Titel
Harry Graf Kessler und das Theater. Autor - Mäzen - Initiator 1900-1933


Autor(en)
Barzantny, Tamara
Erschienen
Köln u.a. 2002: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
331 S.
Preis
€ 39.90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Stachel, Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte, Österreichische Akademie der Wissenschaften

Harry Graf Kesslers (1868–1937) Beruf und Berufung war es, so könnte man ironisch formulieren, „bekannt“ zu sein: Bekannt einerseits als Persönlichkeit des kulturellen und zeitweilig auch politischen (genauer: diplomatischen) öffentlichen Lebens, persönlich bekannt aber auch mit zahlreichen Künstlern und Künstlerinnen innerhalb und außerhalb des deutschen Sprachraums. Als „Autor, Mäzen, Initiator“ wird er im Untertitel der, aus einer bei Prof. Erika Fischer-Lichte an der FU Berlin verfassten Dissertation hervorgegangenen, unlängst im Druck erschienenen Studie der Münchner Theaterwissenschaftlerin Tamara Barzantny charakterisiert; und all dies war Kessler tatsächlich – und noch einiges mehr. Kessler war vor allem anderen auch ein genauer und kenntnisreicher Chronist des kulturellen Lebens seiner Zeit: Seine im Laufe von nicht weniger als 57 Jahren (!), zwischen 1880 und 1937, entstandenen, mehr als 10.000 Seiten umfassenden Tagebücher sind eine wohl einzigartige Quelle zur Zeit- und Kulturgeschichte der Jahrhundertwende und des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts. Dies umso mehr, weil Kesslers Movens nicht in erster Linie darin lag, seine individuelle Befindlichkeit zu reflektieren, vielmehr ging es dem „Chronisten“ Kessler vordringlich um Reflexionen über Kunst und Literatur seiner Zeit und, vor allem nach 1914, auch um politische Analysen. Kessler verstand sich, wohl auch mit Seitenblick auf mögliche, aber nur teilweise verwirklichte eigene Publikationen, offenkundig als „Seismograph“ seiner Zeit; und ebendies macht die Lektüre seiner Aufzeichnungen – trotz oder vielleicht gerade wegen der Zeitgebundenheit – bis heute spannend. Tamara Barzantny hat sich unter anderem auch dieser (bislang nicht vollständig veröffentlichten) Quelle ausgiebig bedient und – wie sie in der Einleitung erläutert – anhand des im Marbacher Archiv verwahrten Textkonvoluts ein mehr als 700 Seiten umfassendes Exzerpt erarbeitet, das eine (aber keineswegs die einzige) Grundlage ihrer Analyse darstellt. Schon die gründliche Auswertung dieser Quelle ist für sich als Leistung zu verbuchen, auch wenn negativ zu vermerken ist, dass die spezifischen Eigenheiten der Textsorte „Tagebuch“ von der Verfasserin nicht tiefergehender theoretisch reflektiert werden.

Der thematische Schwerpunkt der Studie liegt auf Kesslers Beziehungen zum Theater: Einem breiteren Publikum bekannt ist in diesem Zusammenhang am ehesten Kesslers keineswegs ungetrübte Freundschaft und Arbeitsgemeinschaft mit Hugo von Hofmannsthal, die zu gemeinsamen Projekten, wie etwa der von Richard Strauss vertonten „Josephslegende“, führte. Die Entstehung dieses Balletts – Hofmannsthal selbst betrachtete Kessler (der auch die allgemein kritisierte Vorrede verfasste) als den eigentlichen Hauptautor – wird in Barzantnys Studie ebenso detailreich erläutert, wie die, wohl auch durch die zeitlichen Umstände bedingte, negative Aufnahme der Uraufführung durch Diaghilevs „Ballets Russes“ in Paris im Mai 1914 (gleichsam am Vorabend des Ersten Weltkriegs) und die ungleich positiver aufgenommene deutsche Erstaufführung in der Berliner Staatsoper sieben Jahre später. Kesslers „Wunschtraum“, das Ballett in der Inszenierung Max Reinhardts bei den „Salzburger Festspielen“ aufgeführt zu sehen, blieb unerfüllt. Das Werk wurde aber bis in neuere Zeit zumindest gelegentlich zur Aufführung gebracht.

Weniger eindeutig verhält es sich mit der Frage nach Kesslers Anteil am Textbuch des „Rosenkavalier“: Auf dem Plakat der Uraufführung wurde Hofmannsthal als alleiniger Verfasser genannt und dies stellt bis heute die „offizielle“ Version dar. Allerdings hat Hofmannsthal selbst betont, das Werk sei aus Gesprächen mit Kessler heraus entwickelt worden und dementsprechend das Textbuch auch Kessler gewidmet. Kessler selbst sah seinen Beitrag damit aber keineswegs entsprechend gewürdigt, wie seine bis ans Lebensende anhaltenden, von Barzantny dokumentierten Versuche belegen, seinen Anteil an diesem populären Werk hervorzuheben. Nach Ansicht der Verfasserin waren diese Bemühungen nicht bloß Ausdruck von „Eitelkeit und Kleinlichkeit“, vielmehr äußert sich darin „Kesslers eigentliche Tragik. Dieser so ungewöhnliche Mann, reich nicht nur im materiellen Sinn, sondern auch aufgrund seines Wissens, seiner Belesenheit, Kultiviertheit, seines Gespürs für neue, zukunftsweisende Tendenzen in der Kultur, war nicht in der Lage, dieses Potential künstlerisch umzusetzen. Seine eigenen Versuche wie das ‚Choreographische Scherzo’ und das Dramenfragment ‚Ivan Kalaieff’ belegen das nachdrücklich. Kesslers Bedeutung lag auf anderem Gebiet, wenngleich ihm das zuweilen nicht genügen mochte.“ (S. 288). Kesslers Selbstdefinition als „Katalysator“ künstlerischer Entwicklungen wird somit von Barzantnys Studie einerseits inhaltlich untermauert, zugleich aber auch als durch das Misslingen der eigenständigen künstlerischen Produktionen hervorgerufene „reduktionistische“ Stilisierung der eigenen Biografie – generell ein Grundproblem der literarischen Gattung und historischen Quelle „Tagebuch“ – dargelegt.

In Bezug auf die Qualität der von Kessler selbständig verfassten dramatischen Arbeiten – deren Entstehungsbedingungen im Detail erläutert werden – äußert sich die Autorin mit unmissverständlicher Klarheit: Deren Scheitern sei keineswegs „nur zeitbedingt“ gewesen, vielmehr sei deren Sprache, wo sie poetisch sein wolle, schwülstig, ja sentimental und kitschig, die ironisch gemeinten „bildungsbürgerlichen Einsprengsel“ wirkten klobig und deplaziert (vgl. S. 272). Kesslers eigentliche Bedeutung, dies unterstreicht Barzantnys Studie neuerlich, lag im „Wirken aus dem Hintergrund“ (S. 27), im Aufspüren neuer Tendenzen in der Kunst (nicht nur der dramatischen) seiner Zeit, im Anregen und Fördern: letzteres sowohl publizistisch (auch in eigenen Publikationsorganen) und finanziell, als auch vor allem durch persönliche Einflussnahme. In der Vielzahl der persönlichen Verbindungen, dem oben angesprochenen „Bekannt sein mit Gott und der Welt“ lag Kesslers zentrale Bedeutung für die künstlerischen Entwicklungen seiner Zeit und darin liegt auch der Grund für das Interesse, das seine Biografie – und sein eigentliches literarisches Hauptwerk, das Tagebuch – bis heute zu erregen vermögen.

Durch diese Voraussetzungen ist aber zugleich auch die Form von Barzantnys Studie vorgegeben: Zielsetzung der Verfasserin war es, so ihre Ausführungen in der Einleitung, „das komplizierte Beziehungsgeflecht aufzudecken, in das Harry Graf Kessler im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts eingebunden war“ (S. 13). Dies umzusetzen ist der Verfasserin in mustergültiger Weise gelungen: Kesslers Verbindungen zu einer Vielzahl von Künstlern seiner Zeit – im konkreten Fall vorwiegend solcher aus dem dramatischen und musikdramatischen Bereich – wird ausführlich dargelegt. Die Liste von Kesslers persönlichem Umfeld liest sich wie ein „Who is who“ der Kulturschaffenden seiner Zeit: Hugo von Hofmannsthal, Max Reinhardt, Hermann Bahr, Richard Strauss und Serge Diaghilev markieren nur einige der markantesten Eckpunkte dieses Beziehungsgeflechts. Von besonderem Interesse ist etwa auch Kesslers Verbindung mit dem „Maler-Regisseur“ (S. 35) Edward Gordon Craig, die auf eine spezifische Voraussetzung von Kesslers Verhältnis zur dramatischen Kunst verweist, nämlich seine starke und anhaltende Prägung durch die bildende Kunst. Eine Voraussetzung, die bereits von Zeitgenossen wie Romain Rolland und Hugo von Hofmannsthal vermerkt wurde, und die auch Kesslers besonderes Interesse an den Theaterreformprogrammen der Zeit um 1900 zu erklären vermag.

Nicht zuletzt dokumentiert die Darstellung von Kesslers Wirken auf europäischer Ebene auch den übernationalen Anspruch mancher europäischer Kulturschaffender des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts; das Bemühen um eine die nationalen Trennlinien überschreitende europäische Kultur. Bei aller Zeitverhaftetheit der künstlerischen Produktion liegt gerade darin für den heutigen Betrachter ein besonderer Reiz. Die Wurzeln dieses Anspruches, dies wird vor allem aus dem „Präparation“ betitelten ersten Kapitel der Arbeit ersichtlich (S. 17–35), liegen bei Kessler selbst in seiner biografischen Prägung durch mehrere „nationale“ Kulturen Europas (deutsch, französisch, englisch).

Tamara Barzantny hat unter anderem eine Studie vorgelegt, die Harry Graf Kesslers Verhältnis zum Theater, damit auch seinen Anteil an der dramatischen Produktion seiner Zeit, erstmalig in umfassender Weise dokumentiert. Das vermeintlich einschränkende „unter anderem“ ist ausdrücklich als Kompliment gemeint. Denn über diese offenkundige Zielsetzung hinausgehend ist es der Verfasserin gelungen, sowohl einen wesentlichen Beitrag zur Biografie einer der schillerndsten Figuren der europäischen Kulturgeschichte des Fin de Siècle und des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts zu leisten, als auch – und dies ist kein geringes Verdienst – eine ebenso faktenreiche wie lesbare Darstellung zu liefern. In Summe: Eine erfreuliche Neuerscheinung.

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