heilen kann, nicht aber deren sündhafte Ursachen, benötigt sie die Theologie unbedingt. Hoffmanns 'Medizin' ist also ein Zwitterwesen: methodologisch weltlich, in der Zielsetzung aber eine durch und durch christliche Wissenschaft (vgl. S. 57). Die Frage nach der Säkularisierung wird damit letztlich abschlägig beschieden: "Hoffmann säkularisiert die Methode und die Mittel der Medizin und der Theologie, um sie zu 'christianisieren'" (S. 58). Eine zweite von Pott herangezogene Textgruppe sind die frühneuzeitlichen 'Medicus politicus'-Traktate (seit de Castros 'Medicus-Politicus, Sive de Officiis Medico-politicis Tractatus' von 1614), die sich um das bemühen, was wir heute ärztliche Standesethik nennen würden. Problematisch am Konzept des 'politischen Mediziners' ist dabei die Rolle der Religion, die von den einzelnen Schulen am Beginn des 18. Jahrhunderts durchaus unterschiedlich eingeschätzt wird. Bezeichnend erscheint dabei, dass theologische Fragen im Medium von Traktatliteratur über das ethisch richtige Verhalten des Mediziners diskutiert werden (S. 67). Auch hier lässt sich von 'Säkularisierung' im strengen Sinne kaum sprechen – im Gegenteil: Wie Pott anschaulich und überzeugend ausführt, wird 'Religiöses' – vor allem die Bibel als (überkonfessionelle und letztlich theologischer Parteilichkeit entzogene) Fundgrube von Verhaltensregeln - gerade für weltliche Argumentationszusammenhänge in Dienst genommen (S. 68): "Theologisches wird in medizinisch-philosophische Terminologie überführt, um das Ergebnis als 'wahres Christentum' darzustellen, um es also erst 'eigentlich' zu christianisieren. Verweltlicht wird nur unter dem Vorzeichen eines diesen Vorgang legitimierenden Christentums, das es erlaubt, Theologie und Medizin hinsichtlich ihrer praktischen Wirkung gleichzusetzen und beide Disziplinen voneinander abzugrenzen" (S. 101; vgl. S. 187f.). 6

Mit Blick auf antike und biblische Traditionen des 'christus medicus' erscheint der Arzt, so Pott im folgenden Kapitel über den Hallenser Mediziner Michael Alberti, ohnehin als Seelsorger (und vice versa). Wenn Krankheit - wie noch im 18. Jahrhundert – als Ausdruck persönlicher Sünde verstanden wird, dann ist sie zugleich auch immer göttliche Auszeichnung: Gott prüft den Leidenden – wie seinen Sohn – durch Krankheit (S. 73). Das verändert wiederum die Rolle des Arztes, der nicht als Heiler, sondern als bloßer Seelsorger erscheint, der unheilbare Krankheiten auch gar nicht erst zu heilen versucht: Wunder und Übernatürliches vermag der Arzt nicht. Hoffmann und Alberti stehen hier paradigmatisch für zwei entgegengesetzte Typen des Umgangs mit 'Religion': 'christianisiert' Hoffmann die Medizin – und säkularisiert sie dadurch gleichzeitig, indem er sie von der Theologie 'emanzipiert' -, so 'theologisiert' Alberti im Gefolge des Pietisten Spener die Medizin, die als 'Gottesdienst' verstanden wird (S. 75, 91f.). Insgesamt korrigiert Pott in diesen Kapiteln einige gängige wissenschaftshistorische Klischees von der 'Janusköpfigkeit' der Frühen Neuzeit: Für die zeitgenössischen Mediziner waren "religiöse Überzeugung einerseits und die Naturforschung andererseits" (S. 99) durchaus (und zwar in sehr unterschiedlicher Weise) zu verbinden – dies gilt auch für den erzkatholischen Galilei, den Brecht in seinem Drama einseitig-verzerrend als 'modernen' Rationalisten darstellt.

Die argumentative Höhe des Medizinethik-Kapitels erreicht die nachfolgende "Binnenmonographie" (S.105-157, bes. S. 106) über den Naturforscher, Mediziner und Dichter Albrecht von Haller aus dem 18. Jahrhundert nicht. Dazu ist die Behandlung des weitverzweigten Œuvres Hallers auf nur etwa 50 Seiten einfach zu oberflächlich und zu wenig problemkonzentriert (vgl. etwa das Kapitel zu Hallers Naturlyrik, S. 147-151). Dem eigentlichen medizinischen Werk Hallers weicht Pott zudem aus; statt um Medizin geht es nun allgemeiner um 'Naturforschung'. Dennoch ist Haller ein gut gewählter Autor, verbindet er doch in seiner Person verschiedene, für den Themenkomplex 'Säkularisierung' insgesamt zentrale Eigenschaften: Der aus der Schweiz stammende Göttinger Professor ist eben nicht nur ein weltlicher 'Naturforscher', sondern auch ein gläubiger Christ mit reformierter Konfession. Beides lässt sich nicht trennen, sondern geht in der Person des Albrecht von Haller eine Einheit ein: Die Anatomie dient für ihn der Erbauung, zugleich sieht er aber den christlichen Glauben als durch die 'Freygeisterei' gefährdet an – Haller geht jenen 'Mittelweg' zwischen Religion und Atheismus, der gerade die deutsche Aufklärung (gegen den Materialismus etwa eines La Mettrie, mit dem sich Haller, wie Pott ausführlich zeigt, intensiv auseinandersetzt (S.109)) auszeichnet. Naturforschung wird im Endzweck zwar als Gottesdienst verstanden, methodologisch folgt Haller allerdings einem 'atheistischen' Schema (S. 110ff.), das Gott aus der Beschreibung der Natur herauslässt – und damit ist der "nicht-beabsichtigten Säkularisierung aber ein Weg eröffnet" (S. 120; vgl. auch den Aufsatz von Simone de Angelis, Bd. II, S. 94-144, hier S. 96). Wie Friedrich Vollhardt in seinem Beitrag über die apologetische Literatur der Frühen Neuzeit ausführt, gilt diese Problemlage auch noch für das späte 18. Jahrhundert (Bd. II, S. 67-93). In seinen Tagebüchern allerdings, die Pott dem wissenschaftlichen Werk gegenüberstellt, ist ein anderer Haller sichtbar: ein religiöser Zweifler, der an dem eigenen Willen zur Vollkommenheit scheitert (Bd. I, S. 126f., 130). Trennt Haller hier Weltliches und Religiöses streng, so zeigt seine Auseinandersetzung mit Voltaire und dem anti-klerikalen Denken der französischen Aufklärung (S. 131ff.), dass sich "Naturforschung und Christentum" (S. 135) auch harmonisieren lassen: Christliche Traditionsbestände müssen vor dem Hintergrund der neuen Erkenntnis erst einmal gerechtfertigt werden (S. 132) – was auch Haller nicht immer restlos gelingt -, und der Text der Bibel muss mit den Naturwissenschaften in Übereinstimmung gebracht werden (vgl. S. 140f.). Auch hier kommt Pott zu einem Negativ-Ergebnis: "Von einer direkten und offenkundigen Säkularisierung jedenfalls lässt sich auch hier nicht sprechen." (S. 156; vgl. S. 187f.). Die Atheisten, Skeptiker, Materialisten und 'Freidenker', die vielfach im Fokus der Wissenschaftsgeschichte stehen, erweisen sich als nicht repräsentativ für weite Teile der (deutschen) Aufklärung (S. 156).

Dass auch Hallers Selbst-Konzept des "gläubige[n] Naturforschers" (S. 157) brüchig ist, zeigt sich allerdings erst ab 1800 in der 'schönen Literatur', von der das letzte Kapitel über Romane von Jean Paul und Goethe handelt. Im Falle Jean Pauls knüpft Pott an die jüngere Forschung (Wolfgang Proß und Götz Müller sind hier an erster Stelle zu nennen) an, welche die wissenschaftshistorische Position Jean Pauls im Spannungsfeld von 'Mechanismus' und 'Animismus' zu klären versucht hat (S. 159f.); dabei zeigt sich, dass auch er ('noch') in einer Argumentationstradition des 18. Jahrhunderts (namentlich der medizinischen und medizinethischen Traktate) steht, die aufgenommen und 'produktiv' gewandelt – eben 'säkularisiert' (vgl. S. 162) – werden. Ähnliches zeigt Pott am Beispiel von Goethes "Wilhelm Meisters Wanderjahre" (1821/29), wo die Frage nach der religiösen Position des Autors Goethe im Zusammenhang des Säkularisierungs-Theorems virulent wird: "Goethes 'Religion' ist weltlich" (S. 185).

Was bleibt am Ende? Potts abschließende Betrachtungen zu den literarischen Texten um 1800 – aber durchaus mit Blick auf die gesamte Studie verfasst - sind in gewisser Weise entwaffnend: "Im Ergebnis lässt sich von einem langfristigen Prozess der Säkularisierung sprechen, der sich in literarischen Texten des frühen 19. Jahrhunderts bereits [!] nachweisen lässt, der durch medizinethische Abhandlungen des 17. und 18. Jahrhunderts sowie durch Jean Pauls Texte befördert [!] wird und in den Wanderjahren beendet ist" (S. 186). Das ist – wenngleich nicht im eigentlichen Sinne der Autorin anzulasten – ein mageres und altbekanntes Ergebnis zugleich, und so führt Pott in den 'Abschließende[n] Bemerkungen' (S. 187-191) erhebliche "methodologische und historische Probleme" (S. 187) gegen die Verwendung der Säkularisierungskategorie ins Feld. Als intentionaler Vorgang lässt sich 'Säkularisierung' demnach kaum verstehen: "Sie lässt sich nur als Wirkung eines Denkens vermuten [!], in dem der christliche Deutungskontext für natürliche Phänomene gekappt wird" (S. 187f.).

Auch die Aufsätze des zweiten Bandes kommen deshalb zu "ganz unterschiedlichen Ergebnissen" (Bd. II, S. 11), was Reichweite und Trennschärfe des Säkularisierungskonzeptes anlangt. Insgesamt bestimmt eine distanzierende Haltung den Duktus der Beiträge (mit einer gewissen Ausnahme in Dieter Hünings rechtsgeschichtlichem Beitrag über "Die Grenzen der Toleranz", S. 219-273). Gideon Stienings Beitrag "Verweltlichung der Anthropologie im 17. Jahrhundert" (S. 174-218) etwa kommt (vor dem Hintergrund von Hans Blumenbergs Ansicht, beim Begriff der 'Säkularisierung' handle es sich um ein verstecktes 'Theologumenon') zu einem Negativ-Ergebnis: "Die Weltlichkeit neuzeitlicher Philosophie und Wissenschaft ist eben kein Produkt der Verweltlichung theologischer Kategorien" (S. 184). Die Säkularisierungskategorie sei für die Beschreibung solcher Prozesse untauglich: Die Philosophie eines Hobbes und Descartes erweist sich nicht als Ergebnis einer 'Verweltlichung', sondern als Produkt einer funktionalen Differenzierung, infolge derer die Philosophie "Funktionen von Theologie und Religion übernahm" (ebd.).

Auch Joachim Jacobs Beitrag über "Inspiration und Säkularisierung" (S. 303-330) in der Literatur des 18. Jahrhunderts kommt zu einem ähnlichen Ergebnis: 'Säkularisierung' sei kein geeignetes literarhistorisches Evolutionsmodell, weil die Behandlung der Inspirationsproblematik "nicht auf eine einfache historische Abfolge zu bringen" (S. 319) sei. Dass Jacob damit hinter die differenzierte Typologie verschiedener Säkularisierung-Formen zurückfällt, wie Schönert und Pott sie in den Band-Einleitungen aufstellen (Bd. I, S. 4-6; Bd. II, S. 4-6), ist das eine. Problematischer allerdings scheint, dass Jacob selbst von einer allzu einsinnigen Auffassung von dem, was 'Inspiration' ist, ausgeht; bezeichnend hierfür ist sein unklarer Begriff einer "Inspirationsvorstellung" (S. 320) in der Poetik. Der begriffsgeschichtliche Befund dagegen sagt klar, dass vor dem 18. Jahrhundert der Begriff der 'Inspiration' gänzlich für theologische Belange reserviert war; eine 'Inspiration' des Dichters gibt es vielleicht als 'Konzept', 'Metapher' oder 'Analogie', nicht jedoch als dichtungstheoretischen Begriff. Das ändert sich seit dem 18. Jahrhundert, und von diesem Befund hätte die Studie ausgehen können – 'Säkularisierung' könnte sich in diesem Falle dann doch wieder als valides Konzept erweisen; als ein Konzept freilich, das keine einsinnige Entwicklung, sondern ein dynamisches Wechselspiel zwischen 'Christianisierung' und 'Säkularisierung' beschreibt (wie es Sandra Pott im ersten Band demonstriert). Jacob jedenfalls legt seinen Analysen genau jenen 'einsinnigen' Säkularisierungsbegriff zugrunde, den er an Hans-Georg Kempers "Lyrik der frühen Neuzeit" kritisiert, und das ist zu einfach gedacht.

Noch einmal: Was bleibt? Am Ende überwiegt ein zwiespältiges Gefühl. Das hohe wissenschaftliche Niveau der Beiträge lohnt deren Lektüre allemal. Die Kategorie der 'Säkularisierung' bringt Ordnung in das Material, strukturiert es und gibt dem dreibändigen Unternehmen einen gemeinsamen Fokus. 'Säkularisierung' als eine wirklich nützliche und konsistente Kategorie ist damit aber noch nicht gerettet, und die kritische Grundhaltung vieler Beiträge ist dafür ein Beleg. Doch das war wohl auch nur zum Teil beabsichtigt.

Anmerkungen:
1 Bertolt Brecht: Ausgewählte Werke, Bd.2, Frankfurt 1997, S. 24.
2 Ebd., S. 26.
3 Ebd., S. 29.
4 Ebd., S. 30.
5 Dahinter steckt nicht zuletzt auch die Kritik an einer allzu 'teleologisch' gedachten Geschichte der neuzeitlichen Rationalität. Vgl. auch Lorraine Daston: Wunder, Beweise, Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität, Frankfurt 2001.
6 Eine letztlich ähnlich gelagerte Problemlage – 'Ästhetik als Medizin' – schildert Dieter Kliche: Ästhetische Pathologie. Ein Kapitel aus der Begriffsgeschichte der Ästhetik, in: Archiv für Begriffsgeschichte 42 (2000), S. 197-229, hier S. 212ff.

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