W. Detel u.a. (Hgg.): Wissensideale

Titel
Wissensideale und Wissenskulturen in der frühen Neuzeit. Ideals and Cultures of Knowledge in Early Modern Europe


Herausgeber
Detel, Wolfgang; Zittel, Claus
Reihe
Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel 2
Erschienen
Berlin 2002: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
358 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christopher Möllmann, SFB/KFK 485 "Norm und Symbol", Universität Konstanz

Seitdem die etwas simpel anmutenden Erfolgsgeschichten wissenschaftlichen Fortschritts abgelöst wurden durch historisch feinfühliger und damit auch kontextsensitiver argumentierende Zugangsweisen, häufen sich die Monografien und Aufsatzsammlungen zur Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit. Das Feld hat, zumal nach den zwischenzeitlich zu Klassikern aufgestiegenen Publikationen der 80er und frühen 90er Jahre 1 einen wahren Boom erlebt. Dennoch wirkt der von Wolfgang Detel und Claus Zittel herausgegebene Sammelband keineswegs wie ein verspätetes Bemühen, wissenschaftshistorischen Konjunkturen Tribut zu zollen, sondern kann ohne Zweifel als wertvoller Beitrag zu weiterhin höchst aktuellen Diskussionen betrachtet werden. Hervorgegangen aus einer Tagung des Frankfurter Forschungskollegs „Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel“, unterstreicht er zudem die Leistungsfähigkeit allzu oft gescholtener kulturwissenschaftlicher Forschungsunternehmen. Der Titel allerdings führt ein wenig in die Irre, da bis auf einen sehr informativen Überblick Alexander Beckers über „Das Wissen von der Musik im 16. Jahrhundert“ alle Beitragenden sich dem 17. Jahrhundert zuwenden. Dabei besticht der Band weniger durch thematische Extravaganz als durch eine überaus geschickte Auswahl und Anordnung der Artikel, durch die es den Herausgebern gelungen ist, eine für Aufsatzsammlungen außergewöhnliche argumentative Spannung zu erzeugen. Trotz einer behutsamen Bündelung der Aufsätze in vier Gruppen verzichten Detel und Zittel in ihrer Einleitung zurecht auf eine Benennung einzelner Sektionen. Denn abgesehen von einem gut gewählten Eingangstext von Peter Machamer und den letzten Artikeln zur Musik – an die Ausführungen von Becker schließt eine scharfsinnige Studie von Matthias Vogel an zum Wahrheitsbegriff in der Musik am Beispiel von Claudio Monteverdis „L´incoronazione di Poppea“ – und zur Kunst – nämlich einem Aufsatz von Bernhard Stumpfhaus zur Affektdarstellung bei Poussin, der auch auf die Lektüre seiner Dissertation neugierig macht 2 –, sperren sich die Beiträge gegen eine eindeutige thematische oder methodische Klassifizierung. Es wird auf ein beinahe kanonisches Themeninventar zurückgegriffen. So finden sich neben den bereits genannten zwei Aufsätze zum Aristotelismus im Paris des 17. Jahrhunderts zwei zu Bacon, zwei zu Galilei sowie jeweils einer zum Korpuskularismus, zur Mnemotechnik, zum Konzept des Naturgesetzes in der Frühzeit der Royal Society sowie zu Pierre Gassendi.

Peter Machamer führt eine bereits andernorts vorgetragene These aus, der zufolge im Zeitraum zwischen der Spätrenaissance und dem 17. Jahrhundert ein wissensgeschichlicher Bruch zu konstatieren sei hin zu Wissensordnungen, deren epistemologische Absicherung in einem von Machamer so benannten „epistemic I“ zu suchen sei. Indem aber Wissen auf diese Weise epistemologisch individualisiert werde, stelle sich das Problem intersubjektiver Nachvollziehbarkeit, die Machamer durch unterschiedliche, insbesondere auch bildliche Formen der „demonstration“ gewährleistet sieht. Wie sehr diese Norm öffentlicher Intelligibilität im 17. Jahrhundert eine je nach Kontext differierende Ausgestaltung erfahren konnte, zeigt Mario Biagioli in einem sehr langen, aber gewohnt beindruckenden Beitrag über unterschiedliche Formen bildlicher Repräsentation bei Galileo Galilei und dem Jesuiten Christopher Scheiner. Gegen die These, dass im Laufe der Frühen Neuzeit diagrammatische von mimetischen Abbildungen abgelöst worden seien, kann Biagioli in seiner Analyse geltend machen, dass beide Autoren den mimetischen Schärfegrad ihrer Zeichnungen – etwa der Sonnenflecken – immer relativ zur internen Struktur ihrer Argumente sowie zum anvisierten Adressatenkreis kalkulierten. Statt des von Machamer vorgeschlagenen Konzepts einer standardisierten, im Prinzip universalen Intersubjektivität rücken somit unterschiedliche lokale Logiken der Wissenspräsentation in den Vordergrund. Auch Wolfgang Neubers Ausführungen zur Mnemotechnik können in einen spannungsreichen Dialog mit Machamers Eingangsthesen gestellt werden. In seinem Beitrag „Systematische und kasuistische Wissensordnungen. Mnemotechnische Prozesse im 17. Jahrhundert“ geht er davon aus, dass sich im Laufe des 17. Jahrhunderts die Gedächtniskunst entindividualisierte, indem eine an einen objektiven ordo-Gedanken anschließende Wissenssystematik eine kasuistische und damit individuelle Merk- und Erinnerungsordnung ablöste. Neuber spricht von einer „kognitiven Kollektivierung“ (S. 188) und nennt als überzeugendes Beispiel das ramistische Systematisierungsstreben. Angesichts dieses Befundes zeigt Neuber allerdings zugleich Residuen auf, in denen sich seiner Ansicht nach weiterhin individuelle Gedächtnisordnungen behaupten konnten, etwa in der „protopietistischen Meditiation“ (S. 192) einer Catharina Regina von Greiffenberg.

Während Biagiolis und Neubers Zugriffsweisen dabei helfen, ein nuancenreicheres Bild der Wandlungsprozesse im 17. Jahrhundert zu zeichnen, offenbaren sich in Daniel Garbers „Defending Aristotle/Denfending Society in Early 17th Century France“ mögliche methodische Schwierigkeiten eines kontextualisierenden Ansatzes. Die scharfen Reaktionen auf drei Aristoteleskritiker im Paris der frühen 1620er Jahren nimmt Garber als Indizien für eine grundsätzliche Ablehnung von Neuerungen in allen Bereichen der Gesellschaft, insbesondere aber auf den Feldern der Religion und der Politik. Atheismus, Häresie, soziales Chaos galten Autoren wie Jean-Baptiste Morin und Marin Mersenne als Schreckgespenster, an denen sich letztlich auch ihre Verteidigung des philosophischen Status quo orientiert habe. Garber spricht von einem grundsätzlichen „Mißtrauen gegenüber Neuerungen“ (vgl. S. 146), das er auf kollektive Faktoren wie „nervousness“ (S. 143) oder „a feeling of crisis“ (S. 148) zurückführt. Während Garbers Analyse sehr überzeugend gerät, fällt seine sozialpsychologische Deutung etwas vage aus. Methodische Schwierigkeiten aber deuten sich an, wenn er als Erklärung für das alarmistische Klima im Paris der 1620er Jahre auf die Bartholomäusnacht von 1572 verweist, Montaignes Essays in der Ausgabe von 1588 zitiert oder recht pauschal auf die „historische Erfahrung der Religionskriege“ (vgl. S. 148) hinweist. So naheliegend diese Kontextualisierung auch erscheinen mag, sie gerät in die Gefahr einer gewissen Beliebigkeit, zumal Mersenne im Laufe der späten 20er und frühen 30er Jahre seine Einschätzung intellektueller Neuerungen maßgeblich korrigierte.

Ebenfalls Paris und dem Aristotelismus, allerdings vornehmlich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, widmet sich Laurence Brockliss. Am Beispiel einer differenzierten Gegenüberstellung der Harvey- und Torricelli-Rezeption gelingt es ihm, unterschiedliche Strategien der Aneignung neuer Ideen durch aristotelische Naturphilosophen zu entfalten. Brockliss betont den „plastischen und flexiblen“ (vgl. S. 116) Charakter des Pariser Aristotelismus und rekonstruiert das durch Faktoren wie philosophische Grundüberzeugungen, religiöse Haltungen und berufliche Identitäten bestimmte Rezeptionsverhalten des Pariser Professorats. Hierbei wird zwar deutlich, eine wie große Herausforderung vor allem Harveys Blutkreislauf für die Aristoteliker darstellte – nicht zuletzt weil der Aderlass sich damit als therapeutischer Unfug erweisen würde –, zugleich kann Brockliss aber einen Assimilationsprozess skizzieren, der gerade keine strikte Ablehnung von Harveys neuen Ideen impliziert. Wenn Brockliss am Ende des Artikels seine Ergebnisse vorsichtig auf das ganze 17. Jahrhundert in Paris ausweitet, so ergibt sich auf diese Weise eine sinnvolle Ergänzung, wenn nicht sogar produktive Relativierung der von Daniel Garber vorgetragenen Thesen.

Dem beinahe alle Beiträge durchziehenden Spannungsverhältnis zwischen neuer und alter Wissenschaft widmen sich auch Claus Zittel und Klaus Reichert, allerdings aus der Perspektive des repräsentativen Neuerers Francis Bacon. Zittels Aufsatz liefert den anschaulichen Beweis, dass das titelgebende Begriffspaar „Wissensideale und Wissenskulturen“ neue Fragenhorizonte erschließen kann. In seinem Beitrag „Truth is the daughter of time – Zum Verhältnis von Theorie der Wissenskultur, Wissensideal, Methode und Wissensordnung bei Bacon“ konzentriert er sich insbesondere auf die selbstreflexiven Potentiale der Baconschen Wissenschaftsphilosophie, wie sie sich auch in Bacons aphoristischen und damit kalkuliert unsystematischen Darstellungsstrategien offenbaren. Ihm gelingt eine überzeugende Rehabilitation der Baconschen Spätschrift „Sylva Sylvarum“, deren Einpassung in das Baconsche Projekt er über ihren Gattungscharakter erschließt. Wie bereits zahlreiche andere Bacon-Interpreten wehrt sich Zittel gegen Versuche, Bacon ein enzyklopädisches Wissensideal zuzuschreiben und betont statt dessen die Zukunftsoffenheit seiner Wissenschaftsphilosophie, die gegen eine vorschnelle, abschließende systematische Sortierung von Wissensbeständen spreche. Zittel ist zudem nur beizustimmen, wenn er das pragmatische Wissensideal Bacons unterstreicht und dies mit einer überzeugenden Interpretation des für Bacon zentralen Konzepts der „Form“ flankiert. An einem wichtigen Punkt seiner Argumentation geht Zittel allerdings fehl. Mit einem enzyklopädischen verabschiedet sich Bacon nämlich keineswegs von einem universalistischen Einheitsideal und auch die von Zittel vorgetragene Behauptung, Bacon argumentiere für eine „grundsätzliche Spaltung zwischen menschlicher Erkenntnis und universaler Ordnung“ (S. 216), wirft exegetische Fragen auf. Bacon benutzt die Spiegel-Metapher zur Charakterisierung des menschlichen Geistes nämlich nicht, um dessen irreversible Begrenztheit aufzuzeigen, sondern in kritischer Absicht, um einem fehlgehenden, hybriden Erkenntnisstreben Alternativen aufzuzeigen. 3

Doch auch an dieser Stelle vermag die gelungene Anordnung der Beiträge für ein gewisses Korrektiv zu sorgen, denn Klaus Reichert schließt mit seinen Überlegungen zu „Francis Bacons Begründung der Wissenschaft aus dem Geist der apokalyptischen Verheißung“ an eine prominente heilsgeschichtliche Bacon-Deutung an, die Zittel in Zweifel zieht. Trotz einiger merkwürdiger Wendungen – Newton wird zweimal als „Gigant“ neuzeitlicher Wissenschaft bezeichnet (vgl. S. 239, 241), einmal wählt Reichert sogar die Rede von der „Geniezeit der Neuen Wissenschaft“ (S. 246) – und Anachronismen wie einer Bezugnahme auf den Pietisten Friedrich Chr. Oetinger, gelingt es Reichert, die für Bacons Argumentieren konstitutive Denkform des Paradoxes detailreich und gut nachvollziehbar herauszuarbeiten. So findet er sie im bereits genannten Frühwerk „Valerius Terminus“, insbesondere aber auch auf dem Frontispiz der „Instauratio Magna“ und der dort zu diagnostizierenden „Doppeldeutigkeit des Schiffsbildes“ (S. 249). Reichert nimmt die ganz eindeutigen Bezugnahmen auf apokalyptische Schriften zum Anlass, Bacon in ebendiese Tradition zu stellen und einen Legitimationszusammenhang zwischen Apokalyptik und Neuer Wissenschaft herzustellen. Es wäre interessant gewesen zu erfahren, was Claus Zittel zu diesen Thesen gesagt hat, und auch, ob etwa Mario Biagioli einen stärker kontextualisierenden, das Publikum von Bacons Schriften einbeziehenden Zugang angemahnt hat – kurz, eine wenigstens partielle Beigabe eines Diskussionsprotokolls der Tagung wäre sicherlich gewinnbringend gewesen. Dieses Desiderat unterstreicht aber nur noch einmal, wie sehr bei diesem Sammelband des Frankfurter Forschungskollegs parallele Lektüren sich als lohnend erweisen.

Anmerkungen:
1 Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Topica universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft (Paradeigmata 1), Hamburg 1983; Mario Biagioli, Galileo Courtier. The Practice of Science in the Culture of Absolutism, Chicago 1993; Steven Shapin, A Social History of Truth: Civility and Science in Seventeenth-Century-England, Chicago 1994.
2 Vgl. Bernhard Stumpfhaus, Modus-Affekt-Allegorese bei Poussin. Ein Beitrag zur Emotionsforschung in der französischen Malerei des 17. Jahrhunderts, erscheint voraussichtlich 2003.
3 Vgl. die auch von Zittel als Beleg angeführte Frühschrift „Valerius Terminus“, insbesondere Francis Bacon, Valerius Terminus. Von der Interpretation der Natur (englisch-deutsch), hrsg. v. Franz Träger (Elementa Texte 2), Würzburg 1994, S. 46.

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