Titel
Intellektuelle in der Frühen Neuzeit.


Autor(en)
Held, Jutta
Erschienen
München 2002: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
208 S.
Preis
€ 24.90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Albert Schirrmeister, Abteilung Geschichte, Universität Bielefeld

Die Humanisten waren keine Intellektuellen, meinte 1957 Jacques Le Goff in seinem grundlegenden Buch über die „Intellektuellen im Mittelalter“ (durch ein wichtiges forschungsgeschichtliches Vorwort ergänzt 1985) und begründete dies mit der veränderten sozialen Situation ebenso wie mit den veränderten kulturellen Praktiken und Mentalitäten der Gelehrten in der Frühen Neuzeit: Sie seien keine städtisch-universitären sondern höfische Gebildete, mehr Literaten als Wissenschaftler, mehr Gläubige als Rationalisten.1 Dem würden die meisten Historiker, die sich mit modernen Intellektuellen beschäftigen, aus ganz anderen Gründen grosso modo zustimmen, denn hier gilt nach wie vor das 19. Jahrhundert als Entwicklungsphase und das „J’accuse“ des Émile Zola von 1898 als emphatischer Geburtsruf des autonomen Intellektuellen, der sich aus eigenem Recht und mit eigenen Kompetenzen in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zu Wort meldet. 2

Dass es häufig als problematisch angenommen wird, diesen Begriff für Gelehrte in der Frühen Neuzeit zu verwenden, wird zwar nicht im Titel, wohl aber in einigen der Beiträge des von der Kunsthistorikerin Jutta Held herausgegebenen Sammelbandes „Intellektuelle in der Frühen Neuzeit“ thematisiert. Der Band dokumentiert eine Tagung des im Jahr 2000 beendeten Osnabrücker Graduiertenkollegs „Bildung in der Frühen Neuzeit“ (dessen Sprecherin Jutta Held war), die Beiträge stammen zumeist auch von ehemaligen Kollegiatinnen und Kollegiaten. Die Aufsätze, die sich chronologisch auf das 16. und 17. Jahrhundert konzentrieren, sollen möglichst unterschiedliche Bereiche intellektueller Betätigung (Bildende Künste, Literatur, Jurisprudenz etc.), möglichst auch die unterschiedlichen sozialen und kulturellen Bedingungen intellektueller Existenz (Standes- und Berufsgrenzen, Konfessionen, Geschlecht etc.) behandeln.

Jutta Held plädiert in ihrer zusammenfassenden Einleitung für einen „ernüchterten Begriff“ des Intellektuellen „inmitten der gesellschaftlichen Verhältnisse“. Für ihn seien kennzeichnend „seine geistige Beweglichkeit, seine Fähigkeit über die Grenzen sozialer und ideologischer Gruppierungen hinauszudenken“ (S. 10). Diese „unruhigen Geister“ (ebd.) zeigten, so Held, weniger Affinität zu Geheimwissenschaften und einsamem Gelehrtentum als zu öffentlichen Disputen und Verständigungen in den neuen Medien (S. 11). Jutta Held entdeckt im folgenden einen neuen Habitus des Intellektuellen im Gefolge der neuen Wissenschaften, der im Gegensatz zu den Vertretern humanistischen Bildungswissens stehe (S. 13). In welcher Weise aber gerade die von Held angeführten Kennzeichen der neuen Intellektuellen - „moderat und geduldig im Verhalten, undoktrinär, beweglich und experimentierfreudig, sucht er das Gespräch unter Gleichen, statt von einem Katheder herab zu dozieren“ (S. 11) - , einen Gegensatz zu den Humanisten und ihren Gepflogenheiten zeigen sollen, wird mir durch den Verweis auf Paolo Rossis Artikel über den Wissenschaftler nicht verständlicher: Auch Rossi sieht gerade die damit heraufbeschworene Atmosphäre den Unterhaltungen der Humanisten ähneln. 3 Bei dem von Held gelegten Gewicht auf die „neuen Wissenschaften“ als Orte der neuen Intellektuellen irritiert zudem ein weiteres: Warum gibt es dann im Buch nur – in moderner Terminologie – Beiträge zu Geisteswissenschaftlern und Künstlern, nicht aber zu Naturphilosophen (-wissenschaftlern), die doch überhaupt erst für eine „scientific revolution“ stehen? Mit Bezug auf die Themen der Beiträge (ohne mir dadurch die Aufnahme aller Artikel plausibel machen zu können) skizziert Held schließlich einen recht vielgestaltigen Intellektuellen in der Frühen Neuzeit, bei dem ich mich frage, ob darunter nun in äußerst ernüchterter Weise jeder Händler mit Produkten des Geistes (wie man gemeinsam mit Le Goff formulieren könnte) zu fassen ist, der sich innerhalb seines professionellen Feldes unkonform verhält, ohne irgendeinen Anspruch zu erheben, auf gesellschaftliche Fragen einzuwirken. Andererseits schließt sie trotzdem noch Gelehrte aus, deren Zugehörigkeit zu den Intellektuellen zumindest diskutabel wäre (dazu unten).

Jutta Held greift außerdem auch nicht die anderen Diskussionen zur Gültigkeit und Reichweite eines Intellektuellenbegriffs in der Frühen Neuzeit auf, die in den Beiträgen des Bandes geführt werden. Denn dadurch zeichnen sich wenigstens einige Aufsätze aus: Dass sie ihre Spezialstudien mit Blick auf den gegebenen Rahmen behandeln und diesen auch thematisieren. Leider wurde allerdings die mühevolle Arbeit, ein Register zu erstellen, nicht erledigt. Gerade bei einem Sammelband, der mit einem gewissen systematischen Anspruch ein kontroverses Thema behandelt, hätte dies helfen können, die in den Beiträgen geführten Diskussionen miteinander zu verbinden. Ebenfalls hätte sicherlich eine stärkere Verbindung zur Forschungsliteratur zu Intellektuellen und Gelehrten in der Frühen Neuzeit, die doch in den letzten Jahren stetig gewachsen ist, der Diskussion des Titelbegriffs in den meisten Beiträgen (die durchweg mit der Forschungssituation ihrer Spezialgebiete gut vertraut wirken) eine größere Relevanz gegeben.

Wilhelm Kühlmann hat selber mit seiner 1982 erschienenen Habilitationsschrift zu „Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat“ ein gutes Stück Forschungsgeschichte geschrieben. Er eröffnet mit einer polemischen Wendung seine „unvorgreiflichen Bemerkungen zu Formationen frühneuzeitlicher Intellektualität“ (S. 18-29), die die andauernden Diskussionen über Intellektuelle als narzisstische Rituale (S. 20) diskreditiert. Statt dessen unterstützt auch er sogenannte „nüchterne, wertfreie Systematisierungsversuche“ und eine entschlossene Historisierung, bei der er jedoch hervorhebt, dass sich weder im muslimischem, noch im hinduistischen oder chinesischen Kulturkreis ein dem europäischen vergleichbarer Wirkungsbefund von Intellektualität finden lasse (S. 21). Denn Kühlmann versteht die Figur des Intellektuellen als „Inbegriff eines öffentlich wirksamen kulturellen Habitus und Handlungstypus“. In der Folge unterstreicht er mit einer gewissen Emphase die Verankerung des frühneuzeitlichen hermetischen Spiritualismus in sozialreformerischer Praxis und das Zielen dessen „visionärer Generalreformation“ auf seine visionslose Gegenwart: Es seien eben nicht weltlose Diskurse, die bei der Analyse intellektueller Existenzen untersucht würden, sondern die „Geschichte des Leidens und der eisigen Einsamkeit mancher Vordenker“ (S. 29). Umso mehr erstaunt, wenn Held in Kenntnis dieses Beitrags die Intellektuellen der Frühen Neuzeit den Geheimwissenschaften generell abgeneigt sieht. Kühlmanns Verständnis des Intellektuellen weitestgehend entgegen steht Hartmut Stenzels nebenbei in einer Fußnote offenbarte Absage, den Begriff des Intellektuellen für die Vormoderne zu gebrauchen: In seinen Augen transportiert er „Konnotationen der Freiheit und Distanz zur politischen Macht, die für die frühe Neuzeit anachronistisch wären“ (Ein Gelehrter zwischen humanistischer Tradition, Politik und Öffentlichkeit: Gabriel Naudé und die Probleme des »libertinage érudit« (S. 170-192, S. 175, FN 13). Dennoch scheint mir gerade Stenzels Beitrag dem Plädoyer Kühlmanns, die Figur des Intellektuellen zu historisieren, wesentliches und hilfreiches Material zu liefern, indem er gerade auf die Beschränkungen, Zwänge und Abhängigkeiten aufmerksam macht, die den Ansprüchen auf Autonomie und auf Besitz eines gesellschaftliche Orientierung gebenden Wissens der libertins gegenüberstehen. Stenzel kann dabei auch zeigen, wie bewusst Naudé seine politische Funktionalisierung ist und dass er mit medialen, publizistischen Mitteln diese Grenzen zu überschreiten, seine Distanz zur Macht betonen und seine Autonomie damit zu behaupten sucht (wenn auch im Ergebnis erfolglos, wie Stenzel zu resümieren wäre).

Wie innerhalb des Gelehrten Feldes die häretischen Versuche, sich den Autoritäten zu entziehen, diskreditiert wurden und sich solche auf eigenes Urteil verlassende Intellektuelle gerade durch die Kämpfer gegen „Pedanterey“ wie Christian Thomasius oder Daniel Georg Morhof ausgeschlossen wurden, zeigt in seinem sowohl theoretisch-begrifflich reflektierten als auch stofflich gesättigten Beitrag auf sehr anschauliche Weise Hans Rudolf Velten (Die Autodidakten. Zum Aufkommen eines wissenschaftlichen Diskurses über Intellektuelle gegen Ende des 17. Jahrhunderts (S. 55-81)). Morhofs Diskurs bestimmenden Polyhistor folgend, sind die Autodidakten zunächst die Studenten, die, anstatt die Vorlesungen ihrer Professoren zu hören, meinen, ohne Anleitung die gelehrten Bücher selber verstehen zu können und die Außenseiter, Fanatiker, Barbaren. Im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts wandelt sich das Bild, so dass der Autodidakt Repräsentant der Offenheit des Intellektuellen, das Sinnbild des Gelehrten wird. Gefeiert wird hier, wie Velten mit Foucault formuliert, „der Mythos einer universalen Kommunikation der Erkenntnis, des unbegrenzten und freien Austauschs der Diskurse“ (S. 77f.). Und doch, die wichtige Einschränkung macht Velten im Schlusssatz: Damit ist der Autodidakt auf begrifflicher Ebene akzeptiert und als Gelehrter integriert - die soziale Akzeptanz der Autodidakten aber lässt (leider sagt er nicht mehr dazu) noch fünfzig Jahre auf sich warten.

Ganz offensichtlich mit sich selbst nicht einig ist Andreas Bauer (Bewahrer und Erneuerer. Juristen als fürstliche Räte in den norddeutschen Territorien im Zeitalter der Rezeption des römischen Rechts (S. 85-98)), ob fürstliche Räte, da sie sich, universitär gebildet, an konfessionspolitischen Diskussionen beteiligen, als Intellektuelle gelten können: So wäre sein Schlusssatz zu verstehen, dass die Biografie des Juristen Johann Oldendorp eindrucksvoll zahlreiche Merkmale zeige, die für den modernen Intellektuellen bestimmend geworden sind. Oder ist es doch eher so, dass die fürstlichen Räte, da sie doch qua Amt sprechen, wegen ihrer Abhängigkeiten nur von Ferne den Intellektuellen ähneln, wie Bauer einige Zeilen zuvor schreibt? Anhand dieses Beitrags hätte man eine Grenzziehung versuchen können, sie hätte die höfischen Juristen aber wohl ausschließen müssen.

Anders sieht das in den Beiträgen von Michael Oevermann und Hans Peterse (Die Frage der Concordia. Ein intellektueller Diskurs zwischen Helmstedter und Mainzer Irenikern von 1644 bis 1664 (S. 99-115)) aus. Letzterer betrachtet die Ireniker gegen Ende des 30jährigen Kriegs deshalb als Intellektuelle, weil sie sich zu den geistigen und politischen Fragen der Gegenwart mit dem Ziel äußern, den Diskurs in eine neue Richtung zu lenken (S. 101). Er kann dabei zeigen, wie die Wirksamkeit der Intellektuellen von der Unterstützung des Mainzer Kurfürsten abhängt, der die Ireniker dann auch gegen päpstlichen Unmut unterstützt, wenn ihre Argumentationen zu seiner Reunionspolitik passte. Auf vorzügliche Art ist es auch Oevermann gelungen, die Spannung zwischen Zentralgewalt und peripherer Existenz in seiner Darstellung des Konfliktes zwischen dem Architekten François Aguilon und seinen jesuitischen Ordensoberen beim Bau der Antwerpener Jesuitenkirche (S. 119-145) zu analysieren. Aguilons intellektuelle Kontakte in Antwerpen, die Verankerung seines Konzeptes in humanistischer Architekturtheorie stehen in ihrer Traditionsbildung konträr zu den Vorstellungen der jesuitischen Zentrale, in der der humanistische Rundbau als heidnisch diskreditiert und statt dessen die Konstruktion einer frühchristlichen Tradition forciert wird. Oevermanns Resümee, dass Aguilon, auch wenn er sich letztlich gegenüber den römischen Einwänden nicht durchzusetzen vermochte, sich in der Eigenständigkeit seiner Konzeptionen und seiner Kontakte als Intellektueller darstellt, kann ich nur unterstreichen.

Häufig genug fügen sich nicht alle Beiträge in Sammelbänden unter die vorgegebene Fragestellung. So auch hier: Das gilt in meinen Augen für Ekkehard Mai (Satiren, Burlesken und Capricci – Salvator Rosa und die Bamboccianti in Rom (S. 149-169)), der in seiner Auseinandersetzung mit jugendlicher Rebellion und konservativer Revolution der mittleren und späten Jahre innerhalb des Feldes der bildenden Künste es nicht für nötig hält, auf den Begriff der Intellektuellen einzugehen. Nimmt man seinen Artikel als ernsthaften Beitrag zum Thema des Buches, so werden zu Intellektuellen all diejenigen, die innerhalb ihres Fachs, ihrer Profession Methoden und Grundlagen diskutieren und in Frage stellen. Sicherlich sind auch Leser ein wichtiger Bestandteil einer zu schreibenden Geschichte der Intellektuellen in der Frühen Neuzeit, doch wird mir aus Inta Knors Aufsatz (Zwischen humanistischer Tradition und bürgerlicher Selbstreflexion: Augsburger Leserprofile im 15. Jahrhundert (S. 43-51)), bei dem ich außerdem die Verbindung zu moderner Leseforschung (z. B. Roger Chartier, Armando Petrucci, Paul Saenger) vermisse, nicht klar, was außer ihren einleitenden Bemerkungen zum Intellektuellenbegriff die Verklammerung zum Buchthema herstellt. Susanne Homeyer (Strukturen vormoderner Intellektualität in der Frühen Neuzeit. Wissensvermittlung durch das astronomische Flugblatt (S. 33-42)) dagegen zeigt sehr schön, wie der Umgang mit den Medien die Möglichkeiten intellektuellen Handelns prägt. Gerade das Flugblatt mit seiner Ausrichtung auf ein heterogenes Publikum bietet Platz für Mischformen gelehrter Abhandlung und prophetischer Rede und begünstigen damit die Entwicklung des modernen Intellektuellen.

Eine Anbindung an wissenschaftsgeschichtliche Forschungen vermisse ich besonders bei dem informativen Beitrag von Margarete Zimmermann (Freiheitsphilosophie und Geschlechterdifferenz im Zeitalter der Frühaufklärung. Gabrielle Suchons Traktat Du célibat volontaire (1700) (S. 193-207)), die ihre intellektuelle Außenseiterin im Grunde nur in einen geschlechtergeschichtlichen Kontext und mit Bezug auf die „querelle des femmes“ betrachtet, ihre Inszenierung der Einsamkeit aber sehr gut beispielsweise mit Steven Shapins Forschungen zu Wissenschaft und Einsamkeit in Beziehung hätte setzen können.

Insgesamt also ein Band, in dem viele anregende Beobachtungen, gründliche Detailanalysen mit Blick für eine übergeordnete Frage neben routinierten Beiträgen stehen. Komplett verschenkt ist das Thema damit genauso wenig wie es erledigt ist, aber die intellektuelle Bereicherung hätte durch stärkere konzeptionelle Eingriffe wohl vermehrt werden können.

Anmerkungen:
1 Jacques Le Goff, Les intellectuels au Moyen Age, Paris 1985 (zuerst 1957), z.B. im Vorwort S. III und X: „L’intellectuel du Moyen Age issu de la ville et du travail universitaire, destiné au gouvernement d’une Chrétienté désormais éclatée, disparaît“; im Schlusskapitel S. 176: „L’humaniste est profondément anti-intellectualiste“, und das Schlusszitat aus Baudelaires „L’invitation au voyage“.
2 Vgl. hierzu Christophe Charle, Vordenker der Moderne. Die Intellektuellen im 19. Jahrhundert (Europäische Geschichte), Frankfurt a.M. 1997, S. 12: „dieser Autonomieanspruch, das typischste gemeinsame Merkmal der europäischen Intellektuellen“.
3 Paolo Rossi, Der Wissenschaftler, in: Der Mensch des Barock, hg. v . Rosario Villari, Frankfurt a.M. 1997, hier S. 287.

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