P. Voswinckel (Hg.): Biographisches Lexikon

Titel
Biographisches Lexikon der hervorragenden Ärzte der letzten fünfzig Jahre.


Herausgeber
Voswinckel, Peter
Anzahl Seiten
882 S.
Preis
€ 101,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Gradmann, Institut für Geschichte der Medizin, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Die deutsche Medizingeschichte pflegt bekanntlich eine ausgeprägte Liebe zur historischen Biografie. Dies zeigt sich in der für Außenstehende zuweilen etwas zwanghaft anmutenden Praxis, fast jedem historischen Ereignis ein Namensetikett zuzuordnen oder in der Galerie großer Ärzte, die dann als Essenz der Geschichte der Medizin erscheint. Diese bei Disziplingeschichten nicht selten zu beobachtende Praxis hat der Soziologe Robert K. Merton einmal als Eponymie bezeichnet und mit dem menschlich verständlichen Bedürfnis von Autoren erklärt, die Geschichte eines ihnen persönlich nahe liegenden Gegenstandes in personalisierter Form zu erzählen. In der Tat findet diese Beobachtung beispielsweise in der Wissenschaftsgeschichte der allgemeinen Geschichtswissenschaft ihre Bestätigung.

Unbeschadet aller denkbaren Kritik an solch perspektivischer Verkürzung der Disziplingeschichte auf die (Kollektiv)Biografie der Protagonisten bleibt festzuhalten, dass biografische Forschung in der Medizingeschichte einen herausragenden Stellenwert hat. Das gilt auch und gerade für prosopographische Werke und biografische Lexika. Indem diese Werke auf den Fundus des Wissens eines biografieverliebten Faches zurückgreifen, zeigt sich in ihnen nicht selten das Niveau der Disziplin. August Hirschs „Biographisches Lexikon der hervorragenden Ärzte aller Zeiten und Völker" (1884-1888), Julius Pagels „Biographisches Lexikon der hervorragenden Ärzte des 19. Jahrhunderts" (1901) und Isidor Fischers „Biographisches Lexikon der hervorragenden Ärzte der letzten fünfzig Jahre" (1932-1933) waren Spitzenleistungen der Medizingeschichte ihrer Zeit.

Das Werk Peter Voswinckels steht nicht nur in dieser Tradition, sondern ist - soviel sei vorweggenommen - ein biografisches Lexikon, das seinesgleichen sucht. Dabei ist der Aufbau ungewöhnlich und bedarf der Erläuterung: Das Werk ist als Ergänzung des 1932/33 erschienen Lexikons Isidor Fischers konzipiert. Von den über 7.800 darin behandelten Personen waren zum Zeitpunkt des Erscheinens 4.400 noch am Leben. Fischer selbst hatte Aktualisierungen des Lexikons geplant, konnte diese aber nicht ausführen. Er musste als österreichischer Jude 1938 emigrieren und starb 1943 in Bristol. Voswinckel hat nun diese 4.400 Lebensläufe fortgeschrieben, als einzige Ergänzung den Lebenslauf Isidor Fischers hinzugefügt und der Erste von zwei Ergänzungsbänden ist nunmehr erschienen.

Das Resultat ist mehr als biografisches Lexikon. Entstanden ist zugleich eine Prosopographie der scientific community der Medizin ab den frühen 1930er Jahren, die insbesondere die gewalttätige Umwandlung und Zerstörung der mitteleuropäischen akademischen Medizin in dieser Epoche grell hervortreten lässt. Betrachtet man, wie es Voswinckel in seiner ausführlichen Einleitung tut, die Geschichte dieser Personengruppe nach 1933, so wurden über 400 Personen als Juden in die Emigration gezwungen, deportiert oder ermordet, andere profitierten hiervon, sie übernahmen Praxen, Kliniken, Lehrbücher etc. Ganze 18 Prozent der laut Fischers Lexikon im ehemaligen Böhmen und Mähren geborenen Ärzte waren nach dem 2. Weltkrieg in der Tschechoslowakei noch anzutreffen! Das solcherart schon tief greifend veränderte medizinische Mitteleuropa wurde schließlich nach dem Zweiten Weltkrieg durch den Eisernen Vorhang geteilt.

Der Ermordung und Verdrängung fügte das Nachkriegsdeutschland noch eine doppelte Vergessensleistung hinzu: Wie Voswinckel nachweist, verschwanden die Emigrierten oder Ermordeten nicht selten aus den gängigen biografischen Nachschlagewerken, während in den Lebensläufen der im Lande Verbliebenen die Uniformen retuschiert, die Parteiabzeichen versteckt und etwa ‚arisierte' Lehrbücher jüdischer Verfasser oder Herausgeber weiter unter den Namen derjenigen erschienen, die sich ihre Texte angeeignet hatten.

Es ist auf diesem Hintergrund nur zu verständlich, dass der Verfasser sein Unternehmen wörtlich als Erfüllung einer „Bringschuld“ gegenüber Fischer bezeichnet und ganz wesentlich dem Andenken der Opfer gewidmet sieht. Dies kommt schon im Eingangsmotto Ernst Blochs über „Erinnerung als Mahnung, Hoffnung als Eingedenken“ zum Ausdruck und dominiert die Einleitung mit zahlreichen Tabellen, die die Vertreibung jüdischer Ärzte aus großen europäischen Städten und Ländern zum Thema haben.

Allerdings ist zu bedenken, dass die Leistung des Werkes in der Prosopographie einer Generation liegt, die beileibe nicht nur aus Opfern bestand. Sicher finden sich im Lexikon eher die 1930 schon Arrivierten, für Deutschland gesprochen also die so genannte Generation der Geheimräte. Entsprechend erscheint die Zahl derjenigen, die nach 1933 dem SS-Offizierkorps angehörten, mit 25 recht niedrig. Ausgesprochene Größen der NS-Medizin wie Conti oder Mengele fehlen ebenso wie der vielleicht bekannteste Medizinhistoriker des 20. Jahrhunderts, der im Frühjahr 1933 über Paris in die USA emigrierte Erwin H. Ackerknecht. Dennoch besteht an bekennenden Nationalsozialisten, Vordenkern der Ermordung geistig Behinderter, Profiteuren der Vertreibung und auch ausgesprochen verbrecherischen Ärzten kein Mangel. Ein Beispiel ist der Rasseforscher Eugen Fischer (1874-1967), der - wenn auch in seiner Haltung zum Nationalsozialismus ambivalent - das biologische Rasseverständnis der Nationalsozialisten entscheidend prägte; anders sieht die Sache bei Eugen Gildemeister (geb.1878) aus. Als geschäftsführender Direktor und Präsident des Robert Koch-Institutes von 1935 bis 1945 hatte er eine Zentralstellung in der humanexperimentellen infektiologischen Forschung an KZ-Insassen und Strafgefangenen inne und beging 1945 Selbstmord.

Bemerkenswert und für den kundigen Leser faszinierend ist, dass es der Verfasser gelegentlich nicht bei der einfachen Ergänzung des Fischerschen Textes belassen hat. Im Eintrag über Psychiater Alfred Hoche, einen der wichtigsten Vordenker der Ermordung geistig Behinderter, wird der fehlende Hinweis Fischers auf Hoches Schrift über die „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ von 1920 konstatiert. Den Verfasser traf eben erst nach dem Erscheinen von Fischers Werk der „Fluch der Nachwelt“ (Karl Jaspers) und sein Werk von 1933 erscheint heutzutage in einem völlig anderen Licht.

Erwähnt werden sollte, dass Voswinckels Buch praktisch nur zusammen mit Fischers Lexikon benutzbar ist. In Letzterem findet sich der Anfang jener Biografien, die bei Voswinckel fortgeführt sind. Das mag dem Leser bisweilen beschwerlich erscheinen, ist aber bei dem Umfang und Verbreitungsgrad des Fischerschen Lexikons, das in keiner medizinhistorischen Bibliothek fehlen dürfte, zu verschmerzen. Mit Voswinckels Werk hat die Forschung ein in seiner inhaltlichen Dichte faszinierendes, in der Gründlichkeit der Recherche vorbildliches und von seinem prosopographischem Gegenstand her überfälliges Werk erhalten, das in der zeitgeschichtlichen medizinhistorischen Forschung unverzichtbar werden dürfte. Bleibt nur zu wünschen, dass der zweite Band demnächst erscheint

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