A. Klass: Wetzlarer Anwälte des Reichskammergerichts

Titel
Standes- oder Leistungselite. Eine Untersuchung der Karrieren der Wetzlarer Anwälte des Reichskammergerichts (1693-1806)


Autor(en)
Klass, Andreas
Reihe
Rechtshistorische Reihe 260
Erschienen
Frankfurt am Main 2002: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
362 S.
Preis
€ 50,10
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nils Jörn, Historisches Institut, Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald Email:

Vor nunmehr drei Jahrzehnten entdeckte die moderne rechtshistorische und historische Forschung ihr Interesse an Reichskammergericht und Reichshofrat und eröffnete damit ein breites Spektrum interessanter und seit der Arbeit Rudolf Smends aus dem Jahre 1913 1 unbeachteter Themen. Sechs renommierte Rechtshistoriker begründeten im Jahre 1973 im Kölner Böhlau-Verlag die verdienstvolle Reihe „Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich“, in der seither nahezu 50 Monografien und Sammelbände zu den verschiedensten Bereichen der Geschichte von Reichskammergericht und Reichshofrat erschienen sind. 1985 versammelte sich am ehemaligen Sitz des Reichskammergerichts in Wetzlar eine sehr aktive wissenschaftliche Gesellschaft zur Reichskammergerichtsforschung, die seitdem zahlreiche wissenschaftliche Tagungen angeregt und Ausstellungen organisiert hat, eine wissenschaftliche Forschungsstelle und eine eigene Publikationsreihe betreibt. Seit der Mitte der 1980er Jahre besteht zudem die Rechtshistorische Reihe des Peter Lang-Verlages, in der ebenfalls immer wieder wichtige Arbeiten zu den obersten Reichsgerichten veröffentlicht werden.

Durch diese und weitere Initiativen hat die Forschung zum Reichskammergericht mittlerweile einen Stand erreicht, der die grundlegende Arbeit von Smend in den meisten Bereichen übertrifft. Untersuchungen zum Prozessanfall liegen ebenso vor wie zur politischen Wirksamkeit der obersten Reichsgerichte, zu verschiedenen Prozessarten, zur Vergabe von Appellationsprivilegien, zum Wirken in einzelnen Regionen des Reiches oder zur Visitation des Reichskammergerichts. Mit der Habilitationsschrift von Sigrid Jahns steht zudem eine Arbeit vor der Veröffentlichung, die sehr umfassend Auskunft über die Assessoren am Reichskammergericht und das Präsentationssystem nach dem Westfälischen Frieden geben wird 2. Über die Anwälte am Wetzlarer Reichskammergericht lagen bisher zwar mehrere moderne Einzelstudien vor, eine zusammenfassende Arbeit, die über die universitäre und berufliche Ausbildung sowie die Karriere dieser Gruppe Auskunft gibt, existierte bisher jedoch nicht.

Dieses Desiderats nimmt sich nun Andreas Klass in seiner Würzburger Dissertation an. Die Arbeit ist klassisch aufgebaut und wendet sich nach Quellen- und Literaturverzeichnis sowie einer Einleitung, in der Forschungsstand und –ziel, Untersuchungsgegenstand und –methoden kurz vorgestellt werden, im ersten Hauptteil den Karriereverläufen der Anwälte zu. Klass analysiert zunächst die Stellung der Anwälte im Reichskammergerichtsprozess und verdeutlicht dabei den Unterschied zwischen Advokat und Prokurator. Er skizziert ihre Pflichten und ihre Rolle im Prozess sowie die Disziplinargewalt des Gerichts und die Bezahlung der Anwälte. Klass stellt die gewagte These auf, dass Advokaten und Prokuratoren „durch die Disziplinargewalt und die Festsetzung des Entgelts durch das Gericht so eng an dieses gebunden“ waren, „dass ihre Stellung als zumindest beamtenähnlich beschrieben werden kann“(S. 76). Auch wenn Klass diesen beiden Argumenten den Hinweis auf das umfassende Examen durch das Gericht hinzufügt, bleibt er eine dringend notwendige gründlichere Diskussion dieser Behauptung schuldig.

In einem zweiten, ausführlichen Teil untersucht Klass die Ausbildung der Advokaten und Prokuratoren. Nach sehr knappen Bemerkungen zur Erreichung der Studienreife unterteilt er seine Darstellung nach Studien- und Promotionsuniversitäten. Klass geht dann ausführlicher auf den Rechtsunterricht im 17. und 18. Jahrhundert ein und widmet dem Studium an den Reformuniversitäten Göttingen und Halle ebenso einen eigenen Abschnitt wie der Ausbildung in Wetzlar. Obwohl am Sitz des Reichskammergerichts keine Universität existierte, gaben 38 Anwälte in ihrem Generalexamen an, in Wetzlar studiert zu haben. Hier hätte man sich eine kritischere Reflexion gewünscht: auch andernorts absolvierten junge Männer zwar ihre juristische Erstausbildung bei entsprechend ausgebildeten und bestallten Verwandten, man bezeichnet dies gemeinhin jedoch nicht als Universitätsausbildung. Im folgenden wendet sich Klass den Universitäten zu, an denen vorwiegend promoviert wurde und identifiziert Gießen (S. 52), Marburg (S. 8) und Duisburg (S. 6) als bevorzugte Orte. Die Auswahl dieser Universitäten kann Klass überzeugend dadurch erklären, dass die zukünftigen Anwälte vor ihrer Zulassung am Reichskammergericht zunächst ein zweijähriges Praktikum in Wetzlar absolvieren mussten. Es bot sich daher an, vor der Zulassungsprüfung am Gericht den akademischen Grad an einer nahegelegenen Universität zu erwerben.

Klass trifft im folgenden Aussagen zur akademischen Mobilität der späteren Anwälte und zur Dauer ihres Studiums und findet heraus, dass die Anwälte mehrheitlich reichsweiten Trends folgten: überwiegend studierten sie nur an einer (S. 97) oder zwei Universitäten (S. 75) in unmittelbarer Nähe ihres angestrebten Karriereortes. Vor allem in den Jahren zwischen 1721 und 1780 strebten sie besonders zielbewusst und zeitsparend ins Amt, um gegen die zahlreiche Konkurrenz bestehen zu können. Nicht überraschend geben vor allem in diesen Jahren zahlreiche Anwälte Wetzlar als Studienort an. Sie waren bemüht, die gestellten Anforderungen möglichst zügig zu erfüllen, es ging ihnen dagegen weniger darum, durch besondere Leistungen aufzufallen. Als positiv im Sinne der Diskussion um die Wetzlarer Anwälte als Leistungselite wertet Klass jedoch das überwiegend an aufgeklärten Universitäten absolvierte Studium.

In einem dritten großen Schwerpunkt untersucht Klass die Form der Graduierung. Er trifft knappe, allgemeine Aussagen zum Disputations- und Dissertationswesen im 17. und 18. Jahrhundert, unterscheidet verschiedene Arten der Disputation und stellt die Dissertationsthemen der Anwälte kurz vor. Die meisten Kandidaten befassten sich mit dem Ius civile (S. 44), Miscellanea (S. 34), Ius publicum (S. 27) und Kameralrecht (S. 22). Klass konstatiert neben der zeitlichen eine bemerkenswerte fachspezifische Zielgerichtetheit bei der Ausbildung der späteren Anwälte. Diese sieht er darin, dass sie sich bereits bei den Promotionsthemen auf zu erwartende Schwerpunkte ihrer späteren Tätigkeit konzentrierten, das Strafrecht dagegen weitgehend vernachlässigten. Seine titelgebende Frage erneut aufgreifend, ob die Wetzlarer Anwälte als „Leistungs- oder Standeselite“ anzusehen seien, argumentiert er angesichts der zügigen Ausbildung und der praxisorientierten Dissertationsthemen für ersteres.

Ein vierter, ebenfalls sehr kurz gehaltener Abschnitt beschäftigt sich mit dem Praktikum am Reichskammergericht. Klass weist für 139 der 159 auswertbaren Anwälte ein entsprechendes Praktikum in Wetzlar nach. 20 von ihnen legten dieses an anderen Orten wie Göttingen, Wien, Mainz oder Köln ab, einige Bewerber absolvierten mehrere Praktika. Dieser Befund erstaunt insofern, als seit 1672 von allen späteren Anwälten ein Praktikum im Kameralprozess verbindlich gefordert wurde. Klass stellt richtig fest, dass das Kameralrecht an den anderen Orten kaum so tiefschürfend wie in Wetzlar studiert werden konnte, hat aber keine Belege dafür, dass ein andernorts absolviertes Praktikum der späteren Karriere hinderlich war. Auch ein kürzeres als das vorgeschriebene zweijährige Praktikum, scheint keine nachteiligen Folgen gehabt zu haben: wurden die Kenntnisse im Spezialexamen als ausreichend erkannt, genügte dies als Ausbildungsnachweis. Klass kann Beispiele für den Inhalt des Praktikums beibringen und findet zudem ein wichtiges Argument gegen die weitverbreitete (falsche!) Sicht von der Rückständigkeit des Reichskammergerichts – Praktika an der Göttinger Reformuniversität wurden offenbar gleichberechtigt neben dem am Gericht akzeptiert.

In einem letzten großen Schwerpunkt widmet sich Klass der Bewerbung, Aufnahme und Karriere am Reichskammergericht. Er konstatiert, dass das Durchschnittsalter der Anwälte bei Ablegung des Generalexamens im Verlauf des 18. Jahrhunderts stetig sank: 110 der 189 nachweisbaren Anwälte waren bei Ablegung des Generalexamens zwischen 24 und 28, 40 weniger als 24 Jahre alt. Wichtig ist seine Untersuchung zu Mindestvoraussetzungen für eine Zulassung als Anwalt. Dabei stellt er anhand einer Untersuchung der nichtangenommenen Kandidaten heraus, dass die Qualität der Ausbildung in jedem Falle wichtiger war als die Herkunft, auch wenn die Anzahl der Prokuratorensöhne, die selbst Anwalt am Reichskammergericht wurden, im Laufe des 18. Jahrhunderts stetig zunahm. Trotzdem hing auch die Zeitdauer zwischen Übernahme der Advokatur und Bestallung zum Prokurator nicht von familiären Beziehungen, sondern vom Bedarf am Gericht ab. Dies, obwohl der Kreis, aus dem sich die Anwaltschaft rekrutierte, sehr exklusiv war und teilweise bis zu vier Generationen am Reichskammergericht dienten. Insofern kann er in seiner Statistik über sozialen Aufstieg durch Übernahme der Anwaltschaft feststellen, dass von 53 Männern bereits frühere Generationen in Wetzlar gearbeitet hatten, 69 weitere aus dem Bildungsbürgertum stammten. Nur von zehn Anwälten entstammten die Väter dem niederen Gerichtspersonal, 31 weitere kamen aus dem mittleren, acht aus dem Wetzlarer Bürgertum. Diese Einteilung ist nicht wirklich aussagekräftig, da Klass seine Entscheidungskriterien zwischen niederem, mittleren, Wetzlarer und Bildungsbürgertum nicht vorstellt und begründet.

In einer knappen Schlussbetrachtung fasst Klass seine Ergebnisse zusammen und diskutiert sie. Er betont die hohen akademischen Anforderungen, die das Reichskammergericht an seine Anwälte stellte: Studium an einer ordentlichen Universität, Erwerb eines juristischen Grades, Praktikum am Gericht und die Ablegung des General- und Spezialexamens. Die „richtige Abstammung“ erkennt er dabei als „hilfreich, aber nicht notwendig“ (S. 195) Trotzdem entstand im Laufe der Jahrzehnte eine Oligarchie der Anwälte am Reichskammergericht, in die Außenstehende nicht leicht vordringen konnten. Ausbildung und Familie wurden somit zu konstitutiven Faktoren, die die Karriere der Anwälte bestimmten. Nach Abwägung aller Argumente kommt Klass zu der Schlussfolgerung, dass die Anwälte „eine Standeselite mit einer ausgesprochen hohen fachlichen Qualifikation“ waren. Bei dieser Schlussfolgerung hätte er es belassen sollen. Doch in der anschließenden Diskussion führt er neue Thesen ein und charakterisiert den Gerichtshof als „Regulierungs- und Überwachungsbehörde“. Diese Schlussfolgerung ist mindestens ebenso überzeichnet wie die vom „beamtenähnlichen“ Dienstverhältnis.

Neben diesem Drang zur allzu kühnen These ist Klass vorzuhalten, dass er einige seiner entscheidenden Quellen zu positivistisch interpretiert. Hatte Sigrid Jahns für die Wetzlarer Assessoren mehrfach verdeutlicht, dass die im Generalexamen gemachten Angaben besonders zum Beruf des Vaters und zur Dauer der Universitätsausbildung teilweise bewusst gefälscht wurden und ihnen nicht ungeprüft geglaubt werden darf, so ignoriert Klass diese Warnung weitestgehend. Die Tatsache, dass nahezu ein Drittel der Anwälte ihr Praktikum bei ihrem Vater absolviert hatte, verleitet ihn nicht zu der dringend notwendigen Diskussion über Inhalt und Form eines solchen Praktikums, ob es überhaupt absolviert und die geforderte Dauer eingehalten wurde oder ob der Vater nicht im Sinne eines schnelleren Fortkommens und der ökonomischen Unabhängigkeit des Sohnes bewusst die Unwahrheit angab. Gleiches gilt für die fehlende Diskussion, ob die voruniversitäre Ausbildung in Wetzlar wirklich als Universitätsstudium gewertet werden kann. Seine Quellenbasis, vor allem für die Anwälte zu Beginn der Wetzlarer Periode, hätte Klass möglicherweise durch die Verwendung der online zugänglichen Datenbank der Forschungsstelle für Personalschrifttum in Marburg erweitern können 3. Dort hätte er gegebenenfalls Aufschluss über die von ihm in Wetzlar und Limburg vergeblich gesuchten Leichenpredigten erhalten.

Insgesamt darf man feststellen, dass die Arbeit von Andreas Klass eine erhebliche Lücke in unserem Wissen über die Anwälte am Reichskammergericht schließt. Der Verfasser argumentiert klar, kommt immer wieder zu der eingangs formulierten Problemstellung zurück und hat die verfügbaren Quellen gut ausgewertet. Dadurch sind wir nun über Ausbildung und Zulassung dieser wichtigen Juristengruppe gut informiert. Dem Buch wäre jedoch stellenweise eine gründlichere sprachliche und formale Überarbeitung (Blocksatzlücken, Druckfehler, fehlender Index) zu wünschen gewesen. Inhaltlich hätten insgesamt die Vergleichsmöglichkeiten zur Arbeit von Sigrid Jahns besser genutzt werden müssen, um die Unterschiede zwischen Assessoren und Anwälten herauszuarbeiten und der Diskussion um Standes- oder Leistungselite weitere wichtige Aspekte hinzuzufügen. Inspiration für die weitere Forschung vermittelt der verdienstvolle und umfangreiche biographische Katalog der Anwälte während der Wetzlarer Zeit des Reichskammergerichts, den er in einem zweiten Hauptteil veröffentlicht.

Anmerkungen:
1 Rudolf Smend, Das Reichskammergericht. Geschichte und Verfassung, (Quellen und Studien zur Verfassungsgeschichte des Deutschen Reiches in Mittelalter und Neuzeit IV, 3), Weimar 1911.
2 Sigrid Jahns, Das Kammergericht und seine Richter. Verfassung und Sozialstruktur eines höchsten Gerichts im Alten Reich (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, 26), Köln 2003.
3 www.uni-marburg.de/fpmr.

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