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Titel
Die Nachkriegsdeutschen und "ihre Zigeuner". Die Behandlung der Sinti und Roma im Schatten von Auschwitz


Autor(en)
Margalit, Gilad
Reihe
Dokumente, Texte, Materialien 36
Erschienen
Berlin 2002: Metropol Verlag
Anzahl Seiten
304 S.
Preis
€ 19,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Holler, Fachbereich Geschichte, Freie Universität Berlin

Gilad Margalit lehrt neueste deutsche Geschichte an der Universität Haifa. Einer seiner Forschungsschwerpunkte, der sich bereits in seiner Dissertation und einigen Aufsätzen 1 niederschlug, ist die Einstellung der Deutschen zu den Sinti und Roma und deren Verfolgung im Dritten Reich. „Die Nachkriegsdeutschen und ‚ihre Zigeuner’“ stellt insofern eine Art erweiterte Zusammenfassung seiner langjährigen Forschungsarbeit dar.

Schwerpunkt der systematischen Untersuchung ist die „Zigeunerpolitik“ nach 1945 auf den gesellschaftlichen Ebenen der Bundes- und Landespolitik, dem Behörden- und Verwaltungswesen sowie der Justiz. Die Darstellung umfasst die gesamte Nachkriegsperiode bis zum Jahr 1991. Vorangestellt sind zwei einleitende Kapitel über die sechshundertjährige Geschichte der Sinti (und später auch der Roma) im deutschsprachigen Raum. Die intensive Quellenarbeit beschränkt sich indes im Wesentlichen auf den Zeitraum von 1945 bis 1960. Margalit recherchierte zahlreiche Dokumente der amerikanischen Militärregierung (OMGUS), der Polizei-, Justiz- und Wiedergutmachungsbehörden einzelner Bundesländer sowie die Sitzungsprotokolle der verschiedenen Landtagsausschüsse in Bayern, Baden-Württemberg und Hessen. DDR-Dokumente werden nur sporadisch angeführt.

Auf der sprachlichen Ebene der Arbeit fallen zwei unangenehme Aspekte ins Auge. Zum einen löst Margalits Festhalten am Begriff „Zigeuner“ zur ethnischen Bezeichnung der Sinti und Roma Unbehagen aus, auch wenn der Autor versichert, dies „ohne abwertende Absicht oder Unterton“ zu tun (S.13). Zum anderen wird das Verständnis einiger Standpunkte des Autors durch vereinzelte Unschärfen in der Terminologie, welche auf eine nicht sehr fachkundige Übersetzung aus dem Hebräischen schließen lassen, erschwert. So werden etwa die Begriffe „Massenmord“ und „Völkermord“ bisweilen synonym gebraucht, obwohl gerade darin ein wichtiges Unterscheidungskriterium innerhalb der Diskussion um den Opferstatus der Sinti und Roma sowie der Vergleichbarkeit von Porrajmos und Shoah liegt. 2

Inhaltlich problematisch sind die beiden einleitenden Kapitel über kollektive „Zigeunerbilder“ und „deutsche Zigeunerpolitik“ vom 15. Jahrhundert bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Margalit unterscheidet zwischen traditionellen romantischen Motiven und negativen Stereotypen. Dabei übersieht er allerdings, dass auch die vermeintlich positive „Zigeunerromantik“ mit sozialen und selbst religiösen antiziganistischen Stereotypen aufgeladen war und somit wesentlich zur Vorurteilsbildung beitrug, wie inzwischen in einigen wissenschaftlichen Arbeiten nachgewiesen werden konnte. 3

Eine eigenartige Form „rassistischer Zigeunerromantik“, die Heinrich Himmler vertrat, führt Margalit ins Feld, um seine These von der im Vergleich zum jüdischen Völkermord inkonsequenten und zweitrangigen NS-„Zigeunerverfolgung“ zu untermauern. Die skurrilen Pläne Himmlers und seiner SS-eigenen Forschungsstelle „Ahnenerbe“, sog. „reinrassige Zigeuner“ - nach Robert Ritters pseudowissenschaftlichen Forschungsergebnissen etwa zehn Prozent aller „Zigeuner“ - von den Verfolgungen auszunehmen und in einem Reservat anzusiedeln, weil sie als „Ur-Arier“ anzusehen seien, wurden von Martin Bormann bereits im Dezember 1942 zu Fall gebracht. Und auch die wenigen Ausnahmen, die der „Reichsführer SS“ in seinen Ausführungsanweisungen machte, wurden in der Praxis ignoriert. 4 Darüber hinaus mussten sich die wenigen Sinti und Roma, die von der Deportation nach Auschwitz ausgenommen wurden, einer „freiwilligen Sterilisation“ unterziehen lassen, was einem verzögerten Völkermord gleichkam.

Margalit ist dennoch der Ansicht, es gebe „keine Belege dafür, dass die SS 1943 geplant oder beabsichtigt hätte, die aus Deutschland und anderen Ländern nach Auschwitz gebrachten Zigeuner wie die Juden physisch zu vernichten“. (S.73) Die Ermordung durch Gas sei zunächst sogar ausdrücklich ausgeschlossen worden. Ferner seien die Haftbedingungen im „Zigeunerlager B II e“ anfangs wesentlich günstiger gewesen. An dieser Stelle deckt sich Margalits Argumentation mit den zweifelhaften Positionen Guenter Lewys. 5 Tatsächlich jedoch war die Vernichtungsintention der Deportation nach Auschwitz von Anfang an immanent, was sich unter anderem darin äußerte, dass die Mehrzahl der Insassen bereits vor der Liquidierung des Familienlagers im August 1944 ums Leben gekommen war, sei es durch Hunger, unmenschliche hygienische Bedingungen oder medizinische Experimente. 6 Grundlage der nationalsozialistischen „Zigeunerpolitik“ war somit in jedem Fall die Vernichtungsintention.

Im Hauptteil der Arbeit (Kap. III-VIII) analysiert Margalit die Einstellung der Deutschen zur NS-„Zigeunerverfolgung“ und deren Einfluss auf das Verhalten gegenüber Sinti und Roma nach dem Krieg. Eine ernüchternde Erkenntnis Margalits besteht darin, dass die Aufdeckung der Verbrechen bei der deutschen Bevölkerung keinerlei Schuldgefühle auslöste. Während auch die alliierten Militärregierungen ihr Interesse vornehmlich auf jüdische und politische Opfer richteten, betrachteten die deutschen Innenbehörden und Sicherheitsorgane die „Zigeunerfrage“ nach wie vor unter rein kriminalpräventiven Aspekten, wofür Margalit ungebrochene Vorurteile vom „asozialen“ und kriminellen „Landfahrer“ verantwortlich macht. Die Folge war – trotz offizieller Gleichheit - eine grundrechtliche Diskriminierung der Sinti und Roma, die in der bayerischen „Landfahrerordnung“ von 1953 ihren deutlichen Ausdruck fand.

Auch die anfängliche Anerkennung der Sinti und Roma als NS-Verfolgte geriet Anfang der 50er Jahre ins Wanken. Die Konstanz des Zerrbildes vom „asozialen Zigeuner“ sowie der Rücktritt leitender jüdischer Beamter führten dazu, so Margalit, dass die Sinti und Roma auch bei Hilfs- und Entschädigungsanträgen immer rigoroser diskriminiert wurden: „Im Gegensatz zu allen eindeutig als NS-Verfolgte anerkannten Naziopfern waren die Zigeuner gezwungen, spezielle Nachweise beizubringen, die für ihr Recht auf Entschädigung oft gar keine Bedeutung hatten“ (S.160). Dazu gehörte in erster Linie das Koppeln der Zahlungen an einen „ständigen Wohnsitz“ und einen „festen Arbeitsplatz“.

Juristisch etabliert wurde die ohnehin schon praktizierte Diskriminierung durch das Bundesentschädigungsgesetz von 1953 und das drei Jahre später folgenden Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofes. Unter Berufung auf Michael Zimmermann 7 widerlegt Margalit den darin vertretenen Standpunkt, es habe sich bei der von den Nationalsozialisten postulierten „Bekämpfung der Zigeunerplage“ bis zu Himmlers „Auschwitzerlass“ vom 16.12.1942 noch nicht um eine rassische Verfolgung gehandelt. Etwas knapp geraten ist im selben Kapitel über „Die Einstellung der bundesdeutschen Justiz zur Zigeunerverfolgung“ allerdings die Darstellung der harmlosen Strafverfahren gegen ehemalige NS-Täter wie Robert Ritter, der sich als Leiter der „Rassenhygienischen und Erbbiologischen Forschungsstelle des Reichsgesundheitsamts“ für die Erfassung und „erbbiologische Begutachtung“ aller „Zigeuner“ verantwortlich zeigte. 8 Auf der Ebene der politischen Kultur der BRD unterscheidet Margalit zwischen einem öffentlichen und einem halböffentlichen Diskurs über Sinti und Roma innerhalb der deutschen Nachkriegsgesellschaft. In geschlossenen Sitzungen der Landtagsausschüsse etwa sind immer wieder deutlich rassistische Ausfälle anzutreffen, die in der Öffentlichkeit verschleiert formuliert werden.

Um den öffentlichen Diskurs über die Verfolgung der Sinti und Roma nach 1945 zu kategorisieren (Kap.VII), entwirft Margalit eine eigene Terminologie, indem er zwischen „nazistischen“, „quasi-jüdischen“ und „synkretischen“ Narrativen unterscheidet. Das „nazistische“ Narrativ werte dabei die NS-Verfolgung der „Zigeuner“ als legitime Verbrechensbekämpfung und streite den Betroffenen ihren Opferstatus ab. Das genaue Gegenteil vertrete das „quasi-jüdische“ Narrativ, das die Sinti und Roma als unschuldige Opfer eines Verbrechens ansehe und damit den jüdischen NS-Opfern gleichstelle. Das synkretische Narrativ schließlich vereinbare die Elemente beider vorangegangenen, sich widersprechenden Anschauungen. Die nationalsozialistischen Verbrechen werden als solche gebrandmarkt und moralisch verurteilt, gleichzeitig jedoch wird den Betroffenen eine gewisse Mitverantwortung durch angeblich „asoziales“ oder „kriminelles“ Verhalten unterstellt.

Margalit ist der Ansicht, die Anfang der 80er Jahre einsetzende wissenschaftliche und gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Verfolgung der Sinti und Roma im „Dritten Reich“ und ihrer Anerkennung als Opfer eines rassistisch motivierten Völkermordes (= „quasi-jüdisches“ Narrativ) trage rein ideologisch-instrumentellen Charakter. Tatsächlich richte sich die Diskussion insgeheim gegen den Status der jüdischen Opfer, indem die Einzigartigkeit der Shoah relativiert und in Frage gestellt werde: „Die ‚Spaltung’ des Holocaust in zwei Opfergruppen schien dem unbewussten Zweck zu dienen, die Last der Schuldgefühle gegenüber den jüdischen Opfern zu lindern und den Sonderstatus der Judenverfolgung und des Judenmordes im deutschen Kollektivbewusstsein zu verwischen“ (S. 279). Auffallend ist an diesem Zitat die Berufung auf das „Unbewusste“, derer sich Margalit im letzten Kapitel, dessen Überschrift „Die ‚Entdeckung’ der Zigeuneropfer und ihr Rang in der NS-Opferhierarchie“ lautet, häufiger bedient. Auf diese Weise verlässt er die rationale Argumentationsebene ernsthafter Geschichtswissenschaft und verfällt mehr und mehr in eine auf Vermutungen und ungerechtfertigte Unterstellungen gestützte Polemik. Die Aufarbeitung des Schicksals der Sinti und Roma war nach Jahrzehnten des Schweigens und der fortlaufenden Diskriminierung auch aus heutiger Perspektive überfällig. Darüber hinaus relativiert die Anerkennung einer lange missachteten NS-Opfergruppe in keiner Weise den Sonderstatus der an den Juden begangenen Verbrechen, sondern erhöht die Schuld der Täter um eine weitere Dimension. Insofern ist auch der Vorwurf an Detlef Peukert 9, mit seiner Definition des sozialen Rassismus als Leitprinzip der NS-Vernichtungspolitik das Leiden der jüdischen Opfer verdrängen zu wollen, unhaltbar (S.241).

Die politisierende Mutmaßung über den angeblich instrumentellen Hintergrund des „quasi-jüdischen“ Narrativs hätte wohl besser in ein Feuilleton gepasst. Davon abgesehen sollte die wissenschaftliche Leistung des Autors nicht in Frage gestellt werden. Gilad Margalit ist es auf breiter Quellenbasis geglückt, die Kontinuität antiziganistischer Vorurteile und die daraus resultierende Diskriminierung der Sinti und Roma im Nachkriegsdeutschland auf den verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen anschaulich zu machen. Damit ist eine erste Grundlage geschaffen, auf der kommende Arbeiten aufbauen können und werden 10, was auf die einführenden und abschließenden Kapitel (hoffentlich) nicht zutrifft.

Anmerkungen:
1 Z.B. Margalit, Gilad: Antigysyism in the Political Culture of the Federal Republic of Germany. A Parallel with Antisemitism?, in: Analysis of Current Trends in Antisemitism (ACTA), No.9, Jerusalem 1996; ders.: Sinti und andere Deutsche. Über ethnische Spiegelungen, in: Telaviver Jahrbuch für Geschichte, Band XXVI (1997), S.281-306.
2 Die Unterscheidung von Massenmord und Genozid ist für Yehuda Bauer grundlegend. Der NS-Mord an den „Zigeunern“ sei weder mit dem Ausmaß noch mit der Systematik der Judenvernichtung zu vergleichen, weshalb der Begriff „Völkermord“ auf Sinti und Roma nicht anwendbar sei. Vgl. Bauer, Yehuda: Die dunkle Seite der Geschichte. Die Shoah in historischer Sicht. Interpretationen und Re-Interpretationen, Frankfurt a.M. 2001.
3 Stellvertretend seien hier genannt: Hund, Wulf D. (Hgg.): Zigeunerbilder. Schnittmuster rassistischer Ideologie. Duisburg 2000; Solms, Wilhelm; Strauß, Daniel (Hgg.): „Zigeunerbilder“ in der deutschsprachigen Literatur, Heidelberg 1995.
4 Wippermann, Wolfgang: „Wie die Zigeuner“. Antisemitismus und Antiziganismus im Vergleich. Berlin 1997, S.166-167.
5 Vgl. Lewy, Guenter: „Rückkehr unerwünscht“. Die Verfolgung der Zigeuner im Dritten Reich, Berlin 2001.
6 Vgl. u.a. Kladivova, Vlasta: Sinti und Roma im „Zigeunerlager“ des KL Auschwitz-Birkenau 1.3.1943-2.8.1944, in: Dlugoborski, Waclaw: (Hgg.): Sinti und Roma im KL Auschwitz-Birkenau 1943-1944 vor dem Hintergrund ihrer Verfolgung unter der Naziherrschaft. Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau 1998, S.300-319; 317.
7 Zimmermann, Michael: Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische „Lösung der Zigeunerfrage“, Hamburg 1996.
8 Ausführlicher behandelt werden diese Aspekte in einer früheren Monographie: Hohmann, Joachim S.: Robert Ritter und die Erben der Kriminalbiologie. „Zigeunerforschung“ im Nationalsozialismus und in Westdeutschland im Zeichen des Rassismus, Frankfurt a.M. 1991.
9 Vgl. Peukert, Detlef J.K.: Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde. Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus, Köln 1982.
10 Einen Anfang macht Peter Widmann in einer sehr genauen Lokalstudie, die allerdings zeitgleich mit der deutschen Übersetzung von Margalits Buch erschien. Vgl. Widmann, Peter: An den Rändern der Städte. Sinti und Jenische in der deutschen Kommunalpolitik, Berlin 2001.

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