C. Schulze: Frühkonstitutionalismus

Titel
Frühkonstitutionalismus in Deutschland.


Autor(en)
Schulze, Carola
Erschienen
Baden-Baden 2002: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
142 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rainer Schmidt, Institut für Politikwissenschaft, TU Dresden

Schon seit einigen Jahren gibt es ein wachsendes Interesse an Verfassungsfragen. Zahlreiche Publikationen und Veranstaltungen, die sich mit den neuen Verfassungsstaaten und den Anforderungen an die etablierten Verfassungen befassen, legen davon beredtes Zeugnis ab. Dies ist als Renaissance zu deuten, war doch das Interesse an den Verfassungen vor der Transformation der ostmitteleuropäischen Staaten nahezu erlahmt. Auch in Deutschland ist durch die Verfassungen der neuen Länder und die Verfassungsdebatte nach der Vereinigung Leben in die Debatte gekommen. Und zur Zeit geschieht dies durch die Verfassung der Europäischen Union. Weitgehend ausgespart wurde dabei die frühe deutsche Verfassungsgeschichte, zu der problemgeschichtlich, machtanalytisch, kurz: politikwissenschaftliche Analysen neueren Datums weiterhin fehlen. Gemeint ist die Phase des Frühkonstitutionalismus, also die Zeit vor 1848. Denn die Paulskirchenverfassung selber wurde durchaus, besonders bei der 150-Jahr-Feier, auch einer breiteren Öffentlichkeit durch Publikationen, Ausstellungen, Sonderbeilagen in Zeitungen etc. ins Gedächtnis gerufen. Um es vorwegzunehmen: auch die Studie von Carola Schulze schließt diese Lücke nicht.

Die Beschäftigung mit dem Frühkonstitutionalismus ist ein schwieriges Unterfangen. Es gilt in der Darstellung der großen Vielzahl von Einzelverfassungen der Länder, der Entwürfe für einzelne Städte den Zusammenhang trotz notwendiger Differenzierung aufzuzeigen und das über einen Zeitraum von über fünfzig Jahren. Gleichzeitig gibt es zahlreiche Brüche in der Entwicklung, und schließlich will neben der Verfassung auch die Verfassungspraxis berücksichtigt werden. Dazu wird der Leser gerne auch etwas über die Verfassungstraditionen erfahren und über welche Wege der Rezeption unterschiedliche Vorstellungen aus den Vorzeigekonstitutionalismen Englands, Frankreichs und der Vereinigten Staaten in die einzelnen Verfassungen und Verfassungsentwürfe des Frühkonstitutionalismus eingeflossen sind. Der schlanken Studie von Carola Schulze, die gerade einmal 130 Textseiten umfasst, blieb keine andere Wahl, als notwendige Einschnitte vorzunehmen. Doch warum sie gerade dort kürzte, wo es den größten Bedarf an interessanten neuen Studien gibt, leuchtet nicht so recht ein. Trotz der interessanten Ankündigung, der Lasalleschen These zu folgen, dass „Verfassungsfragen ursprünglich nicht Rechts-, sondern Machtfragen darstellen“ (Vorwort) bleibt es bei einer Verfassungsgeschichte, wie sie umfangreicher und systematisch geschlossener an anderer Stelle schon vorgelegt wurde. Hier ist besonders an die Studien zur Verfassungsgeschichte von Dieter Grimm und Hans Boldt zu denken 1.

Und so entscheidet sich Carola Schulz denn auch nicht dazu, die „Machtfragen“ zu beleuchten, als vielmehr, die Einzelverfassungen in ihrer Besonderheit zu besprechen und dies in den Mittelpunkt zu stellen. Da wären: Westfalen (S. 40ff.), Bayern (S. 45), Großherzogtum Berg (S. 46), Sachsen-Weimar-Eisenach (S. 66ff.), Baden (S. 72ff.), Württemberg (S. 78ff.), Kurhessen (S. 85ff.), Sachsen (S. 91ff.), Hannover (S. 97). Den einzelnen Länderverfassungen folgt dann ein ausführlicher Teil über die Verfassungsentwicklung Preußens (S. 103-130). Diese Darstellungen der jeweiligen Besonderheiten der einzelnen Länder werden eingerahmt durch kurze schlaglichtartige Darstellungen zur politischen Situation der Zeit, mit übersichtlichen Zeittafeln versehen. Kurz und knapp kann sich jeder auf wenigen Seiten über die Besonderheiten der jeweiligen Länderverfassungen informieren. Die ersten zwanzig Seiten sind so umfangreichen Fragekomplexen gewidmet wie der kompletten Verfassungstradition, dem Verfassungsbegriff, den Verfassungstypen und Verfassungskonzepten. Hier werden die englische, die französische und die amerikanische Tradition auf zusammen nicht einmal drei Seiten Text abgehandelt und die „Entwicklung der Verfassungstaatlichkeit in Deutschland“ erhält nicht einmal eine komplette Seite. Dort, wo die Autorin den Machtfragen thematisch am nächsten hätte kommen können, begnügt sie sich mit allgemeinen Hinweisen. Gemeint ist das Kapitel mit der Überschrift „Verfassungsdiskurs“. Dies ist auch wiederum viel zu knapp und begnügt sich mit dem allgemeinen Hinweis, dass der Liberalismus von „Pufendorf, Locke, Montesquieu, Rousseau und Kant“ (S. 27) vorbereitet worden sei und geht in die Falle, auf die neben dem an einigen Stellen zitierten Preuß auch der nicht berücksichtigte Blänkner hingewiesen hat, dass es für den Konstitutionalismus – und auch für den Frühkonstitutionalismus - keineswegs zutreffend ist, ihn mit dem Liberalismus gleichzusetzen. Denn gerade die in dem Topf des Liberalismus gelandeten Locke und Rousseau stehen doch jeweils für ganz unterschiedliche Ordnungsvorstellungen, wie es eben nicht nur in der Federalist-Antifederalist-Debatte in der Verfassungsgebung der Vereinigten Staaten offenbar wurde, sondern auch in der Phase des Frühkonstitutionalismus. Ebenso wie die Federalists haben die deutschen Verfassungsgeber sich von Rousseau abgewandt, der mit dem Konzept der Volkssouveränität für die Turbulenzen der Französischen Revolution verantwortlich gemacht wurde. Viel stärker waren die Traditionen, die eine Anlehnung an das englische Modell forderten oder dem Republikanismus-Konzept Kants folgten, einen um seine demokratische Komponente beraubten Rousseau.

Es wäre unfair, diese kurze, von anderen schon vorgelegte Ergebnisse zusammenfassende Arbeit über die deutsche Verfassungsgeschichte mit diesen ganzen Fragen zu belasten, wenn die Autorin nicht selber den Anspruch formuliert hätte, den Machtfragen nachzugehen. Und Machtfragen geht man doch wohl am besten dort nach, wo Deutungsmacht mit Verfügungsmacht verbunden ist. So bleibt sie, was das bearbeitete Material und die schlichte Methode betrifft, hinter den selbstgesteckten Erwartungen zurück. Kein Wort von Verfassungsfeiern, von der Symbolik der Verfassung, von der Bedeutung der Schriftlichkeit der Verfassung, von der Umstrittenheit der Verfassung, den Allianzen zwischen Bürgertum und Monarchie an einigen Stellen, die an anderen wieder aufgelöst werden usw.
Sieht man von kleineren Fehlern ab (aus Hans Vorländer wird durchgängig H. Vorläufer), ist diese Synopse aus anderen Studien für diejenigen ein Gewinn, die sich auf wenigen Seiten über die einzelnen Länderverfassungen im Vormärz erkundigen wollen. Hier werden die Besonderheiten herausgearbeitet und kurz und knapp dargestellt, mit übersichtlichen Zeittafeln versehen, die durchaus hilfreiche Handreichungen sein können. Die übrigen Dinge findet man an anderer Stelle 2 auf jeweils unterschiedliche Art ausführlicher und problemorientierter unter unterschiedlichen systematischen Fragestellungen behandelt.

Anmerkungen
1 Grimm, Dieter: Deutsche Verfassungsgeschichte 1776-1866. Vom Beginn des modernen Verfassungsstaates bis zur Auflösung des Deutschen Bundes, Frankfurt a.M. 1988; Boldt, Hans: Deutsche Verfassungsgeschichte. Politische Strukturen und ihr Wandel, Band 2: Von 1806 bis zur Gegenwart, München 1990.
2: Blänkner, Reinhard: Integration durch Verfassung? Die ‚Verfassung’ in den institutionellen Symbolordnungen des 19. Jahrhunderts in Deutschland, in: Hans Vorländer (Hg.): Integration durch Verfassung, Opladen 2002, S.207-231; ders: Deutsche Staatslehre im Vormärz, Düsseldorf 1975; Boldt, Hans: Verfassungsgeschichte 2 (wie Anm. 1); Grimm, Dieter: Die Zukunft der Verfassung, Frankfurt a.M. 1991; ders: Verfassungsgeschichte (wie Anm. 1); Preuß, Ulrich K.: Zum Begriff der Verfassung, Frankfurt a.M. 1994; Stolleis, Michael: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2: Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft 1800-1914, München 1992; Vorländer, Hans: Die Verfassung. Idee und Geschichte, München 1999; Fenske, Hans: Der moderne Verfassungsstaat, Paderborn 2001.