W. Schulze: Zeugenverhörprotokolle als Quellen

Titel
Wahrheit, Wissen, Erinnerung. Zeugenverhörprotokolle als Quellen für soziale Wissensbestände in der Frühen Neuzeit


Herausgeber
Schulze, Winfried; Fuchs, Ralf-Peter
Reihe
Wirklichkeit und Wahrnehmnung in der Frühen Neuzeit 1
Erschienen
Münster 2002: LIT Verlag
Anzahl Seiten
402 S.
Preis
€ 20,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrike Ludwig, Universität Rostock

Winfried Schulze erklärt im Vorwort der Reihe „Wirklichkeit und Wahrnehmung in der frühen Neuzeit“, deren erster Band jetzt vorliegt, dass in den letzten Jahren neben der „Kernaufgabe der Rekonstruktion von historischer Wirklichkeit die verstärkte Beachtung historischer Wahrnehmung“ als Anspruch an die Geschichtswissenschaft trat. Den Fragen dieser Perspektive will die Reihe vor allem hinsichtlich neuer bzw. neu gelesener Quellengruppen Raum bieten.

Zum Auftakt widmet sich der erste Band den Zeugenverhörprotokollen. Nach den Worten der Herausgeber zielt der Band darauf ab, das Spektrum der Erkenntnismöglichkeiten für mittelalterliche und besonders für frühneuzeitliche Lebens- und Wahrnehmungsbereiche zu präsentieren, die sich aus den Befragungsniederschriften ergeben. Gleichzeitig verweisen sie darauf, dass sich kein Umgangsschema darstellen lässt, sondern den Besonderheiten des Einzelfalls Rechnung getragen werden muss (S. 13). In den Band sind neben Ergebnissen aus dem Münchner DFG-Teilprojekt „Soziales Wissen nach Reichskammergericht-Zeugenverhören“ auch Beiträge von Autorinnen und Autoren aus anderen Forschungskontexten, wie der historischen Kriminologie oder der Reichsgerichtsforschung, eingeflossen.

Thematisch lassen sich bei den Beiträgen drei Schwerpunkte ausmachen: Die Aufsätze von Arnold Esch, Ralf-Peter Fuchs und Stefan Breit befassen sich vor allem mit Fragen der Zeitwahrnehmung, des Wissens um Zeit und des Vergessens. Marco Bellabarba, Alexander Schunka und Sabine Ullmann widmen sich Fragen von Herrschaft und Raum. Mit der Wahrnehmung von und dem Umgang mit Normen und Normbrüchen im Rahmen nachbarschaftlichen Handelns haben sich Margarete Wittke, Daniela Hacke und Martin Scheutz auseinandergesetzt. Als Kontrastpunkt findet sich der Beitrag von Markus Friedrich, der am Beispiel von Gelehrtenbefragungen einen Bereich der zeitgenössischen Verfahrenskritik beleuchtet.

Im Rahmen dieser Besprechung ist es nicht möglich, auf jeden der Beiträge ausführlich einzugehen, deshalb seien hier nur einige zentrale Thesen hervorgehoben. Markus Friedrich wirft in seinem Beitrag über die Befragung gelehrter Theologen einen Blick auf zeitgenössische Verfahrenskritik am Zeugenverhör und die angezeigte Skepsis gegenüber dieser Form der Wahrheitssuche im 17. Jahrhundert. Methodisch interessant sind besonders die Argumente, dass der Zwang, sich in Kürze festlegen zu müssen und die Verschriftlichung von erregter Rede der Wahrheit abträglich seien, die Protokolle aber eine wichtige vermittelnde und speichernde Funktion als Informations- und Beurteilungsgrundlage einnahmen (S. 78f.).

Arnold Esch, Ralf-Peter Fuchs und Marco Bellabarba betonen den Unterschied zwischen der Erinnerung an die eigenen Lebens- und die davor liegenden Zeit. Erstere umfasste in der Regel den Zeitraum eines Lebensalters, was der von Jan Assmann angesetzten Spanne des kommunikativen Gedächtnisses 1 entspricht. Alles davor liegende – so Fuchs - sei in der Vorstellung der Befragten eher unbeweglich und starr (S. 154). „Allenfalls wurden konkrete Bilder und Bedürfnisse der Gegenwart in die Vorstellungen über diese Zeit hineinprojiziert.“ (S. 152) Ergänzend und korrigierend dazu kann das Ergebnis Stefan Breits in seiner Untersuchung eines Streits um Waldnutzungsrechte gesehen werden. Er zeigt auf, wie sich die befragten Zeugen vor dem Hintergrund des eigenen Nutzens in einem System von Erinnerungen bewegten, die bis zur Schenkungslegende des Waldes hinunterreichten. Dabei wird die Existenz weit zurückliegender kollegialer Wissensbestände greifbar, die angesichts ihrer feinen Differenzierung nicht auf eine zurechtgelegte Geschichte deuten (S. 177f.).

Bellabarba verdeutlicht am Beispiel von Prozessen des Fürstbistums Trient gegen verschiedene Adelshäuser, dass Herrschaft und Grenzen für die Zeugen aus den Bauerngemeinden durch das unmittelbare Erleben ritueller Handlungen der Machtausübung und hier besonders der Gerichtsgewalt erfahrbar und bezeugt wurden (S. 210f.). Ullmann verweist darüber hinaus auf die differenzierte Wahrnehmung von Herrschaft als Ansammlung von Einzelrechten, „die bemerkenswert mit der Verfassungsrealität“ korrespondierte (S. 288). Bemerkenswert ist auch, dass den meisten Zeugen der Begriff der „Landesherrschaft“ geläufig war (S. 287). Eine Vertiefung des von Ullmann konstatierten „Diskurses“ in Richtung der verwendeten Begrifflichkeit wäre als Anschluss an die vorgelegten Ergebnisse sicher interessant. Im Gegensatz zu diesem Befund aus dem 15. und 16. Jahrhundert stellt Bellabarba für das 17. und 18. Jahrhundert eine „Abwertung der Aussagen »de viso« und »de auditu«“ im Vergleich mit Elementen wie Belehnungsurkunden oder Urteilen fest, die nun als „objektiver“ betrachtet wurden (S. 221).

Schunka stellt dieser relativ unmittelbar bezeugten Herrschaft am Beispiel des Sebastian Schertlin von Burtenbach (1496-1577) ein erinnertes Herrscherbild gegenüber. Er kommt zum Ergebnis, dass Herrschaftsausübung nur dann anerkannt wurde, wenn sie den Wertvorstellungen der „Beherrschten“ entsprach, die er durch den sozialen Wissensvorrat gespeist sieht (S. 254). Inwieweit sich dies während der Herrschaftszeit konkret niederschlug bleibt leider offen.

Dem Verständnis der Zeitgenossen für legitime und illegitime Handlungen gehen auch Margarete Wittke und Daniela Hacke nach. Am Beispiel der zeitgenössischen Einstellungen zur Gewalt relativiert Wittke auf der Grundlage summarischer Zeugenverhöre im Rahmen der Generalinquisition das oft unterstellte Ausmaß der Gewaltakzeptanz in der Frühen Neuzeit (S. 315) Gewalt wurde vielmehr als ebenso entehrend wie verbale Kränkungen oder beleidigende Gesten erfahren (S. 315). Zu einem ähnlichen Befund kommt Hacke bei ihrer Untersuchung zu häuslicher Gewalt im Venedig des 16. und 17. Jahrhunderts. Gewalt gegen Ehefrauen wurde zwar als ehrstabilisierend und Garant der gesellschaftlichen Ordnung wahrgenommen, neben die Akzeptanz ist aber eine zeitgenössische Auffassung der Dysfunktionalität unbotmäßiger Gewalt für eheliche Ordnung und nachbarschaftlichen Frieden zu stellen (S. 351). Beide Beiträge lassen vermuten, dass eine Untersuchung des Unrechtsbewusstseins der Zeitgenossen neue Sichtweisen auf Normverstöße in der Frühen Neuzeit bergen.

Martin Scheutz demonstriert schließlich anhand einer Diebstahlserie aus dem Jahr 1783 in Niederösterreich das Zusammenspiel von Vergehen, Norm und Umgang der Nachbarschaft damit. Er zeigt zum einen, „auf welche Weise soziale Wissensbestände, konkret über Normen vermittelte Verhaltensvorschriften, in den vor Gericht getätigten Zeugenaussagen manifest geworden sind“ (S. 360). Damit begibt er sich in die seit einigen Jahren laufende Diskussion um Normdurchsetzung und –akzeptanz 2 Er betont, dass die informelle Sozialkontrolle „entscheidend für die Vermittlung von obrigkeitlichen Vorstellungen“ war und die Flut der erlassenen Normen „deutliche Spuren in der alltäglichen sozialen Praxis der Untertanen hinterlassen“ hat (S. 396). Zum anderen wurde das Fehlverhalten parallel zur Internalisierung der Normen z. T. „nicht vor Gerichten, sondern viel unmittelbarer“ im Rahmen der Nachbarschaft sanktioniert. Scheutz konstatiert damit eine Sozialdisziplinierung, die mit tradierten Methoden und neben der eigentlichen „Herrschaft“, aber in ihrem Sinne umgesetzt wurde.

Als wichtige Ergebnisse des insgesamt sehr ertragreichen Bandes kann Folgendes herausgestellt werden. Innerhalb der einzelnen Rubriken wird deutlich, dass besonders das Nebeneinander der Ergebnisse neue Blickrichtungen ergibt. Gerade in den Bereichen von Zeitwahrnehmung und Herrschaft versprechen vergleichende Studien situativ unterschiedlich angebundener Zeugenverhörprotokolle Erkenntnisgewinne.

In Bezug auf die Strafgerichtsbarkeit ist der in der Forschung durchaus zu Recht betonten Differenz von Norm und Praxis die zeitgenössische Bewertung von Normverstößen von nicht unmittelbar an der Tat Beteiligten an die Seite zu stellen. Damit wäre vielleicht auch die Schärfe der Kontrastierung von Norm und Praxis aufgebrochen. In diesem Zusammenhang ist auch das Zusammenspiel von Herrschaftsrepräsentation und einer adäquaten Wahrnehmung der zum Teil äußerst differenzierten Machtstrukturen durch die Untertanen interessant, die vor allem über miterlebte Ausübung von Gerichtsgewalt erinnert wurden.

Die von Friedrich dargestellten Elemente zeitgenössischer Verfahrenskritik zeigen – sicherlich mit Begrenzung auf Gelehrtenverhöre - auf, wie Verfahren und Verhör von den Betroffenen wahrgenommen wurde. Damit ist zum einen eine Ergänzung des in der zeitgenössischen juristischen Literatur geführten „Diskurses“ möglich. Zum anderen kommen aber auch Fragen der Authentizität von Zeugenverhören angesichts der verschriftlichten Rede hinsichtlich einer heutigen Quellenkritik in den Blick. Diese Blickrichtung kam in den Beiträgen, abgesehen von den einleitenden Bemerkungen der Herausgeber zu Subjektivität und Authentizität (S. 23-32) zu kurz. Dominierendes Modell in fast allen Beiträgen ist das Konzept des „sozialen Wissens“. Zu vermissen ist darüber hinaus die Einbeziehung von Fragen der Rhetorik und situativer Sprechweise. Der Verweis der „fiction in the archivs“ 3 erscheint allein als Titel in den Fußnoten manchmal nicht ausreichend.

Die Ergebnisse des vorliegenden Sammelbandes dokumentieren die Möglichkeiten und Forschungsperspektiven der Quellengruppe der Zeugenverhörprotokolle auf eindrucksvolle und durchweg spannend zu lesende Weise. Mit dem Band liegt nun neben bereits verstreut erschienenen Aufsätzen der letzten Jahre ein gebündelter Aufriss vor.

Anmerkungen
1 Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis – Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 4. Auflage, München 2002 .
2 Hier nur zwei Beispiele, die die Diskussion selbst auch verdeutlichen: Karl Härter: Soziale Disziplinierung durch Strafe? Intentionen frühneuzeitlicher Policeyordnungen und staatlicher Sanktionspraxis, in: Zeitschrift für historische Forschung 26 (1999), S. 365-379. André Holenstein: Die Umstände der Norm – die Normen der Umstände. Policeyordnungen im kommunikativen Handeln von Verwaltung und lokaler Gesellschaft im Ancien Régime, in: Karl Härter (Hg.): Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft, Frankfurt a.M, 2000, S. 1-46.
3 Natalie Zemon Davis: Fiction in the Archivs: Pardon Tales and their Tellers in Sixteenth-Century France, Stanford 1987.

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