Titel
Revolutio germanica. Die Sehnsucht nach der "alten Freiheit" der Germanen 1750-1820


Autor(en)
Hermand, Jost; Niedermeier, Michael
Reihe
Berliner Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte 5
Erschienen
Frankfurt am Main 2002: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
346 S.
Preis
€ 50.10
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marcus Ventzke, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Theodor Fontane lässt in seinem Roman ‚Der Stechlin’ den gealterten brandenburgischen Landadligen gleichen Namens im vertraulichen Kamingespräch mit einem Baron von Barby über Friedrich II. von Preußen, der lange vor seiner Geburt gestorben war, sagen: „Wir hatten die Ehre, für König und Vaterland hungern und dursten und sterben zu dürfen, sind aber nie gefragt worden, ob uns das auch passe. Nur dann und wann erfuhren wir, daß wir ‚Edelleute’ seien [...] In seiner innersten Seele rief er uns eigentlich genau dasselbe zu wie den Grenadieren bei Torgau. [...] Alles in allem [...] find ich unser Jahr dreizehn eigentlich um ein Erhebliches größer, weil alles, was geschah, weniger den Befehlscharakter trug und mehr Freiheit und Selbstentschließung hatte.“

Das Thema des Bandes von Jost Hermand und Michael Niedermeier könnte zeitlich und thematisch nicht besser umrissen sein. Die ausschließlich von den beiden Herausgebern stammenden acht Beiträge kreisen um die Frage, welcher Traditionen, Werte und ideologievermittelnden Strategien sich Eliten im Zeitenwandel um 1800 bedienten, um ihre gesellschaftliche Bedeutung zu befestigen, neu zu begründen oder umzudefinieren. Beide Autoren kommen, sieht man ihre Analysen in der Zusammenschau, zu dem Ergebnis, dass der Rückgriff auf eine angeblich lang zurückreichende nationale deutsche Vergangenheit zu einer fundamentalen Begründungsstrategie avancierte.

Ohne Zweifel liegt das Verdienst und der besondere Wert des Bandes darin, dass beide Autoren die nationalen Motive in der bildenden Kunst, Landschaftsgestaltung und Musik als eigenständigen Strang künstlerisch-politischen Ausdrucks in ihren historischen und sozialen Vernetzungen sehen wollten und sie damit aus einem nur allzu oft eingleisigen fachspezifischen Deutungskontext gelöst haben. Die Verbindung des bemerkenswert dicht recherchierten und weitverzweigten Quellenmaterials, das von (Hermann-) Denkmälern über Landschaftsgestaltungen bis hin zu Ölgemälden und Innenarchitekturen reicht, mit den politischen oder persönlichen Intentionen ihrer Schöpfer und Auftraggeber zeigt ganz neue, mitunter auch überraschende Interpretationsmöglichkeiten für die fürstlichen oder adeligen Parkanlagen des mitteldeutschen Raumes oder die Persönlichkeitsentwicklung bedeutender Künstler wie Caspar David Friedrich und Heinrich Heine, deren ungradlinige Biografien bislang immer wieder Anlass zu sehr divergierenden Einordnungen gegeben haben. Auf diese Weise werden neben adeligen und bürgerlichen Selbstsichten sowie regionalen historiographischen Traditionen auch die Folgen dynastischer Entwicklungen und individuelle Karriereabsichten sichtbar.

Niedermeier konzentriert in den beiden umfangreichen Aufsätzen ‚Germanen in den Gärten’ sowie ‚Klopstock, Hermann, der Harz und der Hain’ seine in den letzten Jahren unternommenen Untersuchungen zu weltanschaulichen Deutungsmöglichkeiten von Landschaftsgärten des 18. Jahrhunderts, insbesondere in Wörlitz und Gotha. Er revidiert nicht nur viele Datierungen und Zuschreibungen, beispielsweise hält er den Gothaer Landschaftsgarten für einen der ersten seiner Art in Deutschland (S. 81), sondern zeigt auch, dass die Gärten keineswegs ausschließlich als Symbole aufklärerischer Herrscherideale und Übernahmen englischer Landschaftskonzepte verstanden werden dürfen. Vielmehr waren sie vielschichtige Kulturspeicher, in denen freimaurerisches mit nationalkulturellem und spezifisch familiengeschichtlichem Gedankengut der Auftraggeber zusammengeführt wurde. Detailreich und überzeugend ist insbesondere herausgearbeitet, wie die von Cyriacus Spangenberg, Balthasar Mentz, Christoph Entzelt, Caspar Sagittarius oder Ernst Brotuff geschriebenen Genealogien und Chroniken des mitteldeutschen Raums, die den Ursprung der askanischen und wettinisch-ernestinischen Herrschergeschlechter vornehmlich auf den Stammbaum Noahs zurückführten, mit der von den Humanisten entfachten Germanendebatte sowie der reichsweit verbreiteten „Welschen“-Feindschaft im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert ineinander flossen. Es entstand ein Weltbild, das sich gleichermaßen gegen preußisch-österreichische wie auch später gegen napoleonische Großmachtambitionen richtete - gewissermaßen eine kulturelle Selbstbehauptungsstrategie.

Aus historisch langen Traditionen, überzeugenden, d. h. vor allem Erfolg widerspiegelnden Gründungsmythen und ausreichend allgemeinen Gemeinschaftsidealen wurde ein Wertehorizont entwickelt, der in den Zeiten des Umbruchs und der Krise Halt geben sollte. Die mitteldeutschen Fürsten behaupteten sich gegenüber Preußen und Österreich, indem sie versuchten, politische Bündnisse zu gründen und diese Rückbesinnung auf die eigenen Kräfte mit einer kulturellen Differenzierung zu untermauern. In Gotha, Weimar und Dessau reifte, je länger das 18. Jahrhundert dauerte, immer mehr die Erkenntnis, dass man auf dem Felde politischer Aufklärung und wirtschaftlich-sozialer Reformen gegen Berlin und Wien wahrscheinlich langfristig nur verlieren konnte. Deshalb suchte man sich als Bewahrer und Gestalter des kulturellen Gedächtnisses zu stilisieren, die kollektive Identität der ‚Nation’ zu bestimmen. Mit der Behauptung, dass die Cherusker eigentlich im Harz gesiedelt hätten, die Varusschlacht im mitteldeutschen Raum stattgefunden habe und die Thüringer, Braunschweiger oder Anhaltiner die typisch deutschen Tugenden über den Lauf der Zeiten hinweg bewahrt hätten, wollte man die französisierenden Höfe als kulturelle Verräter stigmatisieren und ihren politischen Einfluss zurückdrängen. Insofern ging der kulturelle Anspruch des sich neu formierenden ‚dritten Deutschland’ weit über die ‚außenpolitische’ Absicherung kleinerer Herrschaftsgebiete hinaus. Indem der Fürstenbund eben auch das bessere Deutschland, der Kern der wahren Nation sein wollte, wies er den im Siebenjährigen Krieg erstmalig massiv aufgetretenen Anspruch der Hegemonialmächte des Alten Reichs, für die deutsche Nation insgesamt zu sprechen, eindeutig zurück.

Freilich, indem die alten Eliten die angeblich altgermanischen Werte, beispielsweise das kollektive Eigentum, weitgehende Herrschaftsfreiheit und Volkskultur akzeptierten, um sich als Vorkämpfer einer neuen Nationalbewegung stilisieren zu können, machten sie diese Werte auch für andere soziale Gruppen attraktiv. Spätestens in den Freiheitskriegen 1813-1815 zeigte sich, dass das bereits lange vor Untergang des Heiligen römischen Reichs deutscher Nation gepflegte christlich-germanische Nationalethos mit seinem Losungswort „teutsche Freiheit“ zu einem verbindenden, aber auch anschlussfähigen und motivierenden Gesellschaftswert geworden war, der noch weit ins 19. Jahrhundert hineinwirkte und sicherlich als Grundlage des modernen deutschen Nationalismus angesehen werden muss. In den Beiträgen ‚Ludwig van Beethovens patriotische Kompositionen’ und ‚Heinrich Heine und die Burschenschaft’ legt Jost Hermand dar, dass es sich im Grunde stets um den gleichen Vorgang handelte, wenn Friedrich Gottlieb Klopstock, sich selbst als Barde fühlend, in Arminius den Prototyp des deutschen Helden, den Retter ‚teutscher Freiheit’ und sittlicher Eigenart sehen wollte, Ludwig van Beethoven sich zwischen 1813 und 1815 von diesen nationalen Werten zu patriotischen Kompositionen anregen ließ, und noch Heinrich Heine daran 1819 seine gesellschaftlichen Fortschrittshoffnungen knüpfte, als er sich in Bonn der Allgemeinen Deutschen Burschenschaft anschloss, obwohl diese schon damals erkennbar chauvinistische und antisemitische Züge aufwies.

Spätestens mit der nach 1815 einsetzenden Restauration und den Karlsbader Beschlüssen geriet dieses in die neue Zeit transformierte ältere deutsche Freiheitsdenken mit seinen durch den Reform- und Fortschrittsgeist des späten 18. Jahrhunderts erfolgten Aufladungen aber offenbar in eine tödliche Krise. Beethoven ließ sich aus Enttäuschung über die polizeistaatliche Politik der Fürsten zu keiner Indienstnahme für die Nation mehr bewegen, Heine wandte sich spätestens in Göttingen einem demokratisch-humanistischen Denken zu und Caspar David Friedrich zog sich immer mehr in die selbstgewählte Isolation seiner mystischen Bilderwelt zurück. Er malte weiterhin in „christ-germanischen Allegorien“ (S. 172ff.), um gegen die politischen Verhältnisse seiner Zeit zu protestieren – leider verstand diese Bilder, so Hermand, wohl schon in den 1830er Jahren niemand mehr.

Eine noch stärkere Einbettung der Themen in den Forschungskontext hätte jedoch für dieses und manch anderes Phänomen eventuell Erklärungsansätze liefern können. Die in jüngster Zeit etwa von Wolfgang Burgdorf, Dieter Langewiesche oder Georg Schmidt intensivierten Forschungen zum Nations- und Staatsverständnis der Deutschen in Früher Neuzeit und beginnendem 19. Jahrhundert zeigen sehr präzise, dass patriotisches wie auch nationalistisches Denken nicht nur weit in die deutsche Geschichte zurückreichen und keineswegs spätneuzeitliche Phänomene sind, vielmehr erkennt man in diesen Forschungen auch immer deutlicher die wechselnden Bestandteile und Ausrichtungen deutscher Nationsvorstellungen. Beethoven, Heine, Friedrich, ja sogar reformorientierte Herrscher wie der 1815 zum Großherzog avancierte Carl August von Weimar blieben auch nach 1800 vom Kosmopolitismus, vom klassischen Humanismus und von Perfektibilitätsidealen beherrscht, die der im antinapoleonischen Kampf erprobten jüngeren Generation im Lichte ihrer Erfahrungen als naiv und unbrauchbar erscheinen musste. Auch in Detailfragen hätte mitunter ein dichterer Anschluss an aktuelle Forschungsstände den Analysen mehr Gewicht verleihen und beide Autoren auf sensible Punkte aufmerksam machen können. So muss man sich beispielsweise zur Erläuterung der Geschichte der Stadt Gotha und des Landes Sachsen-Gotha(-Altenburg) nicht mehr nur auf die Arbeiten August Becks beziehen (79ff.), und dass die Gründungslegende der Fruchtbringenden Gesellschaft von der Forschung mittlerweile stark in Zweifel gezogen wird, hätte die Selbststilisierungsbemühungen der aufgeklärten Fürsten des 18. Jahrhunderts in einen interessanten Kontext gesetzt (S. 36). Bei den Themen Fürstenbund sowie Hof- und Adelskultur verhält es sich ähnlich. Überhaupt scheint bei Niedermeier die Beantwortung mancher nur scheinbaren Detailfrage über dem Bemühen offen zu bleiben, möglichst alle geistesgeschichtlichen Strömungen aufzuzeigen und in ein widerspruchsfreies System zu integrieren. Warum setzten beispielsweise nur die mindermächtigeren Fürsten auf das Germanenprogramm? Und was versprachen sich die Landadligen von den Germanen in ihren Gärten? Letztlich sind überdies Zweifel angebracht, ob sich die Bemühungen um aussagestarke und anschlussfähige Kunstprogramme wirklich in einen Gesamtrahmen synthetisieren lassen. Dass in den Gärten nicht selten der über die Freimaurerei transportierte Osiriskult neben Bibelbezügen, Pietismus, Hermann-Glaube und Weimar-Verehrung steht, scheint jedenfalls eher auf ein willkürliches und eklektisches Aufgreifen von Strömungen zu deuten, das zwar der Stilisierung manches Landadligen als Kulturerhalter und Mäzen dienen, keineswegs jedoch ein geschlossenes Kultursystem abbilden konnte. Der kursächsische Landadelige Moritz von Brühl hatte wahrscheinlich nie die Absicht, als neuer Arminius zu erscheinen, obwohl er in seinem Seifersdorfer Park neben Empfindsamkeitsmonumenten, Goethe-Denkmälern und Borkenhäuschen auch ein Hermann-Mahnmal errichten ließ (S. 93-95).

Jost Hermand argumentiert sehr stark aus einem amerikanischen Blickwinkel heraus und nicht selten offenbar auch für ein amerikanisches Publikum, das auch gegenwärtig immer noch gewohnt ist, nationale Bekenntnisse, wenn sie aus der deutschen Geschichte stammen, als präfaschistisch anzusehen. Da Hermand gegen solche, zumeist von außerwissenschaftlichen Motiven gesteuerten Befindlichkeiten anschreibt, gerät er in die Gefahr, in den antinapoleonischen ‚Befreiungskriegen’ die vermeintlich saubere, nur patriotische, von Fortschrittsgeist erfüllte Strömung, die er ‚germanische Revolution’ nennt, allzu stark von der romantischen, nationalistischen, tendenziell chauvinistischen Bewegung zu separieren. Ob dies so haltbar ist, werden weitere Forschungen zeigen. Dass Hermand und Niedermeier, obwohl sie die Epochenschwelle schon durch die Setzung des Untersuchungszeitraums überschreiten, dann doch wieder einen ‚guten’ von einem ‚schlechten’ Nationalismus trennen, ist Ausdruck dieses Separationsbemühens (S. 4ff.). Caspar David Friedrich jedenfalls hatte, wie neuere Untersuchungen zeigen, vermittelt etwa durch Gerhard von Kügelgen durchaus intensive Kontakte zum Kreis der Dresdner Romantiker (vgl. S. 184).

Alle Texte leiden etwas darunter, dass sie vor der Drucklegung offenbar nur sehr oberflächlich redigiert worden sind und damit die flüssige Lesbarkeit bisweilen doch stark behindert wird. Der Band besticht insgesamt durch seinen Innovationsgehalt, durch unorthodoxe Herangehens- und neue Sichtweisen und stellt sicherlich einen der wichtigsten neueren Beiträge zur Erforschung von Kultur und Politik um 1800 dar.

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