P. Winzen: Daily-Telegraph-Affäre

Titel
Das Kaiserreich am Abgrund. Die Daily-Telegraph-Affäre und das Hale-Interview von 1908. Darstellung und Dokumentation


Autor(en)
Winzen, Peter
Reihe
Historische Mitteilungen, Beih. 43
Erschienen
Stuttgart 2002: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
369 S.
Preis
€ 90,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Manfred Hettling, Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Die Erfahrung, wie leicht außenpolitisches Porzellan zerschlagen werden kann, ist seit Herta Däubler-Gmelins historischem Vergleich in einer Wahlkampfveranstaltung im September 2002 mit beklemmender Eindringlichkeit aktualisiert worden. In der deutschen Geschichte lieferte das paradigmatische Vorbild für das publizistische Torpedieren außenpolitischer Vernunft Wilhelm II. mit seinem berühmt-berüchtigten Daily-Telegraph-Interview von 1908.

Am 28. Oktober veröffentlichte der Daily-Telegraph einen Artikel, in welchem ausführlich über ein Gespräch mit Wilhelm II. berichtet wurde, in dem dieser sich über das deutsch-englische Verhältnis ausgelassen hatte. Wilhelms Äußerungen wurden in Interview-Form gebracht - und zündeten wie eine Bombe. Einerseits war der Artikel vom Kaiser und vom Reichskanzler abgesegnet worden, andrerseits entzündete sich in der deutschen Öffentlichkeit sogleich ein Sturm der Entrüstung. Die Affäre war da. Als solche ist sie bis heute im Bewusstsein geblieben - und dient in der Regel als Beleg für das unkalkulierbare und bestenfalls abstruse politische Verhalten Wilhelms II. Dass in dieser Affäre jedoch weit tiefer liegende Strukturprobleme der politischen Verfasstheit des Kaiserreiches und seiner politischen Eliten erkennbar werden - das zeigt die beeindruckende und mustergültige Edition von Peter Winzen, der zudem in einer 70-seitigen Einleitung den Sachverhalt präzise darstellt und die vielfältigen Verflechtungen offen legt. Klar wird, die Affäre von 1908 mehr als ein publizistisches Malheur war - sie war Indikator wie Faktor jener militärpolitischen Risikostrategie und außenpolitischen Isolierung, die 1914 zum Krieg führten.

Die Dokumente, die sowohl die innerdeutsche Perspektive als auch die außenpolitischen Reaktionen nachvollziehbar machen, offenbaren einerseits die aggressiven und rassistischen Denkkategorien Wilhelms, die sich andrerseits auf fatale Weise verbanden mit einem politischen Dilettantismus auf Seiten des Kaisers und der Regierungsbürokratie. Lang vorbereitete Gespräche mit englischen und amerikanischen Journalisten führten zu zwei Artikeln, dem Daily-Telegraph-Interview und dem Hale-Interview (einem Gespräch Wilhelms mit dem amerikanischen Journalisten Hale am 19. Juli 1908). Dieses erschien zwar nicht, und eine - zuerst durch die Reichsregierung autorisierte - entschärfte Fassung wurde Ende November sogar von Hale als nicht authentisch deklariert. Das erwies sich aber nur als vermeintlich erfolgreiche Schadensbegrenzung der deutschen Politik. Denn die Langfassung des Hale-Interviews hatte schon lange die Regierungen der außenpolitischen Gegenspieler erreicht.

Beide Interviews zusammen bilden die eigentliche Affäre, die man in einen außenpolitischen und einen innenpolitischen Strang trennen kann. Die Äußerungen Wilhelms waren in sich widersprüchlich - einmal stellte er sich als Englandfreund dar, im nächsten Gespräch prophezeite, ja erhoffte er einen Krieg mit England - zum andern offenbarte er geheime diplomatische Vorhaben, gab den Engländern, die "verdreht wie Märzhasen" seien (S. 117), von oben herab Ratschläge und schwadronierte von der weißen Rasse, vor allem den anglo-teutonischen Völkern, die aus dem Norden Europas kämen; vor allem aber warnte er vor der "gelben Gefahr". Die Zukunft, so Wilhelm II., "belongs to us [...] We are the only race who can save it. There is no power in any other civilization or any other religion that can save humanity" (aus dem Gespräch mit Hale, S. 359). Da die ausländischen Regierungen davon ausgingen, dass die deutsche Außenpolitik weitgehend vom Kaiser bestimmt würde, führten diese Stellungnahmen zu einer nachhaltigen Verschiebung des Deutschlandbildes. Der Glaube an die Friedfertigkeit der deutschen Politik schwand, die Angst vor dem als mächtig aber unberechenbar eingeschätzten Deutschland stieg. Wenn Wilhelm II. einem fremden Journalisten gegenüber derartige Äußerungen mache, so der amerikanische Präsident Roosevelt, dann sei es auch möglich, dass er bei anderen Gelegenheit in einer Weise handeln würde, "that would jeopardize the peace" (S. 75). In England führte das zur selben Zeit zu einer eindeutigen Annäherung an Frankreich. Man kann das auch so formulieren: die von deutscher Seite immer wieder beschworene Angst, außenpolitisch isoliert und von Gegnern eingekreist zu sein, war in erheblichem Ausmaß ein Resultat der eigenen Politik. Dass Bülow einen Nervenzusammenbruch erlitt, als er von dem Interview erfuhr, spricht in diesem Fall deshalb für ihn.

Innenpolitisch war vor allem das Daily-Telegraph-Interview folgenreich. Denn Wilhelm II. rechtfertigte hier u.a. den Flottenbau damit, dass Deutschland gerüstet sein müsse, für das Ringen im Pazifik und prognostizierte den Engländern, sie würden eines Tages froh sein, wenn Deutschland "in den großen Völkerdebatten der Zukunft" auf ihrer Seite stünde (S. 123). Vor allem aber verkündete er geradezu stolz, er sei Englands Freund - im Gegensatz zur Mehrheit der deutschen Bevölkerung. Doch diese englandfreundliche Minderheit in Deutschland sei eine "Minderheit der besten Elemente" (S. 118). Die Folgen innerhalb Deutschlands sind bekannt - es entstand eine wochenlange Pressekontroverse über die Äußerungen und die Position des Kaisers, die in eine Reichstagsdebatte vom 2./3.12.1908 mündete. Veränderungen im politischen Verfassungsgefüge erwuchsen hieraus jedoch nicht. Zwar schrieb ein kluger Diagnostiker wie Friedrich Naumann, die Affäre habe "endgültige Zweifel" an der Fähigkeit Wilhelms II. offenbart, einen großen Staat zu regieren. Doch sogleich schob Naumann die Beteuerung nach, nichts liege ihm und seiner Partei ferner, "als grundsätzlich gegen die monarchische Macht zu sein" (S. 179). So blieb es bei dem Appell an Wilhelm, fortan auf seine "persönliche Politik" (S. 181) zu verzichten.

Das Ergebnis ist bekannt. Ähnliche Desaster unterblieben in den verbleibenden Jahren, doch die prinzipiellen Strukturfehler wurden nicht beseitigt. Die Parlamentarisierung der Regierung kam nicht voran, und der Übergang zu Bethmann-Hollweg verringerte nur das "gouvernementale Chaos" (S. 90) der Bülow-Ära, veränderte aber nicht das System an sich. Im Innern verblasste zwar der Kaisermythos (was dann vor allem nach 1914 schnell offenkundig wurde), doch parallel stieg die Wahrnehmung einer internationalen Ausgrenzung und wuchs das Unbehagen darüber und zugleich vergrößerte sich die Bereitschaft, die Zukunftsprobleme mit Waffengewalt zu lösen.

Deshalb - und das macht Winzen überzeugend deutlich - gehört die Daily-Telegraph-Affäre nicht zu den politisch folgenlosen Skurrilitäten des Kaiserreichs und man sollte sich hüten, sie gleichsam in die Ecke der Operettenhaftigkeit des Wilhelminismus abzulegen. Vielmehr stellt sie einen "Kristallisationskern" (S. 91) für 1914 dar. Die vorliegende Quellendedition und die luzide Einleitung verdeutlichen die ungelösten Strukturprobleme des Kaiserreichs und verweisen auf die spezifische Konstellation, die den 'Griff nach der militärischen Option', den die deutschen Eliten 1914 favorisierten, ermöglichten.

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